Historikerinnen und Historiker schreiben viel. Wunderbare Studien über eine riesige Vielfalt an Themen – über Rituale an den europäischen Höfen des 17. oder auch des 19. Jahrhunderts, über die Frage, warum so viele Deutsche während des Nationalsozialismus zu Tätern wurden, oder über die Entwicklung der Technik in den letzten 200 Jahren und wie sie die Welt und das Leben der Menschen verändert hat.
Genau um dieses Thema ging es, als ich im Juli, in der letzten Woche des Sommersemesters, in ein Oberseminar der Gießener Geschichtswissenschaftler eingeladen war: Schreiben für ein breites Publikum. Denn viele der oben erwähnten Studien werden außerhalb der Geschichtswissenschaft nur selten wahrgenommen. Wer will auch schon so ganz genau wissen, wie die Aufgaben eines preußischen Landrats im 19. Jahrhundert im Einzelnen ausgesehen haben. Oder wie im 17. Jahrhundert in einer Stadt wie Frankfurt mit Mördern, Dieben und randalierenden Trunkenbolden verfahren wurde. Natürlich, das sind Spezialstudien. Und doch: Im Film ›Das weiße Band‹ etwa gelingt es Michael Haneke, die rigide Gesellschaft und die Schwarze Pädagogik des Kaiserreichs in beklemmendem Schwarz-Weiß einzufangen. Historisch vielleicht nicht immer ganz korrekt – doch der Film berührt, wirft Fragen auf, lädt zum Nachdenken und zur Debatte ein. Was im Film funktioniert – Spannung erzeugen und Emotionen, Fragen aufwerfen –, das klappt auch im Buch. Aber ein Film hat mehr Freiheiten – oder besser: Haneke mischt Fakten und Fiktion, das ist aber in einem wissenschaftlich fundierten historischen Buch nicht erlaubt, oder allenfalls sehr begrenzt.
Die Fiktion braucht man nicht, um mit historischen Texten die Leser in den Bann zu ziehen, aber man braucht Elemente, die in fiktionalen Stoffen ganz selbstverständlich verwendet, in wissenschaftlichen Sachbüchern aber oft gemieden werden. Wie schade, sage ich da als Lektorin. Und als Leserin, denn nichts anderes bin ich ja als Lektorin. Ich lese, und der Text gefällt mir, zieht mich in den Bann – oder eben nicht. Aber die Geschmäcker sind, wir wissen es, verschieden; was ich persönlich spannend finde, das finden andere vielleicht kreuzlangweilig. Dennoch gibt es Kriterien, die ein gutes historisches Sachbuch, das über die historische Zunft hinaus wahrgenommen und gelesen werden soll, erfüllen muss. Drei Punkte scheinen mir dabei besonders wichtig:
1. Das Buch braucht eine starke, gut zu vermittelnde These. Das weckt nicht nur Aufmerksamkeit, sondern hilft, in das Buch hineinzufinden. Als Leserin muss ich ja zunächst verstehen, worum es dem Autor geht; wenn mich diese These neugierig macht, dann beginne ich zu lesen. Das ist der erste Schritt – das Thema, die These muss mich motivieren, interessieren. Der Autor oder die Autorin braucht also den Mut zur Synthese, zur Zusammenfassung und Zuspitzung.
2. Das Buch muss mich bei der Stange halten – durch Spannung. Spannung zeigt sich darin, dass der Leser wissen will, wie es weitergeht; er braucht also eine Geschichte, und in diese Geschichte muss er emotional hineingezogen werden. Ein Sachbuch muss natürlich auch die intellektuelle Ebene bedienen, aber die emotionale Ebene – und das wird von Wissenschaftlern oft unterschätzt – ist ebenso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger. Emotional wird die Geschichte, wenn ich mich als Lesern identifizieren kann mit den Personen, die dort handeln, den historischen Akteuren. Wenn ich ihre Motivationen nachvollziehen kann, wenn es etwas gibt, das ich mit ihnen gemeinsam habe – oder auch genau das Gegenteil der Fall ist. Wenn ich also – wie bei manchem Krimi – in eine Welt abtauche, die mir völlig fremd ist, die archaisch ist, die das Gegenteil von dem repräsentiert, was ich in unserer Gesellschaft akzeptiere. Am Ende aber muss alles gut werden, meine Werte müssen siegen, überdauern – so will es zumindest eine häufig genannte Regel für Kriminalromane. Aber kann das denn für ein seriöses historisches Sachbuch ebenso gelten? Viele Historiker würden das verneinen, denn diese Form des Erzählens hat etwas Manipulatives oder zumindest Suggestives und erscheint daher als unseriös. Das muss es aber nicht zwangsläufig sein. Spannung und Emotion können als Stilmittel verwendet werden, ohne deshalb gleich historische Methoden, faktische Absicherung und seriöse Interpretation der Quellen aufzugeben.
