Seit Tagen Regen und du
siehst an der Ampel
gegenüber eine Lache
auf dem Gehweg, blutrot,
da wurde ein Passant
erfasst, schien es im
ersten Schreck, bis du
kapierst, der rote Astra
drüben wird reflektiert.
Soviel zu Augen, du
könntest bezeugen,
nichts, nichts passiert.
20.02.2007 12:26:58
Meditation
Ein Trupp Kegelschwestern stürmt
das Abteil, alle reden gleichzeitig,
bis eine zu singen beginnt, einmal
von hinten, einmal von vorn, keine
Hemmungen, ich stimme nicht mit
ein, einmal ganz langsam, einmal
ganz schnell, ich atme tief, Friede
wird frivoler Friede, einmal aus Liebe,
einmal aus Zorn, ob ich nicht auch
was trinken möchte, streicheln wir
der Miezekatze über das Fell. Sinne
ziehen sich zurück, kleine Feiglinge.
08.02.2007 09:37:14
Fischmarkt
Und noch nen Aal, ruft der Verkäufer
rauh, ein Mikro
um den Hals geschnallt
wie ein Kehlkopfopfer,
dem Publikum gefällt es, und alle
wollen noch einen Aal,
zu einer Kiste Äpfel
gibt es eine zweite Kiste Äpfel,
zur Yuccapalme gibt es Palmen,
alle kaufen,
um das gleiche geschenkt zu kriegen,
ich trinke nichts
als Kaffee an einem Stand, sehe zu
und zahle für die zweite Tasse,
es ist Sonntag, morgen
ist nicht noch mal Sonntag,
aber Kaffee verzögert
den Abbau von Alkohol im Blut,
mit jedem Schluck betrinke ich mich
irgendwie rückwärts,
aber das macht nichts, es ist früh
am Sonntag, vergib mir
und noch mal Vergebung,
während ich einer beladenen Frau
helfe, eilig bemüht,
Kisten mit Orangen in den Wagen
zu hieven, reife Früchte,
deren Zeit fast abgelaufen ist.
04.02.2007 19:18:51
Temperament
Ein Sturm, zwei Stürme – keine Bedenken. Wir fuhren am Samstag früh am Morgen nach Dänemark mit einer Vorhersage im Rücken, die mächtige Wellen verhieß. Je weiter wir nach Norden kamen, desto klarer wurde der Himmel. Endlich angekommen, strahlte die Sonne niedrig vom Himmel, der tief im Süden schwarz war, eine massive Front, die uns folgte. Egal, in der Bucht brachen saubere linke Wellen, der kleine Bach hatte eine Sandbank angeschwemmt, die weit hinausragte, und die Dünung drehte sauber gegen den Wind. Wir ritten auf den schulterhohen feinen Wellen, bis der Wind zunahm. Das erste Zeichen war eine Schauerbö, die mit Graupel über uns hinwegfegte, daß ich weder Land noch Meer, Wasser noch Himmel unterscheiden konnte. Ich paddelte blind in die Richtung, die ich für seewärts hielt, um wieder hinter die Brandungslinie zu gelangen. Minuten später war alles vorbei, ich saß mit von Eiskristallen wundem Gesicht auf dem Brett und sah meinen Bruder, der sich in die Düne geduckt hatte und verzweifelt sein Brett festhielt, das der Wind ihm aus der Hand zu reißen drohte.
Ich surfte noch zwei Wellen, dann fuhren wir ohne uns umzuziehen in den klitschnassen Anzügen in den Nachbarort, um zu sehen, ob dort hinter der großen Mole bei dem Wind noch eine kleine saubere Welle lief. Sie lief, anderthalb Meter hoch, perfekt gegen den veritablen Sturm aus Südwest, der mittlerweile kachelte. Ich schaffte es, mein Longboard an den Strand zu tragen, in dem ich es wie einen Flügel neben den Körper hielt und leicht auf den Böen tanzen ließ. Beim Rauspaddeln sandstrahlte uns der Wind, der vom Südstrand über die Mole wehte; ich sah die Wellen erst, wenn sie direkt vor mir zu brechen begannen. Wir blieben eine Stunde draußen, dann legte der Sturm noch mal zu – bis einen Meter über der Wasseroberfläche war ein Gemisch aus Schaum, Wasser und Sand, das es unmöglich machte, zu atmen. Selbst die Seevögel, die in Lee der Mole gewartet hatten, zogen auf die offene See hinaus. Wir zogen uns um, ich versuchte noch einmal zum Strand zu sehen und scheiterte. Der Wind riß mir den Blick vom Auge weg und trug ihn in die Dünen.
