Klaus Mann: Der Wendepunkt (Autobiografie) |
Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht |
Inhaltsangabe:
"Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut?", fragt Klaus Mann zu Beginn seiner Autobiografie "Der Wendepunkt". Von seinem Großvater Heinrich Mann (1840 – 1891), einem Senator der Hansestadt Lübeck? Der war zwar gestorben, bevor Klaus Mann geboren wurde, aber man wusste in der Familie selbstverständlich, dass er sich 1869 mit der elf Jahre jüngeren Julia da Silva-Bruhns ("Dodo", 1851 – 1923) vermählt hatte, der Tochter eines deutschstämmigen Farmers und einer Brasilianerin! Das war für einen Patrizier aus Bremen recht ungewöhnlich. Oder stammte die Unruhe, die Klaus Mann verspürte, von seiner schönen, lebensfrohen und musisch begabten Großmutter aus Übersee? Oder von Elisabeth (1838 – 1917), einer Schwester des Großvaters, die sich 1864 von Ernst Elfeld scheiden ließ, aber auch mit Gustav Haag, ihrem zweiten Ehemann, nicht auskam?
Aus diesem primären Konflikt entsprang ihnen ein zweiter, der Antagonismus zwischen "Bürger" und "Künstler": auf der einen Seite der Typ des gewöhnlichen und robusten Durchschnittsmenschen; auf der anderen der Entwurzelte, Gespaltene, von des Gedanken Blässe Angekränkelte – Hamlet, der Intellektuelle. Die Beziehung zwischen den beiden ist problematisch, doppeldeutig, geladen mit ambivalentem Gefühl. Eine recht eigentlich erotische Beziehung, wenn man Eros, im Sinne des Sokrates, als den Dämon der unstillbaren Sehnsucht, des dialektischen Spieles versteht.
Carla Mann vergiftete sich am 30. Juli 1910 im Alter von achtundzwanzig Jahren. Sie nahm Gift im Hause ihrer Mutter, die auf dem Korridor zuhören musste, wie ihr Kind in der verriegelten Stube röchelte und verschied. (Seite 14) Thomas Mann begegnete 1904 Katharina ("Katia") Pringsheim (1883 – 1980), der acht Jahre jüngeren Tochter einer der angesehensten und kultiviertesten Familien in München. Ihr Vater war der Mathematikprofessor Alfred Pringsheim (1850 – 1941); bei ihrer Mutter, der früheren Berliner Schauspielerin Hedwig Pringsheim (1855 – 1942), handelte es sich um die Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831 – 1919). Die Pringsheims waren unter den Ersten, die sich in München ein Telefon und elektrisches Licht zulegten. Ihr Haus wurde bald zu einem Zentrum der intellektuellen und mondänen Welt. (Seite 17)
Die Mathematikstudentin Katia Pringsheim zögerte zunächst, auf das Werben des Schriftstellers einzugehen, der sich mit seinem Roman "Buddenbrooks" bereits einen Namen gemacht hatte, aber am 11. Februar 1905 gab sie ihm das Jawort. Thomas und Katia Mann bekamen sechs Kinder: Erika (1905 – 1969), Klaus (1906 – 1949), Golo (1909 – 1994), Monika (1910 – 1992), Elisabeth (1918 – 2002) und Michael (1919 – 1977). Sie waren charmante Leute, unsere Großeltern, solange man ihre Kostbarkeiten in Ruhe ließ und sich überhaupt hübsch artig bei ihnen aufführte. Offi war anmutig und majestätisch, Ofey steckte voll bizarrer Einfälle und kleiner Späße, von denen viele "nichts für Kinder" waren. (Seite 49) Die Eltern trugen die Kosenamen "Zauberer" und "Mielein".
Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muss man sich still verhalten, weil der Vater arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: Es war die Stunde der Siesta. (Seite 31f) Das unzertrennliche Geschwisterpaar Erika und Klaus Mann besuchte von 1912 bis 1914 eine renommierte Privatschule in München. Weil die Familie während des Ersten Weltkriegs sparen musste, wechselten die beiden dann doch noch zu einer gewöhnlichen Volksschule. Sie [Erika] etablierte sich schnell als eine Art von Anführerin und Häuptling unter den Mädchen, während meine Position in der Bubenklasse irgendwie unsicher blieb. Erstens konnte ich, im Gegensatz zu Erika, den Münchener Dialekt nicht sprechen [...] Meine Klassengenossen hielten mich deshalb für einen "Saupreußen", was fast ebenso schlimm war wie ein feindlicher Ausländer. Außerdem nahmen sie mir meine künstlerische Aufmachung und meine Abneigung gegen Raufereien übel. (Seite 67) Not brauchten die Manns allerdings keine zu leiden. Sie führten nach wie vor einen großbürgerlichen Haushalt mit mehreren Dienstboten. Wenn ich versuche, die Atmosphäre von 1914 wiedereinzufangen, so sehe ich flatternde Fahnen, graue Helme mit possierlichen Blumensträußchen geschmückt, strickende Frauen, grelle Plakate und wieder Fahnen – ein Meer, ein Katarakt in Schwarz-Weiß-Rot. Die Luft ist erfüllt von der allgemeinen Prahlerei und den lärmenden Refrains der vaterländischen Lieder [...] Jeden zweiten Tag wird ein neuer Sieg gefreiert. Das garstige kleine Belgien ist im Handumdrehen erledigt. Von der Ostfront kommen gleichfalls erhebende Bulletins. Frankreich, natürlich, ist im Zusammenbrechen. Der Endsieg scheint gesichert: Die Burschen werden Weihnachten zu Hause feiern können. (Seite 65) Kurz vor seinem zwölften Geburtstag erlebte Klaus Mann die Novemberrevolution. Erstaunliches geschah. Unser Kaiser [Wilhelm II.] floh in Nacht und Nebel über die Grenze nach Holland. Auch der große Ludendorff und andere Helden machten sich aus dem Staube. Es war alles sehr überraschend und nicht ganz leicht zu verstehen. Deutschland war geschlagen und doch auch wieder nicht. Unser Professor sagte, es läge nur am "Dolchstoß", für den die Juden und die Spartakisten verantwortlich seien. Die waren unserem Kaiser in den Rücken gefallen, gerade als alles zum besten stand und wir den Endsieg gleichsam schon in der Tasche hatten. (Seite 84f) Nach der Ermordung des bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 herrschten in München chaotische Zustände. In meiner Erinnerung wird diese kurzlebige "Räterepublik" zur wüsten Farce. Ein grelles, klirrendes Tohuwabohu von schreienden Plakaten, Steinwürfen, Menschenansammlungen, improvisierten Rednertribünen, roten Fahnen und offenen Lastwagen voll verwegener Gestalten mit roten Armbinden. Die ganze Sache hatte einen Beigeschmack von wilder "Gaudi" [...], etwas Unernstes, Karnevalistisches. Freilich ging es bei diesem exzessiven Fasching nicht ganz ohne Terror ab; alle respektablen Bürger gerieten in einen Zustand von hysterischer Panik. Man erzählte sich Schauriges über geplünderte Banken, vergewaltigte Frauen und misshandelte Kinder. (Seite 86) In diesen wirren Zeiten stellte sich heraus, dass es sich bei Josepha ("Affa"), die als "Perle" im Dienst der Familie Mann stand, um eine Kleptomanin handelte, die über Jahre hinweg alles Mögliche gestohlen hatte. Vor Gericht inszenierte sich die Beschuldigte allerdings in "einer knapp anliegenden Bluse aus grünem Atlas, unter dessen straffer Glätte ihr bedeutender Busen sich besonders schön profilierte" (Seite 95) und wehrte sich mit einer "volkstümlichen Schlagfertigkeit" so geschickt, dass sie freigesprochen wurde. Mit rührender Eloquenz beschrieb sie, wie man versucht hatte, sie des Rotweins zu berauben. "Nur drei kleine Flascherln – das einzige Andenken, wo ich hab' von meinem Stiefbruder, dem seligen Fregattenkapitän, und da kommen diese Preußen daher, diese Ausbeuter, diese Großkopfeten, und wollen mir die drei Flascherln auch noch nehmen, wo's doch den ganzen Keller voll haben von Schampus und Schnaps und was s' alles saufen ..." (Seite 95) Zu den engsten Freunden von Erika und Klaus Mann zählten Richard ("Ricki") Hallgarten (1905 – 1932), der Sohn des Juristen