William Faulkner: Die Freistatt (Roman) |
Kritik: William Faulker erzählt die Geschichte über Impotenz, Voyeurismus, Vergewaltigung, Schlägereien und Morde, Lynchjustiz und irrtümliche Todesurteile aus wechselnden Blickwinkeln, deutet vieles zunächst nur an und sorgt dafür, dass der Sinn einer Szene sich häufig erst im Nachhinein erschließt, wenn er das Geschehen aus einer anderen Perspektive beleuchtet. ![]() |
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William Faulkner: |
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Inhalt: Als ein Mann unter Mordverdacht festgenommen wird, setzt der Anwalt sich für ihn, seine Lebensgefährtin und deren Säugling ein, weil er überzeugt ist, dass der inhaftierte Schwarzbrenner zwar Gesetze übertritt, aber kein Mörder ist. Doch er kann nicht verhindern, dass der Angeklagte aufgrund einer Falschaussage zum Tod verurteilt und vom Mob gelyncht wird. Gebrochen kehrt der Jurist zu dem trostlosen Leben an der Seite seiner Frau zurück. ![]() |
Originalausgabe: |
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William Faulkner: Die Freistatt |
Inhaltsangabe:
Horace Benbow, ein dreiundvierzigjähriger Rechtsanwalt in Kinston, verlässt nach zehn Jahren Ehe seine Frau Belle und deren aus erster Ehe stammende Tochter Klein-Belle. Er macht sich auf den Weg nach Jefferson. Ein Lastwagenfahrer nimmt ihn ein Stück mit; den Rest geht er zu Fuß. Als er an einer Quelle Wasser trinkt, taucht plötzlich ein Mann mit einer Pistole auf, hält ihn stundenlang schweigend fest und führt ihn dann zu einem vor dem Bürgerkrieg gebauten, inzwischen verfallenen Pflanzerhaus, dem "Alten Franzosenhaus", in dem eine Schwarzbrennerei versteckt ist. Dort kocht die übellaunige Ruby Lamar, die ihren Säugling in einer Kiste liegen hat, für ihren Lebenspartner Lee Goodwin, dessen Kumpanen Popeye, Van und Tommy sowie einen blinden und tauben Greis. Horace muss wohl oder übel bei den Schnapsbrennern übernachten. Am nächsten Tag trifft er bei seiner sieben Jahre jüngeren Schwester Narcissa ein, die mit ihrem zehnjährigen Sohn und Miss Jenny, der neunzigjährigen Großtante ihres verstorbenen Ehemanns, vier Meilen außerhalb von Jefferson lebt. Narcissa überlässt ihrem Bruder die Schlüssel des seit zehn Jahren unbewohnten Hauses in der Stadt, in dem sie beide geboren wurden. Horace reißt die Bretter ab, mit denen er selbst die Fenster vernagelt hatte, schrubbt die Böden, kauft Bettzeug und Konserven und zieht ein. Weil Narcissa um ihren Ruf fürchtet, missbilligt sie nicht nur Horaces Trennung von Belle, sondern ebenso seinen Entschluss, statt bei ihr im Elternhaus zu wohnen. "Nachdem er [Lee Goodwin] sich ergeben hatte, wurde alles durchsucht, bis sie die Destillieranlage fanden. Sie wussten, was er machte, aber sie warteten, bis er reif war. Dann schlugen sie zu, alle. Die guten Kunden, die bei ihm Whisky gekauft und alles weggesoffen hatten, was er gratis gab, und die vielleicht sogar versucht hatten, hinter seinem Rücken bei seiner Frau ins Bett zu kommen. Du solltest sie mal hören, unten in der Stadt. Heute morgen hat der Baptistenpfaffe über ihn gepredigt. Nicht nur als Mörder, sondern auch als Inbegriff der Unzucht; als einen Vergifter der freien demokratisch-protestantischen Atmosphäre im Yoknapatawpha County. Ich hatte den Eindruck, dass er darauf hinauswollte, man solle die beiden [Lee Goodwin und Ruby Lamar] als abschreckendes Beispiel für das Kind auf einem Scheiterhaufen verbrennen; das Kind wäre dann aufzuziehen und mit der englischen Sprache vertraut zu machen, und zwar zu dem einzigen Zweck, ihm die Erkenntnis beizubringen, dass es in Sünde gezeugt sei von zwei Menschen, die den Feuertod dafür erlitten, dass sie es zeugten." (Seite 109f)