Die Nacht verbrachten wir in einer Holzhütte auf dem Campingplatz. Der Platzvater trug uns kopfschüttelnd ein und schlurfte dann wieder, eine Schnapsfahne zurücklassend, ins Hinterzimmer. Die Nacht über rüttelte der Wind an der Behausung, schaukelte mich in paradoxen, genauso unruhigen wie erholsamen Schlaf dicht an den Elementen. Am nächsten Morgen war die Luft um die Hälfte langsamer. Die Sonne schien, und um halb zehn waren wir auf dem Wasser, an derselben Stelle wie tags zuvor, nur brachen die Wellen jetzt doppelt so hoch. Feiste Nachkömmlinge des Sturms. Wir saßen wie in der Waschmaschine, Schaum und Strömung und Brandung wirbelten uns herum zusammen mit den Eiderenten, die hinter der Mole Schutz suchten. Die Wellen liefen steil in die halbmondförmige Bucht, wurden größer und schneller, je weiter sie den Strand entlang zogen und krachten schließlich braun und schwer und kalt auf den Kies am Ufer. Der einfachste Weg hinaus war nicht, wieder durch die Brandung zu paddeln, sondern am Strand zurückzulaufen und vom Fuß der Mole direkt ins Wasser zu springen. Zwei, drei Paddelzüge und wir waren wieder im Line-up. Ron, der einzige andere Surfer, den es heute hierher verschlagen hatte, versuchte immer wieder eine der Wellen zu reiten, die direkt auf den Strand brachen, Röhren, genauso dick wie hoch, die in knöcheltiefes Wasser schlugen. Endlich erwischte er eine und zog an mir vorbei, so dicht am Ufer, daß es wirkte, als joggte er am Strand neben uns her. Was als Schaumfahnen vorbeisegelte, konnten auch Eiderenten sein, Lachmöwen, Krabbentaucher, Fischkutter.
Nach drei Stunden hatte ich kleine tanzende Lichtflecken im Sichtfeld. Genug geritten auf dem Sturm. Ausgetrocknet und kalt. Auf dem Rückweg hielten wir im Windschatten eines Hauses am Limfjord und aßen unsere Müsli- und Joghurtreste, dazu getrocknete Aprikosen. Mein Magen imitierte Aufruhr der See. Dirk sagte, er hätte nicht alles aufessen sollen, und zerknüllte die leere Familienpackung gemischter Nüsse in der Faust. Die Straßen waren voll. Die Dänen fuhren in aller Ruhe durch ihr gemütliches, gebeuteltes Land. Vielleicht zu jütländischen Kaffeetafeln mit ihrem endlosen Aufgebot von Sahnetorten und, wie Siegfried Lenz es einmal erleben mußte und beschrieben hat, dem „charakteristischen Kleingebäck“ bis zum Erbrechen. Alles eine Frage des Überlebens und Genießens.
22.01.2007 18:22:18
Klauben
Habseligkeiten, wurde das Wort nicht letztes Jahr zum schönsten deutschen Wort gewählt? Schön, weil ohne praktischen Wert.
Cellar door ist, nach Joyce und Donnie Darko, das schönste der englischen Sprache.
Auch, aber auf andere Art schön: Tütensuppe, Entnazifizierung, Fragebogen, Biedermeier, Frühstück ...
07.01.2007 18:48:51
Moderation
Auch wenn du
leibhaftig besser
weißt, was
Befreiung ist,
gib mir
nur ein einziges
Argument
gegen Vertrauen
und komm
mir nicht mit
Nähe.
09.10.2006 09:52:05
Zeitfenster
Ich sitze hektisch am Schreibtisch
gemessen am Tempo des Alten,
der Tag für Tag draußen vorbeitrippelt,
eine Viertelstunde und länger
braucht er durch den Ausschnitt,
links die Krücke, rechts die Tasche
mit Pfandflaschen, je Schritt
ein Zentimeter Raumgewinn,
die Füße in hoher Frequenz,
als renne er auf glitschigem Grund
oder in Zeitlupe, den Schreck
im Gesicht, es nicht zu schaffen,
bis er in Echtzeit aus dem Bild driftet,
lädierter Termin, und aus dem Sinn.
13.09.2006 15:23:07
Recherche
Ich habe meine Arbeit verloren,
dies tote Wissen,
das Leistung heißt. Am meisten bedeutet
hat mir der Weg ins Büro,
zu Fuß in die Mitte
des Üblichen. Was soll´s,
da ich jetzt ganze Tage
spazieren kann in Trümmern
der Verhältnisse. Was soll´s,
wie der Tag war.
Fakten sind gar kein Ausdruck.