und Germanisten Robert Hallgarten (1870–1924) und der Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten (1881–1969), sowie Lotte und Marguerite ("Gretel") Walter (1903 – 1970; 1906 – 1939), die Töchter des Generalmusikdirektors Bruno Walter (1876 – 1962). Musik war etwas Schönes und Erhebendes, besonders wenn Bruno Walter am Dirigentenpult stand; Theater war noch besser. Am weitaus besten war die Oper – beglückende Vereinigung von Drama und Symphonie, der vollkommene Kunstgenuss. (Seite 119) Gemeinsam gründeten die Freunde 1919 einen Theaterbund, der innerhalb von drei Jahren acht Stücke im privaten Rahmen aufführte. Aber nicht alle ihre Tätigkeiten waren so kultiviert; häufig spornte sie der Reiz des Verbotenen zu Schandtaten an. Erika rief beispielsweise Frau Sanitätsrat Meyer an, gab sich als Stubenmädchen von Frau Doktor Ruderer aus und lud das Ehepaar Meyer in deren Namen zum Abendessen ein. Erika verstand sich auf das Nachahmen aller möglichen Stimmen. Sie war wie einer jener Kobolde, die sich nach Belieben verwandeln und mit fremden Zungen reden können. (Seite 127)
Als der Theaterschauspieler Albert Fischel, mit dem sich Erika und Klaus Mann befreundeten, einmal über Diebstähle in seiner Kindheit flunkerte, luden ihn die Geschwister während der Abwesenheit ihrer Eltern zu einem Gastmahl ein, dessen Zutaten sie samt und sonders gestohlen hatten. Um die beiden zu disziplinieren, schickten die Eltern sie daraufhin im März 1922 in die reformpädagogische "Bergschule Hochwaldhausen" bei Fulda. Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult [...] Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Glanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar, wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. (Seite 164f)
Klaus Mann brach den Privatunterricht ab, den er inzwischen im Elternhaus bekam, denn er wollte ein weltberühmter Tänzer werden, und was sollte er da mit dem Abitur?! Kurz darauf beschloss er, sich als Schriftsteller zu versuchen. Mit achtzehn begann er, Theaterkritiken für das "Zwölf-Uhr-Mittagsblatt" in Berlin zu schreiben, und 1925 erschien sein erstes Buch, ein Band mit Erzählungen unter dem Titel "Vor dem Leben".
Er verbrachte seine Tage mit Amerikanern, Deutschen, Russen und Chinesen, weil seine Mutter alle Ausländer für kriminelle oder pathologische Subjekte hielt. Er trank Whisky und Gin, da der Geruch davon ihr Übelkeit erregte. Er hasste das Christentum, weil sie zur Kirche ging. Sie war nationalistisch; er machte respektlose Witze über la douce France und ihre heiligsten Güter. Madame war Puritanerin; er schockierte sie mit Obszönitäten. Es machte ihm Vergnügen, in großer Gesellschaft über den Selbstmord seines Vaters zu scherzen, denn er wusste, dass die Witwe diese Familienschande zu cachieren suchte. Nicht genug damit, dass Monsieur Crevel senior sich umgebracht hatte (Madame fand ihn eines Abends erhängt in ihrem Salon, wo sie gerade einige besonders distinguierte Gäste empfangen wollte) – er war auch verrückt gewesen, ein Syphilitiker im letzten Stadium, wenn man dem schaurig aufgekratzten Bericht des Sohnes Glauben schenken durfte. Eine charmante Idee, nicht wahr, unter solchen Umständen ein Kind in die Welt zu setzen!
Weil Pamela Wedekind inzwischen beabsichtigte, den achtundzwanzig Jahre älteren Dramatiker Carl Sternheim (1878 – 1942) zu heiraten, scheiterte ihre Beziehung mit Klaus Mann.
Hollywood [...] wirkte auf uns wie eine Provinzstadt, die verzweifelte Anstrengungen macht, Hollywood zu imitieren [...] Während eines Besuchs bei dem deutschen Schauspieler Emil Jannings (1884 – 1950) in Hollywood fiel ihnen eine Schwedin auf, die wie Erika Mann zweiundzwanzig Jahre alt war.
Man saß beim Whisky auf der Terrasse nach dem Abendessen. Plötzlich war sie da – eine atemberaubende Erscheinung [...] "Ich bin ja so furchtbar müüüde!", rief sie uns, statt eines Grußes, mit tiefem Klageton zu [...], wobei sie sich auch schon in einen Sessel warf. Abgewendeten Hauptes, die Mundwinkel tragisch gesenkt, verlangte sie einen Schnaps: "Aber einen großen, Emil! Einen doppelten!"
Von Amerika brachen Klaus und Erika Mann zu einer Weltreise auf (Japan, Korea, UdSSR). Erst nach insgesamt acht Monaten kehrten sie in die Heimat zurück.
