Es war ein heißer Sommerabend. Man konnte den Lack des Parketts riechen, der bei dieser Hitze ein wenig weich wurde – im alten Biologiehörsaal des Gießener Uni-Hauptgebäudes. Ab und an strich ein sanfter Wind durch die hohen Fenster. Es lag ein wenig Spannung in der Luft. Der ›Markt‹ würde mit uns sprechen – die Geschichtslektorin eines der in Deutschland renommiertesten Verlagshäuser war gekommen, um uns ihre Sicht der Dinge darzulegen, was einen historischen Bestseller ausmachen könne. Ich kann wohl sagen, dass wir uns alle sehr freuten, aber auch ein wenig in ›Habacht-Stellung‹ waren, bereit zu Widerspruch, Kritik und Verteidigung. Denn allzu gern haben es Historiker/innen nicht, wenn der ›Markt‹ sagt, was gut und was schlecht ist; gut heißt dann ja letztlich auch, dass ein Buch sich verkauft. Wer mag schon die Ökonomisierung der eigenen Wissenschaft?
So könnte vielleicht ein gutes historisches Buch beginnen, mit der Schilderung der Aura einer Situation und der Behauptung, dass ein heißer Sommerabend auch auf das historische Geschehen – sprich unsere ein wenig hitzige Debatte im Juli 2014 in Gießen – eingewirkt habe. Aber es braucht sicher viel mehr. Was also macht für mich ein gutes historisches Buch aus, das auch ein breites Publikum erreichen kann?
Ich kann hier lediglich ein paar Gedanken formulieren. Es würde mir sicherlich leichter fallen, diese Frage zu beantworten, wenn ich jemals selbst einen historischen Bestseller geschrieben hätte. Für Nachwuchswissenschaftler, wie ich einer bin, ist das nicht so einfach. Wir müssen uns an die Gesetze des Fachs halten, publizieren Qualifikationsarbeiten in kleinen Auflagen, die innerhalb des Fachpublikums besprochen werden und es allenfalls einmal ins Feuilleton schaffen. Aber ich kenne natürlich Bestseller, die von Historiker/innen geschrieben wurden. Manchmal finde ich es gerechtfertigt, dass diese Bücher viele Menschen erreichen und gut ankommen – bisweilen aber auch nicht. Ab und an wünsche ich mir auch, dass andere, weit weniger erfolgreiche Publikationen mehr wahrgenommen würden. Und natürlich würde ich gerne einmal einen solchen Bestseller selbst schreiben, jetzt da ich meine Doktorarbeit und meine Habilitationsschrift publiziert und (hoffentlich) gezeigt habe, dass ich einen wichtigen Beitrag zu den Forschungsdebatten unseres Faches leisten kann. Ist es nicht an der Zeit, einmal ein Buch zu schreiben, das viele Menschen erreicht? Dieser Gedanke ist vermutlich vielen Historikern und Historikerinnen in meiner Lage nicht fremd.
Darüber hinaus tun gerade wir deutschen Historiker/innen uns bisweilen schwer, für das breite Publikum zu schreiben – besonders in der Art und Weise, wie es Frau Hommen in ihrem Beitrag vorschlägt: mit einer »starken, einfach zu vermittelnden These« und dem Bemühen, Gefühle zu zeigen und bei den Leserinnen hervorzurufen. Das hat wohl auch mit der Geschichte unserer Fachdisziplin zu tun. Viele deutsche Historiker/innen hatten sich mit Eifer in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt und mit »starken Thesen« Emotionen für Hitler und seine Schergen, für Nationalismus und Antisemitismus geschürt. Sie hatten sich mit Unredlichkeit, Lügen und Geschichtsklitterung einem verbrecherischen Regime angedient und hierbei oft ein großes Publikum erreicht. Vor diesem Hintergrund des politischen, moralischen und nicht zuletzt fachlichen Versagens vieler deutscher Historiker/innen im Nationalsozialismus haben wir heute Vorbehalte, allzu klare Thesen zu vertreten und emphatisch zu schreiben. Wir verweigern uns populären Erzählungen, um nicht verflachend und populistisch zu sein. Unsere Bücher sind häufig komplex und kompliziert. Das macht freilich auch ihre fachliche Qualität aus.
Differenzierung und Abwägung, detaillierte Bezüge auf Quellen, Umsicht in der Analyse und vor allem ein möglichst neutraler Gestus gelten auch als Kriterien für gute Wissenschaft. So ist es beispielsweise schwierig zu vermitteln, warum so viele Deutsche zwischen 1933 und 1945 zu Mitwissern oder Tätern wurden oder wegschauten, wenn ihre Nachbarn über Nacht abgeholt wurden. Das kann man schlecht mit einer klaren These erklären, sondern nur mit einer vielschichtigen Analyse, die bei Lesern leicht den Eindruck erwecken kann, dass es für vieles in der Geschichte keine eindeutigen Erklärungen gibt. Aber gerade dies zu zeigen, ist meiner Meinung nach auch Aufgabe einer integren Geschichtswissenschaft, selbst wenn sich das bisweilen sperrig liest.