06.09.2006 08:24:25
Demut pro domo
Von Grass lernen, heißt, Im Atemweg des Passagiers, den Titel des jüngsten Buches, Im Atemweg des Passagiers, dauernd und überall, Im Atemweg des Passagiers, einzustreuen, und seien, Im Atemweg des Passagiers, es auch noch so, Im Atemweg des Passagiers, delikate, Im Atemweg des Passagiers, oder vermiedene Geständnisse, Im Atemweg des Passagiers.
23.08.2006 08:40:16
Auf Verdacht
Während ein Anruf ausbleibt,
melden sich pausenlos Bedenken,
nichts ist in Ordnung. Durch Hörensagen
löst sich Skepsis nicht auf
in Luft und geteilte Vergangenheit.
Ich habe die unterlassene Nachricht
mit Phrasen gefüllt auf Abruf.
Das muß nichts bedeuten.
Und dieses Nichts mißt die Reichweite
meiner Stimme – alles in Ordnung.
Die Zunge im Anschlag,
bereit für den einzigen Satz,
der Entfernung überwindet.
Du fehlst mir. Nichts als Worte.
09.08.2006 08:09:18
Worker Bees
March on, worker bees!
Know your enemy!
We take our orders given by the queen
We’re not the killers, we’re the worker bees
If you resist us you will feel our sting
Surrender now before the swarm sets in
Protect the hive from enemies!
Protect the hive from enemies!
Follow the herd mentality!
Can we fight to save our souls?
March on, worker bees!
Know your enemy!
A pollination coming from the west,
And in a flash we will invade your nest
Supply of honey flowing bottomless
Play by our rules or you’ll be powerless
Protect the hive from enemies!
Protect the hive from enemies!
Follow the herd mentality!
Can we fight to save our souls?
And we’ll march… along, with our blindfolds on
And we’ll ride… the rails, with our pistols drawn
Can the Lord… above, forgive what we’ve done?
Can we fight to save our souls?
...
Can we fight to save our souls?
Will we die to save our home?
Billy Talent II
01.08.2006 09:27:17
Die Frage wer sie ist
Inzwischen lebt sie schon so lange in meinem Kopf
und beinahe überall – aber wer sie ist
eine nutzlose Frage, du durchforstest Erinnerungen
nach etwas, das du dir nicht vorstellen kannst, ich weiß,
aber nutzlose Fragen bestehen ebenfalls auf Antwort
im Grunde ist sie noch immer die junge Frau
die ich damals zufällig traf irgendwo –
aber wer sie ist – in meinem Kopf
sie zu finden, daran scheitere ich.
Es gibt Momente, in denen mir schlagartig wieder klar wird,
daß der Mensch einsam ist, selbst ich,
und daß ich sie ansehe und denke: jene dort drüben
das ist sie, sehr sichtbar, sehr sterblich.
Rutger Kopland
24.07.2006 08:30:12
Electric President
Grand Machine No. 12
This damn machine, this damn machine, this broken head doesn't work.
So they're selling it off again.
These crooked legs, these twisted arms, these tired feet lost their worth.
Soon they'll dismantle them.
But we're all just part of some giant grand machine.
Too big to really understand.
But we'll do our jobs till we break down and fall.
Now we just sleepwalk. We drift through the week.
A dead procession always dragging its feet. Well, come on.
Our hands are swollen. We all need to sleep.
But there's no time, just stitch us up so we'll keep.
We're all just part of someone's elaborate plan.
Chess pieces in some grandiose scheme.
But we'll do our jobs till we break down and fall.
19.07.2006 15:20:47
Kompositionsprinzip
Ich setze nicht auf Ansichten
Neigung bleibt in Rufweite von Traurigkeit
Tradition läßt sich nur zahm vorstellen
Es geht um wunderschöne Zerstörung
Immer erfleht einer Zuwendung
Perlen wachsen um Lüge
Zu sterben wissen – Kopie eines Unverstehens
Erkenntnis heißt Schmerz umkehren
Vielfalt, so aggressiv
Laß uns ohne Namen zusammenleben
Mißklang wird für Unschuld gehalten
Ich breche auf und lebe von Resten
Ich bin bedroht von Verfall, nur umgekehrt
03.07.2006 09:22:06
Einsicht
Im Hof läuft eine Art von Musik,
Stimmen, Regen. Klang
des Lebens beim Gespieltwerden.
Was mich wachhält:
daß Können nie ausreicht.
Wer spielt um diese Zeit?
Es wird hell, Vögel setzen ein.
Schwärmereien.
Wozu Menschen fähig sind –
ein tödlicher Gedanke.
Ich hätte mehr üben sollen.
28.06.2006 08:26:12
Windhose
Wer außer Kinder und Amerikaner fürchtet
einen Tornado, aber jener
da vor der Garage hatte einen
so unbehelligten Platz gefunden,
sich auszutoben,
daß ich nichts tun konnte,
als der Revolte zuzusehen,
Blätter, Zellophan,
alles hob leicht ab, wirbelte kaum
über dem Boden. Immer noch
Kraft für eine Drehung.
