Anton Tschechow: Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld |
Kritik: Die Geschichten sind teilweise sehr kurz, vermitteln aber dennoch einen stimmungsvollen Eindruck der Situation. Man kann sich die Protagonisten trotz der knappen Beschreibung gut vorstellen, und die Szenarien sind gut beobachtet. ![]() |
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Anton Tschechow: |
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Inhalt: Agafja – Der Glückspilz – Zum Zeitvertreib. Ein Datscha-Roman – Die Apothekerin – Eine Bagatelle – Der Rächer – Teure Stunden – Erzählung der Frau N. N. – Die Wette – Wolodja der Große und Wolodja der Kleine – Von der Liebe Die meisten der elf Erzählungen Tschechows handeln von unglücklichen Liebesbeziehungen. ![]() |
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Anton Tschechow: Eine Bagatelle.
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Teure Stunden
Der sechsundzwanzigjährige Worotow hat zwar einen Universitätsabschluss, versteht aber keine fremden Sprachen. Deshalb engagiert er eine Privatlehrerin, die ihm Französisch beibringen soll. Alice Ossipowna Enquête, eine junge und elegant gekleidete Französin, fängt mit ihrem Unterricht ganz von vorne an: "Die französische Grammatik hat sechsundzwanzig Buchstaben. Der erste Buchstabe heißt A, der zweite B ..." Diese elementaren Kenntnisse hat Wolotow allerdings schon und er schlägt deshalb vor, dass man sich ein Buch, zum Beispiel "Memoires de" vornehmen und es Wort für Wort übersetzen könnte. Ein Bekannter von ihm sei mit dieser Methode sehr erfolgreich gewesen. Alice kommt diese Arbeitsweise etwas naiv vor, hat aber nichts dagegen. Diese Art des Unterrichts ermüdet die Lehrerin in gleicher Weise wie ihren Schüler. Außerdem macht Wolotow keinerlei Fortschritte. Er unterstellt Alice Ossipowna mangelnde Fähigkeiten und möchte nach sechs Stunden nicht mehr unterrichtet werden. Ungeschickt hält er ihr ein Kuvert mit Geld hin, aber als er merkt wie sie erschrickt, interpretiert er das als Angst vor dem Verlust ihrer Verdienstmöglichkeit. Er versucht, die peinliche Situation zu überspielen, und sie setzen die Stunde fort. Er ist nach wie vor überzeugt, dass sie ihn schlecht unterrichtet, und will ihr das bei Gelegenheit auch sagen. Er glaubte zu verstehen, weshalb die Französinnen für leichtsinnige und leicht zu verführende Geschöpfe gehalten wurden. (Seite 69) Einmal kommt sie eine Stunde zu früh, weil sie ins Theater gehen will. Er wird ebenfalls ins Theater gehen, um sich zu zerstreuen, wie er sich vorsagt. Insgeheim hofft er, dort das "gar nicht gebildete, wenig intelligente junge Mädchen, das er obendrein wenig kannte" zu treffen. In der Pause sieht er Alice in Begleitung dreier Herren, mit denen sie kokettiert. So glücklich und zufrieden sah er sie zuvor noch nie. Seine Verbeugung erwidert sie lediglich mit einem kurzen Nicken. Nach dieser Begegnung begreift er, dass er sich in sie verliebt hat, und während der folgenden Unterrichtsstunden "lässt er seiner Fantasie die Zügel schießen", auch wenn sie sich ihm gegenüber weiterhin gleichgültig verhält. Eines Tages macht er ihr eine Liebeserklärung, auf die sie erschrocken reagiert. Wolotow ist das nun peinlich, vor allem deshalb, weil er glaubt, dass sie sich nach seinem Geständnis nicht mehr trauen würde, ihm weiterhin Stunden zu geben und sie dann kein Geld mehr bekäme. Aber Alice kommt auch künftig zu ihm. Vier Bücher haben sie mittlerweile miteinander übersetzt, aber außer dem Wort "memoires" hat er sich nichts gemerkt. Erzählung der Frau N. N.