Als das längst vorausgesagte Ereignis dann endlich eintraf, hob der Vater nur die Augenbrauen: "Ist es diesmal ernst?" (Seite 281) Mit dem Nationalismus, der nach dem Ersten Weltkrieg immer stärker aufkam, konnte Klaus Mann nichts anfangen. Ich fühlte mich der Nation nicht zugehörig. Schon deshalb nicht, weil ich den Begriff des Nationalstaates überhaupt als überholt empfand und an die Notwendigkeit übernationalen Zusammenschlusses glaubte. Kein anderer Nationalismus aber erschien mir so unselig und dabei so lächerlich wie eben der deutsche, mit seiner "Meistersinger"-Biederkeit und seiner "Tristan"-Schwüle, seinem säbelrasselnden Draufgängertum und seiner schluchzenden Sentimentalität, seinem ewig-unbefriedigten Anspruch, seinem überkompensierten Inferioritätskomplex, seiner primitiven Tücke und gerissenen Naivität, seinem Dünkel, seinem Verfolgungswahn, seiner ganzen quälenden, sterilen Problematik. (Seite 338) Was die Nationalsozialisten dachten, konnte Klaus Mann erst recht nicht verstehen. Mir wollte es nicht in den Kopf, dass die Deutschen Hitler allen Ernstes für einen großen Mann, ja für den Messias halten könnten. Der und groß? Man brauchte ihn doch nur anzusehen! (Seite 333) Zufällig geriet er 1932 in der "Carlton"-Teestube in München an Hitlers Nachbartisch.
Da saß er, umgeben von ein paar bevorzugten Spießgesellen, und ließ sich sein Erdbeertörtchen schmecken [...] Er verschmauste noch ein Erdbeertörtchen mit Schlagrahm [...], dann ein drittes – wenn es nicht schon das vierte war. Ich esse selbst recht gerne süßes Zeug; aber der Anblick seiner halb infantilen, halb raubtierhaften Gefräßigkeit verschlug mir den Appetit [...]
Am 1. Januar 1933 eröffneten Erika und Klaus Mann, Therese Giehse (1898 – 1975) und Magnus Henning (1904 – 1995) in der "Bonbonniere" am Platzl in München das Kabarett "Die Pfeffermühle". Dass Amerika den Krieg gewinnen wird, gilt allgemein als selbstverständlich; was aber die Probleme und Umstände betrifft, die zum Kriege geführt haben, so herrscht eine erstaunliche Ahnungslosigkeit [...] Skeptische Ignoranz ist nicht zu überzeugen, nicht zu beunruhigen, nicht zu erschüttern. Konzentrationslager? Gestapo-Terror? Überfälle auf schwache Nachbarn? Vertragsbruch? Massenmord? Welteroberungspläne? Der ignorante Skeptiker grinst und hebt die Schulter: "That's just propaganda ..." Der ignorante Skeptiker amüsiert sich über Hitler und Mussolini – zwei harmlose Clowns, die zum Vergnügen der G.I.s auf der Leinwand gestikulieren und schwadronieren. Der ignorante Skeptiker findet den Nürnberger Parteitag "a pretty good show", die Bücherverbrennungen "a lot of fun". Pfui-Rufe gab es nur für die Japaner, die man wirklich nicht besonders gerne hat: "Pearl Harbor" wird ihnen doch ein wenig nachgetragen, und übrigens sind sie "farbig", was als verächtlich gilt. (Seite 585f)
Entsetzt beobachtete Klaus Mann den Rassenhass in den USA und verglich ihn mit dem Antisemitismus in Europa. "Durfte ich etwa jagen gehen? Nein! Sogar das Reiten war mir zeitweise verboten ... " (Seite 650) Da musste Klaus Mann daran denken, dass die Nationalsozialisten die Tänzerin und Bildhauerin Oda Schottmüller (1905 – 1943), eine seiner Mitschülerinnen in der Odenwaldschule, am 5. August 1943 in Berlin-Plötzensee enthauptet hatten, weil sie zur "Rote Kapelle" gehört hatte. Nazis, so stellt sich jetzt heraus, hat es in Deutschland nie gegeben; selbst Hermann Göring war im Grunde keiner. Lauter "Innere Emigration"! Plötzlich entdecken alle ihre demokratische Vergangenheit und, wenn irgend möglich, ihre "nichtarische" Großmama. Jüdische Ahnen sind enorm gefragt. (Seite 658) Am 1. Juli 1945 berichtete er in einem