Lee kennt zwar den Mörder, aber er weigert sich, etwas von Popeyes Anwesenheit zur Tatzeit im "Alten Franzosenhaus" zu verraten, weil er befürchtet, Popeye würde ihn in diesem Fall von dem Hotel gegenüber dem Gefängnis durchs Fenster erschießen. Vergeblich redet Horace auf Lee ein: Der fühlt sich unschuldig und glaubt zuversichtlich, dass man ihm nichts anhaben kann. Als er die Hand auf sie legte, begann sie zu wimmern. "Nein, nicht", flüsterte sie, "er [der Arzt] hat gesagt, ich kann jetzt noch nicht, er hat ..." Er riss die Decken zurück und warf sie beiseite. Sie lag ganz reglos, die Handflächen erhoben, und ihr Fleisch unter der Hülle ihrer Lenden wich weiter zurück, schneller, in wilder Auflösung, wie ein geängstigter Mensch in einer Menge. Als seine Hand wieder auf sie zukam, dachte sie, er wolle sie schlagen. Sie starrte ihm ins Gesicht, und da sah sie, wie es zu zucken begann und sich zu verzerren, wie das eines Kindes, das kurz davor steht, in Tränen auszubrechen, und hörte, wie ihm ein wimmernder Laut entkam. Er griff nach ihrem Nachthemd. Sie packte seine Handgelenke und fing an, sich von einer Seite auf die andere zu werfen, und öffnete den Mund, um zu schreien. Seine Hand legte sich hastig auf ihren Mund, und sie packte sie am Gelenk, während ihr Speichel zwischen seine Finger drang, und ihr Körper schlug hin und her und wand sich wild von einem Schenkel auf den anderen, und sie sah ihn neben dem Bett kauern, das kinnlose Gesicht qualvoll verzerrt, die bläulichen Lippen vorgestülpt, als bliese er auf eine heiße Suppe, und einen hohen, wiehernden Laut ausstoßen, wie ein Pferd. (Seite 137f) Einige Male bringt Popeye einen Mann namens Red mit und bleibt mit ihm zusammen eine Stunde bei Temple im Zimmer. Das Hausmädchen Minnie berichtet Reba, was es gesehen hat: "Jawohl, Minnie hat mir erzählt, wie das lief oben: die beiden [Red und Temple] waren amgange zusammen, und Popeye hing dabei mit überm Bett, am Fußende, und war ganz komisch am Wiehern dabei, irgendwie so. Und nicht mal den Hut hat er abgenommen dabei." (Seite 223) Einige Zeit später erschießt Popeye Red aus Eifersucht. Beim Leichenschmaus kommt es zu einer Schlägerei.
Das Orchester war verstummt, und die Musiker kletterten mit ihren Instrumenen auf die Stühle. Die Blumenspenden flogen, der Sarg neigte sich. "Festhalten", schrie ein Stimme. Sie sprangen vor, doch der Sarg krachte schwer auf den Boden und ging auf. Der Leichnam rutschte langsam und gemächlich heraus und kam mit dem Gesicht mitten in einem Kranz zur Ruhe.
Der Mordprozess gegen Lee Goodwin findet vor dem Kreisgericht von Yoknapatawpha County statt. Temple Drake wird in den Zeugenstand gerufen. Sie berichtet, wie sie sich in der Kornkammer versteckt hatte. "Etwa vor diesem Mann?", fragt Staatsanwalt Eustace Graham und deutet auf den Angeklagten. Temple bejaht die Frage und sagt aus, Lee Goodwin habe Tommy erschossen. Die Geschworenen fällen ihren Schuldspruch, und der Richter verurteilt Lee zum Tod. Während er in diesem Sommer auf der Heimreise war, verhaftete man ihn wegen Mordes an einem Mann in einer Stadt und zu einer Stunde, wo er in einer anderen Stadt einen anderen Mann getötet hatte [...] (Seite 264f) Nachdem Popeye zum Tod verurteilt wurde, will ihn ein Anwalt aus Memphis vor der Vollstreckung bewahren, aber Popeye lehnt jede Hilfe ab.
"Mir fehlt nichts", sagte Popeye. "Ich hab Sie nicht holen lassen. Halten Sie Ihre Nase da raus." |
Kommentar:
"Die Freistatt " ("Sanctuary") sei ein "Gangsterroman mit schmutzigen, manchmal feigen, ohnmächtigen Gangstern" meint André Malraux in seinem Vorwort zu dem Buch. Tatsächlich hat William Faulkner in den anarchischen Roman eine Menge hineingepackt: Impotenz, Voyeurismus, Vergewaltigung, Schlägereien und Morde, Lynchjustiz, irrtümliche Todesurteile. Kein Wunder, dass die Veröffentlichung 1931 für einen Skandal sorgte. Die Aufregung führte aber auch dazu, dass "Die Freistatt" William Faulkners erster kommerzieller Verkaufserfolg wurde. Der Roman "Die Freistatt" wurde 1933 verfilmt. "The Story of Temple Drake" - Regie: Stephen Roberts - Drehbuch: Oliver H. P. Garrett - Kamera: Karl Struss - Darsteller: Miriam Hopkins (Temple Drake), Jack La Rue (Trigger), William Gargan (Stephen Benbow), William Collier jr. (Toddy Gowan), Irving Pichel (Lee Goodwin), Guy Standing (Richter Drake), Elizabeth Patterson (Tante Jennie), Florence Eldridge (Ruby Lemar), James Eagles (Tommy), Harlan Knight (Pap), James Mason (Van), Jobyna Howland (Miss Reba) u. a.
Mit dem 1951 veröffentlichten und 1955 uraufgeführten szenischen Roman "Requiem for a Nun" ("Requiem für eine Nonne") knüpfte William Faulker an "Die Freistatt" an:
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
William Faulkner (Kurzbiografie) |