Nun gibt es dennoch historische Bücher, die wunderschön geschrieben sind und sich bisweilen wie Romane lesen. Die Klassiker unter ihnen stammen wohl meist aus der Feder nicht-deutscher Autoren. Mich faszinieren beispielsweise die Studien der französischen Historikerin Arlette Farge sehr. Hier ist es beinahe so, als spüre man beim Lesen das Gedränge auf der Ile de la Cité im Paris des 18. Jahrhunderts, als höre man das Wispern der Gerüchte oder rieche den Duft der Pasteten auf den Marktständen, die vom Tisch des Königs auf die Teller der Adeligen gelangten, um schließlich in wohlgeformten und parfümierten Überresten den ärmeren Parisern feilgeboten zu werden. Es braucht aber Mut – und vielleicht auch ein wenig Übermut –, um aus den spärlichen Quellen die Erfahrungswelt der frühneuzeitlichen Pariser ›Unterschichten‹ zu erzählen. Die Bücher von Farge bedienen Emotionen, bieten Identifikationspotenziale und lassen die Vergangenheit bisweilen wie einen Film vor den Augen der Leser/innen aufscheinen. Sie sind auf den ersten Blick allerdings auch etwas unpolitisch. Es verlangt viel Nachdenken und Abstraktion, um ihnen gerecht zu werden und sie in ihrer wirklichen Bedeutung zu erkennen – als Studien über die häufig abgründige Geschichte menschlichen Zusammenlebens, über die Ritualisierung von und damit Gewöhnung an Gewalt oder über das schillernde Gewand, in dem himmelschreiende Armut bisweilen gekleidet wird, um autokratische und ungerechte Herrschaft zu stabilisieren.
Farges Arbeiten erschienen zu einer Zeit, die der britische Historiker Eric Hobsbawm einmal als Abgesang auf die großen »Warum«-Fragen bezeichnete. Hier wie in vielen anderen Studien ging es eher um das »Wie« – man kann in Anlehnung an den Ethnologen Clifford Geertz vielleicht sagen, um »dichte Beschreibungen« historischer Lebens- und Erfahrungswelten. Das bedeutete auch eine mehr oder minder explizite Verweigerung gegenüber vorschnellen Erklärungen und Kausalzusammenhängen. Für mich, der ich einer Variante von Geschichtsschreibung nahe stehe, die sich auf Theorien und Methoden der Kulturanthropologie und Ethnologie bezieht, war diese Entwicklung sehr bedeutend. Oft habe ich mich in meinen Texten auf Beschreibungen zurückgezogen. Bisweilen war ich auch versucht, längere Quellenzitate für sich selbst sprechen zu lassen. Ab und an verunklart das die Bildung von deutlichen Thesen und Erklärungen. Für manche Leser/innen mag das unbefriedigend sein, da eine solche Darstellung keine klaren Deutungen bietet, die zum Verständnis ihrer Gegenwart beitragen.
Manche Themen allerdings kann man nicht vor allem beschreibend und weniger erklärend behandeln. Es wäre geradezu fahrlässig, die »ganz normalen Männern« am Rande der Erschießungsgruben der Shoa in ihren Handlungen lediglich zu beschreiben. Eine »dichte Beschreibung« entfesselter Gewalt provoziert allenfalls Voyeurismus. Hier braucht es ebenso klare wie vielfältige Erklärungen, wie sie Christopher Browning so meisterhaft geboten hat. Ich möchte daher an der Ausdifferenzierung von Thesen unbedingt festhalten. Die eine klare These wird nicht reichen für ein gutes historisches Buch. Ich denke, dass man hier auch viele Leser/innen nicht unterschätzen sollte.
Es gibt noch etwas, von dem ich glaube, dass es sehr wichtig ist für ein gutes historisches Buch – auch für sein Potenzial, ein breiteres Publikum zu erreichen. Ich würde hier anders als Tanja Hommen nicht von »Spannung« und »Emotionen«, sondern von einem klaren Anliegen sprechen, das für viele Menschen von Relevanz sein kann. Ein solches Anliegen kann mit Fragen zu unserer Gegenwart, aber auch mit den Rätseln des allgemeinen menschlichen Zusammenseins zu tun haben. Sicherlich gibt es aufgrund der gegenwärtigen Erfahrungen von Grenzziehungen, Globalisierung und Umweltkatastrophen ein allgemeines Interesse an historischen Themen wie Raum, Migration oder Umwelt. Aber zweifellos sind auch die Perfidie und Macht im humanitären Handeln, die Alltäglichkeit von Brutalität und Gewalt, die Konstruktion von Geschlechterrollen, Emotionalität oder menschlichen Beziehungen Gegenstände, die unser gegenwärtiges Leben bestimmen, uns rätselhaft und fragwürdig erscheinen und durch historische Studien ein wenig verständlicher werden können.