Brief über einen Besuch bei Emil Jannings: Von Salzburg aus fuhr ich eines Tages zum Wolfgangsee, wo ich in seinem schönen, reichen Haus alles wie früher fand: Chow-Hund und Papagei, Frau Gussy, Fräulein Ruth und Emil selber, dick und jovial, ein Biedermann mit falschen, kleinen Augen und schweren, hängenden, dabei beweglichen und expressiven Zügen. – "Ich – ein Nazi?" Die Idee schien ihm belustigend, aber zugleich empörend. "Haha, mein Junge! Da kennst du aber deinen Emil nicht!" [...] Ein Verfolgter war er gewesen! Ein Märtyrer – Goebbels hatte ihn gehasst – vor allem wegen der schlechtrassigen Großmama, aber auch, weil unser Emil die demokratischen Ideale nicht verleugnen wollte. "Du weißt ja, wie ich bin!" Sein Gesicht, gar zu nah dem meinen, war von einer Redlichkeit, wie man sie höchstens bei sehr alten Hunden findet. "Ich kann den Mund nicht halten." Jetzt auch noch feuchte Augen! Offenbar, er hatte nichts verlernt, war schauspielerisch in großer Form geblieben. (Seite 658f) |
Buchbesprechung:
Unter dem Titel "The Turning Point. Thirty-Five Years in this Century" veröffentlichte Klaus Mann im Herbst 1942 in New York nach "Kind dieser Zeit" (Berlin 1932) seine zweite Autobiografie. Zehn Jahre später erschien im Verlag S. Fischer in Frankfurt am Main "Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht". Wie Klaus Mann im Nachwort betont, handelt es sich dabei nicht einfach um eine Übersetzung des Buches "The Turning Point", sondern um "ein neues deutsches Buch" mit Ergänzungen und Erweiterungen, so zum Beispiel zusätzlichen Zitaten aus Tagebüchern und Briefen. Während "The Turning Point" mit einer Tagebuch-Notiz vom Juni 1942 endet, beschließt Klaus Mann "Der Wendepunkt" mit einem Brief vom September 1945. "Der Wendepunkt" erzählt ein Leben, beschreibt ein Generationen-Schicksal, illustriert eine Epoche (und deren Umschwung) – bleibt also, ungeachtet seines Bekenntnis-Charakters, um verlässliche Zeugenaussage bemüht [...] (Walter Jens im Begleitheft zu der Ausgabe von "Der Wendepunkt", die in der von ihm und Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen "Bibliothek des 20. Jahrhunderts" erschien) Bei der Lektüre wird deutlich, dass es sich bei Klaus Mann um eine außergewöhnliche Persönlichkeit in einem Umfeld exzeptioneller Menschen handelte. Einige dieser faszinierenden Verwandten, Freunde und Bekannten werden von Klaus Mann beschrieben, wobei er stets das Wesentliche, Charakteristische erfasst und es in der Darstellung auf den Punkt bringt. "Der Wendepunkt" enthält eine ganze Reihe von brillanten Miniaturen. Überhaupt lassen Esprit und geschliffene Formulierungen den Text funkeln.
"Der Wendepunkt", im hohen poetischen Stil klassischer Bildungsromane beginnend, geprägt durch Meisterschaft im Nachzeichnen der Atmosphäre und der filigranartigen Personenbeschreibung, ist ein Bürger-Buch, das, den Vor-Schriften von Vater und Onkel verpflichtet, den Untergang der Bourgeoisie, ihr Ende in Laster und politischer Selbstaufgabe, beschreibt. (Walter Jens, a. a. O.)
Ab 1940 (Seite 524) zitiert Klaus Mann aus Tagebüchern und Briefen. Da gibt es zwar auch noch einige prägnante Porträts berühmter Zeitgenossen, aber die Gestaltungskraft, die sich in den ersten zehn Kapiteln zeigt, erreicht Klaus Mann auf den letzten 150 Seiten von "Der Wendepunkt" nicht mehr. Vielleicht hätte er die deutschsprachige Autobiografie ebenso wie "The Turning Point" im Jahr 1942 enden lassen sollen. Allerdings würden dann die maliziösen Schilderungen der Besuche bei Richard Strauss in Garmisch und bei Emil Jannings am Wolfgangsee fehlen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Klaus Mann (Kurzbiografie) |