Natalia Wladimirowna reitet zusammen mit dem Hilfsuntersuchungsrichter Pjotr Sergejewitsch zur Bahnstation, um Post abzuholen. Plötzlich zieht ein Gewitter auf, und sie müssen sich in einem Schuppen unterstellen. Während sich Natalia vor den Blitzen fürchtet, scheint sich Pjotr über das Unwetter zu freuen. Sie sei heute besonders schön, umschmeichelt er sie, und er sei so glücklich, sie zu sehen, er liebe sie, obwohl er wisse, dass sie nie die Seinige werden könne. Natalia ist bezaubert von seinen glänzenden Augen und seiner Stimme. Nach dem Regen kehren sie zurück und essen im Hause Natalias zusammen gutgelaunt zu Abend. Ob sie Pjotr auch liebe, fragt sich Natalia, als sie zu Bett geht – sie weiß es nicht. Alles was mich [Natalia] bezauberte, was mich zärtlich umfing und mit Hoffnung erfüllte, ist zu einer bloßen Erinnerung geworden, und ich sehe nichts als eine gleichförmige, öde Steppe vor mir; in der Steppe ist keine Menschenseele, und am Horizont ist es so schrecklich und finster... (Seite 76) Pjotr lebt inzwischen auch in der Stadt, wo er jetzt seinen Beruf ausübt. Natalia findet ihn gealtert und er ist infolge eines Leidens abgemagert. Er verabscheut seine Amtstätigkeit und hat seine Lebenslust verloren. Natalia hört auch keine Liebeserklärungen mehr von ihm. Bei einem seiner Besuche verliert Natalia ihre Contenance und fängt zu schluchzen an. Sie bemitleidet sich selbst und sehnt sich in die Vergangenheit zurück. Dass Pjotr sie versteht, sieht sie ihm an, und er tut ihr ebenfalls leid. ...und ich ärgerte mich zugleich über diesen schüchternen Unglücksmenschen, der weder mein noch sein Leben hatte einzurichten verstanden. (Seite 77) Nach der Verabschiedung küsst Pjotr ihr zweimal stumm die Hand und – so vermutet Natalia – denkt an das Gewitter und ihre Fröhlichkeit vor neun Jahren. Die WetteBei einer Abendgesellschaft wird das Thema Todesstrafe diskutiert. Die Mehrzahl der Gäste, unter ihnen Gelehrte und Journalisten, lehnt die Todesstrafe ab. Sie sei "veraltet, unpassend für einen christlichen Staat und unmoralisch" (Seite 79). Der Gastgeber hingegen findet die Todesstrafe moralischer und humaner als eine Freiheitsstrafe. Er findet es menschlicher, innerhalb weniger Minuten getötet zu werden als dass "einem über Jahre das Leben herausgesaugt" wird. Ein anderer Gast wendet ein: "Beides ist gleichermaßen unmoralisch, weil beides ein und dasselbe Ziel hat – jemandem das Leben zu nehmen. Der Staat ist nicht Gott. Er hat kein Recht, einem das zu nehmen, was er einem nicht zurückgeben könnte, falls er wollte." (Seite 80) Worauf ein fünfundzwanzigjähriger Jurist dagegenhält: "Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe sind gleichermaßen unmoralisch, doch wenn ich mich entscheiden müsste zwischen Hinrichtung und lebenslanger Freiheitsstrafe, so würde ich natürlich die letztere wählen. Es ist besser, irgendwie zu leben als gar nicht." (Seite 80)