Das Anliegen von Historikerinnen und Historikern ist in diesem Zusammenhang gleichermaßen individuell und wichtig: Der australische Historiker Greg Dening hat einmal geschrieben, dass Forschungsinteressen immer auch mit dem privaten Leben zu tun haben, mit biographischen Gegebenheiten, mit dem Umfeld, in dem man aufwächst, mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die man erfahren hat. Ich denke, dass es helfen kann, sich zu Beginn eines Buches auch über diese ganz individuellen und persönlichen Hinter- und Beweggründe klar zu werden, indem man sich immer wieder fragt, warum es so wichtig ist, gerade über diesen Stoff und nicht über einen anderen zu schreiben. Hunderte von Seiten zu füllen, bedeutet harte Arbeit. Das eigene Ich muss dabei gar nicht ausbuchstabiert werden. Ich glaube, dass Leser/innen das große Anliegen auch zwischen den Zeilen eines Buches spüren und andererseits rasch dahinterkommen, wenn es fehlt. Wenn ich ein solches Anliegen in einem historischen Text erahne, dann entwickle ich eine Beziehung zu den Zeilen, die ich lese, denn sie scheinen mir ehrlich und somit wichtig.
Dies trifft für mich etwa auf das Buch des amerikanischen Journalisten Thomas Harding zu, das seit Wochen in den USA und Israel auf den Bestseller-Listen steht. Harding erzählt hier miteinander verflochten die Geschichten seines Großonkels Hanns Alexander, ein Nazifahnder jüdischer Herkunft in den Diensten des britischen Militärs, und die des von ihm gejagten Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höss. Die so unterschiedlichen Biographien beider Männer werden streng chronologisch parallel beschrieben, bis sie schließlich im März 1946 auf einem norddeutschen Bauernhof, dem Versteck von Höss, zusammengeführt werden – und zwar in dem Moment, in dem Alexander den NS-Verbrecher aufspürt und festnimmt. Harding fragt weniger danach, warum aus seinem Großonkel ein regelrecht fanatischer Nazi-Jäger wurde und aus Höss der Kommandant von Auschwitz. Er beschreibt stattdessen akribisch die Biographien der beiden Männer, wobei immer wieder die Gewalt eine Rolle spielt, die – obwohl ganz unterschiedlich geartet – das Handeln von Alexander wie von Höss prägte. Die Montage dieser beiden so verschiedenen Lebensläufe regt zum Nachdenken an – und man spürt das Anliegen eines Autors, etwas über seinen Verwandten, über den von ihm Gejagten und über Schuld und Sühne im 20. Jahrhundert zu verstehen. Hieraus las ich auch das ehrliche Eingeständnis, dass es eine eindeutige und endgültige Erklärung dieser Geschichte nicht geben kann.
Schlussendlich bringen – meiner Meinung nach – Literaturwissenschaftler/innen deutlicher auf den Punkt als Historikerinnen, was eine »Kunst des Erzählens« sein kann. Der amerikanische Professor für angewandte Literaturkritik James Wood schreibt auf Romane des historischen Realismus von Flaubert bis zu Joyce bezogen: »An guter Literatur bemerken wir kaum, dass sie das sprechende und brillante Detail favorisiert, einen hohen Grad an visueller Aufmerksamkeit bevorzugt, eine unsentimentale Haltung wahrt und sich, wie ein guter Kammerdiener, überflüssiger Kommentare zu enthalten weiß, dass sie Gut und Schlecht neutral beurteilt, die Wahrheit herausfindet, auch wenn sie uns abstoßen könnte, und dass bei alledem, paradoxerweise, die Fingerdrücke des Autors nachweisbar, aber nicht sichtbar sind.« Ich denke, vieles hiervon könnte man auch für gute historische Bücher sagen, die das Potenzial haben, ein breiteres Publikum zu erreichen, neue weiterführende Einsichten in die Vergangenheit zu geben und ein Nachdenken über die Gegenwart anzuregen.
Hubertus Büschel, Jahrgang 1969, studierte nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung Neuere und Neueste Geschichte mit den Nebenfächern Mittelalterliche Geschichte und Neuere Deutsche Literatur. Er promovierte 2004 in Göttingen und ist nach Stationen in Bielefeld und Potsdam seit 2009 Juniorprofessor für Kulturgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Hundertvierzehn | Extra
Hubertus Büschel: Differenzierte Thesen und die Kunst des Erzählens