Miriam Meckel: Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout |
Miriam Meckel: Brief an mein Leben.
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Inhaltsangabe:
Nachdem die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel wieder einmal sechs Wochen lang fast ununterbrochen unterwegs war, brach sie in Berlin mit heftigen Bauchschmerzen zusammen. Der Arzt diagnostizierte einen schweren Erschöpfungszustand in Verbindung mit einer Infektion der Stoffwechselorgane. Viele würden sagen: Burn-out-Syndrom. Warnsignale wie eine seit Monaten anhaltende Konzentrationsschwäche und einen Hörsturz hatte Miriam Meckel missachtet. Inzwischen ist sie für vier Wochen in einer Klinik in der Nähe des Widdersteins, des höchsten Berges im Kleinwalsertal. Er [der Zustand der Langeweile] kann gar nicht erst entstehen, weil ich immer im Spannungsfeld eines Überangebots von möglichen Aktivitäten, von Dingen, die mich interessieren und neugierig machen, und einem Unterangebot von zur Verfügung stehender Zeit lebe. Es ist immer zu wenig Zeit für die vielen Dinge, die ich tun und erkunden möchte. Vor dem Klinikaufenthalt definierte sie sich selbst "als globale Neonomadin" und begriff ihr Leben "als zu lösende logistische Herausforderung". Ich war fünfzehn Jahre um die Welt gereist, hatte gearbeitet, geredet, geschrieben, akquiriert, repräsentiert, bis der Arzt kam. Im Wortsinne. Ich habe keine Grenzen gesetzt, mir selbst nicht und auch nicht meiner Umwelt, die zuweilen viel verlangt, mich ausgesaugt hat wie ein Blutegel seinen Wirt. Und das meiste von dem, was ich gemacht habe, hat mir tatsächlich Freude gemacht [...] Aber ich habe in alldem nicht "die aristotelische Mitte finden können zwischen dem 'Zuviel' und dem 'Zuwenig'". (Binnenzitat aus Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M 2008)
Inzwischen weiß sie, dass sie sich ein Übermaß an Mobilität und Information zumutete. Der Blick auf das große Ganze spielt in unserer Alltagswelt selten eine Rolle. Wir funktionieren. Wir bewältigen Herausforderungen und lösen Probleme, die nicht mehr Probleme heißen dürfen, sondern auch Herausforderungen heißen.
Als ob wir uns nach hundert Jahren auf die von Frederick W. Taylor entwickelten Prinzipien des Scientific Management besännen, gehen in unserer Höher-Schneller-Gesellschaft Individuen in der Struktur bzw. Organisation auf, werden die Person und ihre Leistungen entkoppelt. Wenn mein Therapieplan mich aber Tag für Tag von Termin zu Termin schickt, verfalle ich sehr schnell in diesen fremdgesteuerten Mitmachmodus, den ich auch aus meiner Zeit in der Politik und anderen Phasen meines Berufslebens kenne. Ich durchlaufe Termine. ich hake ab, ohne mich intensiver oder nachhaltig mit einem Thema oder einer Aufgabe zu beschäftigen. Ich funktioniere. Auch unter den neuen Regeln dieses Kliniklebens. Wenn sie sich außerhalb ihres Zimmers befindet, hält sie ihren Blick gesenkt, nicht aus Arroganz oder Schüchternheit, sondern um Außenreize auszublenden.
Ich begrenze meinen Blick und meinen Wahrnehmungshorizont auf einen kleinen Kegel, den ich vor mir herschiebe, um durch die Welt zu kommen, als liefe ich mit einer Taschenlampe durch die Nacht.
Nach vierzig Stunden ohne Schlaf – auch das ein Bestandteil der Therapie – aß Miriam Meckel zu ihrer eigenen Verwunderung Leberkäse. Das tat sie sonst nie, denn sie glaubte, er würde ihr nicht bekommen. Der Arzt wies sie später darauf hin, dass durch den Schlafmangel die "innere Stimme" ausgeschaltet wurde, die uns davon abhält, das zu tun, worauf wir Lust haben. Während ich esse, finde ich mich ganz schön laut vor dieser Stille da draußen. Es knirscht, kracht und schäumt in meinem Mund, und ich bin mir selbst eine Lärmbelästigung. Sonst höre ich das nie, weil bei mir immer Musik läuft. Wenn genug Außengeräusche da sind, werden die Geräusche in meinem Inneren überlagert. Jetzt höre ich sie gnadenlos. Schön klingt das nicht. Ein Prozess des Sich-neu-Denkens hat begonnen. Ich finde mich nicht mehr in dem Menschen, der immer die Erwartungen erfüllt, die in ihn gesetzt werden. |
Buchbesprechung:
Miriam Meckel wurde am 18. Juli 1967 in Hilden geboren. Sie studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft, Jura und Sinologie. Als Redakteurin und Moderatorin begann sie 1990 eine Karriere beim Fernsehen, mit dem sie sich
Ich denke einfach alles weg, was mich berührt oder innerlich aus dem Gleichgewicht bringen könnte.
"Brief an mein Leben" ist ein sehr persönliches Buch, obwohl Miriam Meckel kaum etwas aus ihrem Leben preisgibt. Sie vermeidet es auch, eine Art Bekehrungsgeschichte zu schreiben und verzichtet auf jede Effekthascherei. Zwar zitiert sie Sigmund Freud, Max Scheler, Niklas Luhmann und Peter Sloterdijk, Thomas Mann, Wilhelm Genazino und Herta Müller, aber am eindrucksvollsten sind doch ihre eigenen Beobachtungen, etwa wenn sie in der ungewohnten Stille ihre Kaugeräusche wahrnimmt. Auf die gesellschaftskritischen Passagen hätte sie wohl besser verzichtet, denn sie bleiben oberflächlich. Der Burnout gehört zum erfolgreichen Berufsleben wie das Eigenheim zur Vorbildfamilie. Miriam Meckel zitiert unter anderem aus dem Roman "Buddenbrooks" von Thomas Mann, der den Begriff "Burn-out" noch nicht kennen konnte, das Syndrom jedoch zutreffend beschrieb: Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Inneren – eine Verödung so stark, dass sie sich fast unablässig als ein unbestimmt lastender Gram fühlbar machte – verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen Entschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die 'Dehors' zu wahren, hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewusst, gezwungen gemacht und bewirkt, dass jedes Wort, jede Bewegung, jede geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden Schauspielerei geworden war. "Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout" von Miriam Meckel gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Miriam Meckel (gekürzte Lesefassung: Katrin Fahnenbruck, Regie: Leonie von Kleist, Köln 2010, 4 CDs, ISBN 978-3-8371-0473-8). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 |