3. Emotionen gibt es freilich nicht nur beim Leser oder der Leserin. Auch der Autor oder die Autorin hat Gefühle. Schon die Wahl des Themas ist etwas sehr Persönliches. Das heißt nicht, dass – was ja in der Literatur gern unterstellt wird – immer ein Stück der eigenen Biographie verarbeitet bzw. dargestellt wird. Gut, Michel Foucault war schwul, und er hat über Sexualität und die altgriechische Knabenliebe geschrieben. Aber selbstverständlich lässt sich sein Werk nicht auf dieses biographische Detail reduzieren und auch nicht daraus erklären. Doch gerade die Autorin, die für ein breites Publikum schreibt, tut dies, weil sie etwas mitzuteilen hat. Sie hat eine Motivation. Mehr noch: Im Prozess des Schreibens, und bereits während der Recherche, während des Erforschens der Vergangenheit, durchläuft sie eine Entwicklung, emotional wie intellektuell. Wer versucht, diese persönliche Seite außen vor zu lassen, läuft Gefahr, einen leblosen, langweiligen Text zu produzieren. Die Texte, die mich als Leserin berühren, sind immer solche, in denen ich die Stimme des Autors vernehmen kann, zwischen den Zeilen und mitunter auch ungeschminkt und direkt.
Diese drei Punkte sind es, die ein Buch zu einem Bestseller machen können. Zu einem qualitativ hochwertigen und langlebigen Bestseller, nicht zu einer Eintagsfliege, die nach vier Wochen auf den Bestsellerlisten wieder verschwunden ist. Es kommen noch viele andere Faktoren hinzu: ein bekannter Verlag mit gutem Vertriebsnetz und hervorragenden Kontakten zu den Medien ist sicher hilfreich, auch die Gestaltung des Covers und die Formulierung des Titels tragen einen nicht unerheblichen Teil zum Erfolg bei, und manchmal kann ein gutes Timing den Ausschlag geben. Das lässt sich ein Stück weit steuern, aber es gibt auch Bestseller, die niemand vorhergesehen hat.
Doch es bleibt – auf jeden Fall im anspruchsvollen Sachbuch – eine Grundvoraussetzung, und das ist die Qualität, die sich aus den drei genannten (und natürlich noch weiteren) Punkten ergibt. Denn es versteht sich von selbst, dass der Schreibstil elegant, witzig, klar, farbig usw. sein muss, die Argumentation schlüssig, das Thema relevant sein muss, und dass alle Fakten abgesichert sind. Wenn dann noch eine originelle Struktur gefunden wurde, ein innovativer Zugang, neue, aufregende Ideen – dann entstehen Meisterwerke oder Meilensteine. Aber die braucht es nicht immer – ein unterhaltsames, erhellendes, den Horizont erweiterndes und zum Nachdenken anregendes Buch ist bereits ein großes Glück für jede Leserin und jeden Leser. Und für jeden Verlag.
In der Diskussion an jenem Abend in Gießen zeigte sich, dass wir über manche Punkte durchaus unterschiedlicher Ansicht waren. Bücher, die ich als gute Bücher präsentierte, hielten nicht unbedingt stand, waren jedenfalls angreifbar, was ihre Thesen oder auch die wissenschaftliche Absicherung betrifft. Zugegeben, ich hatte meinen Vortrag bewusst zugespitzt, um Widerspruch herauszufordern, aber auch, um für ein Umdenken zu plädieren, für den Mut, neue Wege zu gehen, neue Formen des historischen Erzählens auszuprobieren. Denn Historikerinnen und Historiker haben viel zu sagen, und es wäre ein Jammer, würden sie damit nicht zumindest das interessierte Feuilleton-Publikum erreichen.
Ich habe daher die Teilnehmer an der Podiumsdiskussion gebeten, Ihre Sicht der Dinge in kurzen Texten darzustellen. Um einen Dialog zwischen Verlag bzw. Lesern und den Fachleuten anzustoßen, die in der Lage sind, solche wunderbaren und wichtigen Bücher zu schreiben. Ihre Texte finden Sie nun hier auf Hundertvierzehn.de: herzlichen Dank an Dirk van Laak, Hubertus Büschel und Ulrike Weckel!
Tanja Hommen, Jahrgang 1962, studierte Geschichte in Lyon und Bielefeld, wo sie auch promovierte. Nach einem Volontariat im S. Fischer Verlag war sie freie Mitarbeiterin der von Walter Pehle ins Leben gerufenen Reihe ›Europäische Geschichte‹, bevor sie 2001 als Lektorin zum Campus-Verlag wechselte. Anfang 2013 kehrte sie als verantwortliche Lektorin für den Programmbereich Geschichte zu S. Fischer zurück und betreut dort u.a. die Reihe ›Neue Fischer Weltgeschichte‹.