Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers |
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern.
|
Inhaltsangabe:
In dem einen kleinen Intervall, seit mir der Bart zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem einen halben Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und Veränderungen als sonst in zehn Menschengeschlechtern, und jeder von uns fühlt: zu vieles fast! Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten Moritz Zweig und dessen Frau Ida geboren. Der Vater stammte aus Mähren, die Mutter, eine geborene Brettauer, wurde in Ancona geboren und gehörte zu einer über die ganze westliche Welt verstreuten Bankiersfamilie. ... ich erinnere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit man bei meiner Tante in Paris bei Tisch von der einen zur anderen [Sprache] hinüberwechselte.
Besonders der mütterliche Teil der Familie achtete sorgfältig auf den Umgang: Da wurde bei jedem Schulfreund die Herkunft geprüft. Alle Bekannten wurden "klassifiziert"; das bildete "den Hauptgegenstand jedes familiären und gesellschaftlichen Gesprächs".
Alles in unserer fast tausendjährigen Monarchie war auf Sicherheit gegründet ... Die Lebensart der Wiener grenzt er gegen die der Deutschen ab: Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die, statt "tüchtig" zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten. Statt der deutschen "Tüchtigkeit", die schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens liebte man in Wien gemütlich zu plaudern, pflegte ein behagliches Zusammensein und ließ in einer gutmütigen und vielleicht laxen Konzilianz jedem ohne Missgunst seinen Teil. "Leben und leben lassen" war der berühmte Wiener Grundsatz, ein Grundsatz, der mir noch heute humaner erscheint als alle kategorischen Imperative ... Die Wiener begeisterten sich für die Kunst und vor allem für das Theater. Selbst die einfachen Menschen, die sich keinen Theaterbesuch leisten konnten, hatten von den großen Schauspielern gehört und empfanden vor jeder künstlerischen Leistung eine "ungemeine Ehrfurcht". Neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte, war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte, oder sogar schon selbstgeschaffene Kultur.
Stefan Zweig nennt einige Beispiele: Gustav Mahler (1860 - 1911), Arthur Schnitzler (1862 - 1931), Leo Fall (1873 - 1925), Max Reinhardt (1873 - 1943), Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929), Arnold Schönberg (1874 - 1951), Emmerich Kálmán (1882 - 1953). Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik aufzwang. Die Lehrer achteten darauf, ihre Autorität nicht durch ein persönliches Gespräch mit einem Schüler zu gefährden. Auch unsere Lehrer hatten an der Trostlosigkeit jenes Betriebes keine Schuld. Sie waren weder gut noch böse, keine Tyrannen und andererseits keine hilfreichen Kameraden, sondern arme Teufel, die sklavisch an das Schema, an den behördlich vorgeschriebenen Lehrplan gebunden, ihr "Pensum" zu erledigen hatten ...
Statt für den Unterrichtsstoff begeisterte Stefan Zweig sich für Literatur und schwärmte zum Beispiel für Hugo von Hofmannsthal. Obwohl er morgens um 7 Uhr aufstehen musste, las er als Gymnasiast in der Regel bis 1 oder 2 Uhr nachts. Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Als Gustav Mahler 1897 im Alter von 37 Jahren Direktor der Wiener Hofoper wurde, staunten die Leute, denn eigentlich hielt man erst die über Fünfzigjährigen für reif genug, um würdevolle und verantwortungsvolle Positionen zu bekleiden. Deshalb machten sich die Jüngeren durch Bärte und Brillen älter. Das änderte sich vor dem Ersten Weltkrieg: Plötzlich wollten alle jünger aussehen. Jungsein, Frischsein und nicht mehr Würdigtun wurde die Parole. Von 1900 bis 1904 studierte Stefan Zweig in Wien und Berlin. Prägnant ist der Vergleich, den er zwischen seinen Zimmerwirtinnen anstellt:
Die wienerische war eine muntere, geschwätzige Frau, die nicht alles in bester Sauberkeit hielt, dies und das leichtfertig vergaß, aber begeistert einem jede Gefälligkeit erwies. Die Berlinerin war korrekt und hielt alles tadellos im Stand; aber bei ihrer ersten Monatsrechnung fand ich in sauberer, steiler Schrift jeden kleinen Dienst berechnet, den sie erwiesen ...
Stefan Zweig reiste nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Belgien, Holland, Frankreich, England, Italien, Spanien, Indien, Afrika und Nordamerika. Sozusagen als Stützpunkt mietete er eine kleine Wohnung in Wien. In Paris begegnet er Rainer Maria Rilke (1875 - 1926). Bei einer russischen Bildhauerin in Florenz entdeckte er ein Buch von Romain Rolland (1866 - 1944), begeisterte sich für dessen europäische Haltung und schrieb ihm. Es war der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft. ... die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion. [...] Selbst das Rom des Sueton hat keine solchen Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle [...] Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. 1928 folgte Stefan Zweig einer Einladung anlässlich des 100. Geburtstags von Leo Tolstoi (1828 - 1910) und hielt sich zwei Wochen lang in der Sowjetunion auf. Bei jedem Empfang, bei jeder Verabredung kam man als Europäer eine Stunde zu früh.
Außer Romain Rolland und anderen namhaften Intellektuellen zählte Stefan Zweig Émile Verhaeren (1855 - 1916), Sigmund Freud (1856 - 1939), Arthur Schnitzler (1862 - 1931) und Maxim Gorki (1868 - 1936) zu seinen persönlichen Freunden. ... nun trug ihn die aufbrausende Welle der Unzufriedenheit rasch hoch. Die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die politischen Krisen und nicht zum mindesten die Torheit des Auslands hatten das deutsche Volk aufgewühlt; ein ungeheures Verlangen nach Ordnung war in allen Kreisen des deutschen Volkes, dem Ordnung je mehr galt als Freiheit und Recht.
Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 wurde der nach Stefan Zweigs Novelle "Brennendes Geheimnis" gedrehte Spielfilm sofort aus dem Kinoprogramm genommen. Der Schriftsteller, der zu diesem Zeitpunkt der erfolgreichste Autor des renommierten Insel-Verlags war, befürchtete ein Verbot seiner Bücher in Deutschland. Sein Verleger konnte sich das nicht vorstellen. Doch am 10. Mai wurden Stefan Zweigs Bücher zusammen mit denen anderer missliebiger Autoren öffentlich verbrannt. (Ungeachtet der öffentlichen Ablehnung ließen sich seine Bücher noch bis 1934 verkaufen. ) Bei seinem Kunstegoismus, den er jederzeit offen und kühl bekannte, war ihm jedes Regime innerlich gleichgültig.
Im Februar 1934 zog Stefan Zweig mit seiner Frau von Salzburg nach England, wo sie zuerst in London, dann in Bath wohnten. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension : © Dieter Wunderlich 2002 Textauszüge: © Bermann-Fischer Verlag, Stockholm Seitenanfang |
Stefan Zweig (Kurzbiografie) Stefan Zweig: Angst Stefan Zweig: Brennendes Geheimnis (Verfilmung) Stefan Zweig: Maria Stuart Stefan Zweig: Schachnovelle |