Literatur und Geschichtsschreibung haben meine Bildungsbiographie nahezu gleichwertig geprägt. Sucht man nach Erkenntnissen über den Menschen und das Leben als solches, dann ergänzen sich beide, wie ich finde, ganz wunderbar. Mir leuchtet bis heute nicht ein, weshalb »Erklären« und »Erzählen« grundsätzlich verschiedene Erkenntniswege darstellen sollen.
Immerhin: Von den fruchtlosen Debatten über Sinn und Zweck einer »narrativen« Geschichtsschreibung haben sich die Historiker heute weitgehend verabschiedet. Erfolgreichere Bücher schreiben sie deswegen aber noch lange nicht. Vielmehr machen Nachwuchsforscher die frustrierende Erfahrung, dass es meist sogar Geld kostet, ein über Jahre hinweg entbehrungsreich verfasstes Elaborat zu veröffentlichen. Während des Studiums sagt einem in der Regel niemand, wie man gute Bücher schreibt und ein breites Publikum adressiert. Stilkritik kommt dann erst in den Rezensionen vor – sofern man überhaupt welche erhält. Dass sich hier auch oft Verlage aus ihrer Pflicht eines sorgfältigen Lektorats gestohlen haben, wird ja darin oft genug angemerkt.
Viele Forscher tröstet die Arbeitsfiktion, dass sich neue Erkenntnisse ihren Weg in die Öffentlichkeit schon bahnen werden. Diese Aufgabe wird bisweilen von Personen übernommen, die sich auf das Schreiben spezialisiert haben. Wer über eine journalistische Grundausbildung oder andere Erfahrungen in der medialen Vermittlung verfügt, ist in Bezug auf die Breitenwirkung seiner Texte eindeutig im Vorteil. Viele haben entweder die von Tanja Hommen aufgeführten Kriterien für ein erfolgreiches Sachbuch verinnerlicht, oder sie sind medial einfach besser vernetzt.
Doch warum fallen diese Orientierungen den akademischen Fachhistorikern selbst so schwer? Weil sie zwar einfach klingen, aber schwer zu erfüllen sind. Ein gutes Sachbuch sollte über eine einfache These verfügen? Natürlich, aber zugleich gehört es zum Ethos des Wissenschaftlers, »uphill battles« gegen die leidigen Vereinfacher historischer Komplexität zu führen. Das lässt sie oft stärker differenzieren, als es selbst geduldigen Lesern zuzumuten ist. Ein Text sollte Spannung enthalten? Sicher, aber der Wissenschaftler hat bisweilen eine andere Auffassung davon, was spannend ist. Gegenüber immer schon vorhandenen Vermutungen strebt er eine möglichst lückenlose Wahrscheinlichkeit an. Statt die oft schrullige Selbstgewissheit literarischer Ermittler zur Schau zu stellen, haben Akademiker gelernt, sich lieber methodisch ein paarmal zu bekreuzigen. Und demonstrative Seriosität liegt nun einmal nahe an der Langeweile. Es sollen Emotionen und eine persönliche Beteiligung erkennbar werden? Auch das ist richtig, aber die Selbstermahnung des geschichtswissenschaftlichen Kirchenvaters Leopold von Ranke, er wolle sein Selbst gleichsam auslöschen, um nur die Dinge reden zu lassen, steckt in uns Historikern eben auch drin.
Erzählen und Erklären geschickt miteinander zu verschränken gelingt nur wenigen. Dabei dürfte die Vermutung nicht abwegig sein, dass es dazu durchaus eines gewissen Talents bedarf. Es ist wie im richtigen Leben: manche Menschen haben einen untrüglichen Hang zur Pointe, andere nicht. Emil Ludwig, Stefan Zweig, Golo Mann oder Sebastian Haffner gehörten jedenfalls zur ersten Spezies. Ein aktuell bemerkenswertes Beispiel reflexiver Prosa, das eng entlang der Grenze zwischen Sachbuch und Fiktion geschrieben wurde, ist das Buch »Flut und Boden« des Historikers Per Leo. Es avancierte in diesem Jahr zu einem Überraschungserfolg, wurde aber eben vorsichtshalber als »Roman« beworben.
Bei allen Unterschieden zwischen einem akademischen sowie einem Erfolg beim lesenden Publikum scheint es aller Mühen wert, stärker nach den Gemeinsamkeiten zwischen Geschichte und Geschichten zu suchen. Ohne gleich ins Histotainment abzugleiten, dürfte es für jedes informierende Buch opportun sein, sich um Kürze, Prägnanz und Eleganz in der Aussage zu bemühen. Das vom legendären Lektor Walter Pehle vorgeschlagene Maximum von 256 Seiten für ein gutes Buch mag dabei allzu ambitioniert sein. Doch haben ausschweifende Texte bei allen denkbaren Vorzügen vor allem gravierende Nachteile: Sie kosten Geld, Platz und Lebenszeit. Gutes Schreiben sollte daher an allen Ausbildungsstätten gelobt und gefördert werden – gerade weil sich der grammatische Freestyle und eine Verschriftlichung wörtlicher Rede immer weiter ausbreiten.