Nach einer lebhaften Debatte provoziert ein schwerreicher Bankier den Juristen, indem er ihm eine Wette um zwei Millionen anbietet, dass dieser es keine fünf Jahre im Gefängnis aushalten würde. Der Jurist setzt noch eins drauf: Er wettet, dass er es sogar fünfzehn Jahre durchhielte. "Er ist erst vierzig Jahre alt. Er nimmt mir das Letzte, wird heiraten und sich des Lebens freuen, an der Börse spekulieren, und ich werde als Bettler voller Neid zusehen und tagtäglich ein und denselben Satz von ihm hören: 'Ich verdanke Ihnen mein Leben, gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen!' Nein, das ist gar zu viel! Die einzige Rettung vor Bankrott und Schande ist der Tod dieses Menschen!" (Seite 84) Nachts schleicht sich der Alte in das Gartenhaus. Am Tisch sieht er reglos den Gefangenen sitzen, der mit einem gewöhnlichen Menschen keine Ähnlichkeit mehr hat. Er ist nur noch Haut und Knochen, hat lange Locken wie eine Frau und einen zottigen Bart. Bei seinem greisenhaften Gesicht, hätte man nicht geglaubt einen Vierzigjährigen vor sich zu haben. Die skelettartige Gestalt kauert am Tisch, ist eingeschlafen und hat ein beschriebenes Papier vor sich liegen. Eine gute Gelegenheit, dem Halbtoten ein Kissen aufs Gesicht zu drücken und keiner würde an einen gewaltsamen Tod denken, überlegt sich der Bankier. Aber erst einmal nimmt er das Blatt vom Tisch und liest:
"Morgen um zwölf Uhr bekomme ich meine Freiheit [...] Doch bevor ich dieses Zimmer verlasse [...], halte ich es für angezeigt, Ihnen ein paar Worte zu sagen. Reinen Gewissens und vor Gott, der mich sieht, erkläre ich Ihnen, dass ich sowohl die Freiheit als auch das Leben und die Gesundheit und all das, was in Ihren Büchern als weltliche Güter bezeichnet wird, verachte.
Weinend verlässt der Bankier das Gartenhaus. Er verachtet sich, wie noch nie zuvor. Von der Liebe
Bei einer Unterhaltung über die Frage, wie die Liebe entsteht, diskutiert man, dass sie unzweifelhaft ein großes Geheimnis sei, und es keine für alle Fälle zutreffende Formulierung gebe. Man müsse jeden einzelnen Fall für sich besehen und Verallgemeinerungen vermeiden. "Man muss, um mit den Ärzten zu sprechen, die Fälle individualisieren", wie Aljochin meint. Burkin stimmt ihm zu, warnt allerdings davor, die Liebe mit "schicksalsschweren Fragen" zu belasten. Er hatte einmal ein Verhältnis mit einer Frau, die, selbst wenn sie in seinen Armen lag, immer nur daran dachte, wieviel Geld er ihr monatlich geben würde. Man überlege dauernd, wohin die Liebe führen könne und ob es anständig oder unanständig von uns sei, meint Burkin. Ob das gut ist oder nicht, wisse er nicht, aber "dass es stört und ärgert und jeden Genuss verleidet", davon ist er überzeugt. Mein Gott, wie unglücklich waren wir beide! Ich gestand ihr meine Liebe und sah erst jetzt mit brennendem Weh im Herzen ein, wie nichtig, trügerisch und unnötig alles war, was unserer Liebe im Wege stand. Ich begriff, dass man an wichtigere Dinge als an Glück und Unglück, Tugend und Sünde im landläufigen Sinne oder überhaupt nicht denken soll, wenn man liebt. (Seite 119)
Inzwischen war der Zug abgefahren. Er setzte sich weinend ins Nebencoupé und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Zu Fuß ging er nach Sofjino zurück. |
Buchbesprechung:
Die elf Erzählungen in "Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld" von Anton Tschechow (Anton Cechov) sind vorwiegend Geschichten über unerfüllte oder unglückliche Liebesbeziehungen, Eifersucht und Ehebruch. Die meisten erschienen in den Jahren 1886 und 1887. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2010
Anton Tschechow: Eine langweilige Geschichte |