Ein siebt- oder zehntklassiger Twister,
als ich längst dachte, Schicksal
ist immer anderswo,
daß nichts fehlt außer einer Kamera
und Gottesfurcht, selbst wenn einer Müll rausträgt.
14.06.2006 08:07:31
Wie hältst du´s mit der Fiktion?
Lieber Mirko,
"... und es verwundert mich genauso wenig, dass sich Britta Höper diese weitere Zusammenarbeit hat gut bezahlen lassen" – dieser Satz ist schwierig. Ich bin mir jetzt sicher, wir brauchen keinen Kodex. Fisch wie Forum zerbrechen an der Suche nach größerer Gemeinsamkeit als einer virtuellen. Im Ernstfall zeigt sich, alle stehen zuerst für sich und ihre Stimme. Unzweifelhaft ist, daß Brittas Text einigen Schaden angerichtet hat. Womöglich hat sie das beabsichtigt. Was könnten die Konsequenzen sein. K. wird gemobbt und verachtet; vielleicht Schlimmeres: das alles hat sogar strafrechtliche Folgen. Keine guten Folgen. Mich wundert Vieles.
Der konkrete Fall ist nicht schön. Entweder müßte K. eine Erwiderung schreiben können, hier, oder andere müßten weiterhin seine Veranstaltung besuchen, denn die ist ohne Zweifel wichtig und beruht auf ganz besonderem Engagement.
Meine Reaktion auf die Sache damals verdankt sich einem Reflex – wo sich jemand nicht wehren kann, herrscht Ungerechtigkeit. Schon seit je fand ich es unerträglich, nach einem Gespräch um Diskretion bitten zu müssen, weil die Erfahrung lehrt, daß alles doch weitergetragen wird. Jede Mitteilung muss also verschlüsselt werden, alles später widerrufbar sein. Das habe ich immer noch nicht eingesehen. Du verstehst, an sich wehre ich mich gegen Verabredungen, die doch nur wieder gebrochen werden, andererseits wüßte man in solchen Fällen dann, woran man krankt oder sich stört. Ich kenne K. nicht gut, Wahrheit oder Fiktion sind die Kategorien, um die es hier geht, da hast Du recht, wie das Wahre ins Ausgedachte kommt, nicht Britta vs. K., sondern wir alle – in dieser Konstellation – mit den Fakten. Danke sehr für Deinen Anstoß.
Auf geht´s, viele Grüße
H.
13.06.2006 14:09:59
Selbstbiografie
Ich lese in Tagebüchern und höre
Schumanns Kinderszenen;
jemand suchte Form für Verlangen.
Harmonie brachte er Kindern bei
und wie man feines Gehör bildet:
Sie spielen, aber ihr Spiel ist bloß
Willkür, Urbild des Wünschenden.
Er träumte von Freiheit wie Karneval
ohne Kostümzwang. Im geblümten
Morgenmantel wollte er sich ertränken,
ein weiterer Fehlschlag; Begabung
machte ihn zum Clown. Alles
wird gut und schön, notierte er,
alles Getrennte findet sich. Dann
verschlechterte sich sein Zustand.
Coda des letzten Stücks: verhallend
nach und nach. Entstellt spielte er
alte Kompositionen auf dem Klavier.
13.06.2006 08:22:31
Progressive Paralyse
(Eßt mehr Geld. FAZ)
Wie über Träume nachdenken, die ich nie hatte?
Mir fehlt die Fähigkeit, einfach müde zu werden.
Sehen und sagen sind eins.
Es bleibt wenig übrig.
Sehen und sagen sind eins.
Mir fehlt die Fähigkeit, einfach müde zu werden.
Wie über Träume nachdenken, die ich nie hatte?
12.06.2006 08:15:04
Schumann-Korrespondenz
Was ist denn mein Verbrechen, Liebe?
Ich habe mich am Klavier mit dir unterhalten.
Ich bin tot für alle.
Der Ring ist nur ein äußeres Symbol.
Alle Blätter sind voll von dir.
Ich finde keine Worte mehr.
Sei Punkt neun Uhr an meinem Fenster,
winke ich, treffen wir uns.
Auf die Romanze aber mache ich Anspruch.
*
Ich sah beim Komponieren innere Leichenzüge.
Das Geschick hat uns zusammengefesselt.
Hörst du. Adieu.
Es kommt keine Hand aus den Wolken,
du kennst meine geistige Natur,
und ich möchte alle Spießbürger umarmen.
Viel habe ich dir zu sagen. Zuerst die Frage.
Mädchen, hast du keine Arme,
mit denen du dich wehren kannst.