Geschichte prägt sich am besten ein, wenn sie über Geschichten und lebendig geschilderte Personen nahegebracht wird. Wegen der oft lückenhaften und kritisch zu sichtenden Quellen sind die Möglichkeiten zur Narration bei Historikern aber natürlicher Weise begrenzt. Effektvolle Ausschmückungen, wie sie Autoren fiktiver Texte jederzeit zu Gebote stehen, verbieten sich dem Wissenschaftler, wenn er sie nicht belegen kann. Außerdem wittert er hinter jeder allzu guten Geschichte meist nicht zu Unrecht einen Mythos oder eine Legende, die analytisch zu hinterfragen ist. Sofern er nicht gegen die Grundsätze der kritischen Erkenntnis verstößt, hindert ihn aber eigentlich niemand daran, die mühsam zusammengetragenen Befunde mit literarischer Finesse zu präsentieren.
Problematischer, aber wohl nicht mehr zu bremsen – und ganz offensichtlich auch eine »halbe Miete« auf dem Weg zum Publikumserfolg – ist eine Orientierung an der bisweilen ermüdenden, multimedial abfeuernden Jahrestags-Maschinerie. Beispiele brauche ich in diesem Weltkriegs-Jahr sicher nicht aufzuführen. Dass dabei jahrzehntealte Diskussionen (Fischer-Kontroverse, Riezler-Tagebücher usw.) noch einmal aufgewärmt wurden, macht es noch etwas ermüdender. Hier mag freilich der Neid die Feder dessen führen, der ein paar Jahre zu spät in den Kalender geschaut hat. Dennoch bleibt ein Erstaunen darüber, dass von der beispiellosen Vielfalt an Themen, die gegenwärtig historisch erforscht werden, so wenig in den Medien präsent ist. Ulrike Weckel hat vollkommen recht: Hier machen sich bei Multiplikatoren leider auch Mutlosigkeit und eine bequeme Orientierung am vermeintlich Gängigen bemerkbar.
Was die persönliche Beteiligung des Autors anbelangt, so hat die Analyse der populären Sachbücher (siehe www.sachbuchforschung.uni-mainz.de) gezeigt, dass sie zu betonen tatsächlich oft besser zieht als die Ranke’sche Fiktion des ausgelöschten Selbst. Von Anton Zischka über C.W. Ceram bis zum jüngst verstorbenen Peter Scholl-Latour haben die erfolgreichsten Sachbuchautoren eine besondere persönliche Nähe zu ihren Gegenständen suggeriert, auch wenn sich dieses Engagement im Nachhinein bisweilen als geschickte Autorfiktion herausstellte. Das »Pathos der Nüchternheit«, das von Historikern wie Martin Broszat reklamiert wurde, war charakteristisch für eine bestimmte Generation und ihre Themen, und diese Nüchternheit war damals vollkommen angemessen. Zweifellos kann man sich heute wieder stärker »identifizieren«, wie Tanja Hommen das nennt. Aber das gelingt Film- und Fernsehmachern, Photographen und Romanautoren vermutlich deswegen sehr viel besser als Wissenschaftlern, weil sie die Suggestivkraft von Bildern in ihrer ganzen Vieldeutigkeit einfach für sich stehen lassen können.
Auch scheint sich das zeitweilige Monopol der Historiker als Gralshüter der historischen Erkenntnis inzwischen verschliffen zu haben. Geschichtskultur ist heute keine feudale mehr, sondern eine diskursive. Es wollen alle mitreden, und dank einer Demokratisierung des Wissens können sie das zumeist ja auch (ich spreche hier nicht von den kollektiven Meinungs-Monologen à la Twitter). Inmitten des ungeheuren Hungers der Öffentlichkeit nach historischen Erzählungen und Bildern müssen die Historiker ihren besonderen Fähigkeiten zur kritischen Recherche und methodischen Kontrolle auch weiterhin Gehör verschaffen. »Meisterwerke« und »Meilensteine« entstehen nicht immer daraus. »Brot-und-Butter«-Texte haben für den Gang der historischen Erkenntnis eine ebensolche Berechtigung wie vermeintliche »Ladenhüter«, deren Wert nur von Wenigen oder sehr viel später erkannt wird.
Aber ich stimme Tanja Hommen zu, dass die Geschichtswissenschaft so reichhaltig wie kaum eine andere das Material in der Hand hält, um packende Geschichten zu schildern. Wenn Historiker sich dabei öfter an erfolgreichen Sachbüchern orientieren würden als an subventionierten Fachbüchern, sollte das nicht nur das lesende Publikum dankbar zur Kenntnis nehmen. Eben diesem Publikum kann aber umgekehrt von denen, die sich als seine Anwälte verstehen, zweifellos mehr Auswahl zugemutet und empfohlen werden als nur die vermeintlichen Megaseller der jeweiligen Saison.
Dirk van Laak, Jahrgang 1961, studierte Germanistik und Geschichte in Essen und promovierte bei Lutz Niethammer an der Fernuniversität Hagen. Nach Stationen in Jena, Chicago, Tübingen und Freiburg ist er seit 2007 Professor für Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Hundertvierzehn | Extra
Dirk van Laak: Geschichte und Geschichten