Natürlich würde auch ich mich freuen, wenn meine Bücher von mehr Menschen gelesen würden. Aber nie käme ich auf die Idee, einen Bestseller schreiben zu wollen. Auch bei der Wahl meiner Lektüre habe ich seit meiner Pubertät eher gemieden, was gerade lauthals angepriesen wurde und ein breites Publikum fand. Ich bin also gleich in doppelter Hinsicht eine denkbar ungeeignete Beiträgerin zu dieser Debatte. Dennoch habe ich Tanja Hommens Einladung, meine Argumente schriftlich zu fixieren, gerne angenommen, schon um meinen intuitiven Animositäten gegen Bestseller einmal auf den Grund zu gehen. Kann ich sie eigentlich gut begründen oder verstecken sich hinter meinen Rationalisierungen bloß Dünkel und Neid?
Dünkel liegt zumindest näher als Bescheidenheit. Wenn ich nie im Sinn gehabt habe, ein Buch von mir könne ein Bestseller werden, dann heißt das keineswegs, dass ich mich für eine allzu mittelmäßige Schreiberin hielte. Ich hadere zwar mitunter mit meinen Sätzen, aber ich feile an ihnen, bis sie sich – wie ich meine – sehen lassen können. Und wenn ich bekenne, um viele Bestseller eher einen Bogen gemacht zu haben, so will ich damit keineswegs sagen, dass ich gut erzählte Geschichten und sprachliche Eleganz nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil. Brillante historische Fachbücher und luzide argumentierende wissenschaftliche Aufsätze dürfte es meinetwegen gerne in viel größerer Zahl geben; Anleitung zu gewandtem Schreiben sollten wir meines Erachtens im Curriculum des Geschichtsstudiums sowie in der Dissertationsbetreuung fest einplanen; und bei der Lektüre von Fachliteratur wünsche ich mir oft, HerausgeberInnen oder LektorInnen hätten sich mehr Mühe gegeben und in unstrukturierte oder umständlich formulierte Texte stärker eingegriffen. Eine gut nachvollziehbare Komposition und präzisen sprachlichen Ausdruck für ihre möglichst gehaltvollen Aussagen sollten AutorInnen historischer Werke immer anstreben, selbst wenn sie sich als Produzenten fachwissenschaftlicher Texte darauf verlassen können, dass sich – mit einem Druckkostenzuschuss – schon ein Verlag finden wird, dass Bibliotheken etliche Exemplare der geringen Auflage ankaufen und FachkollegInnen das Werk quasi schon von Amts wegen zur Kenntnis nehmen müssen.
Meine Skepsis gegenüber Bestsellern hat, wenn ich das selbst richtig einschätze, auch wenig mit einer Verachtung und Verächtlichmachung des »breiten Publikums« zu tun. Vielmehr halte ich Annahmen über die Präferenzen und den Geschmack eines homogen gedachten Massenpublikums für einigermaßen spekulativ bzw., wenn sie bei Verlagen angestellt werden, für self-fulfilling prophecies. Historische Sachbücher, die solchen Annahmen zufolge Absatz finden müssten, die thematisch in einem Trend liegen oder aktuell erscheinen (und sei es, weil dank unseres Dezimalsystems ein runder Jahrestag ansteht), werden von Verlagen entsprechend aufgemacht, vermarktet und in den Medien wahrgenommen. Wenn sie dann tatsächlich von vielen Menschen gekauft werden und auf Bestsellerlisten erscheinen (was den Verkauf noch einmal beträchtlich ankurbelt), gelten die Annahmen über das, was »das breite Publikum« angeblich will, als bestätigt. Dabei wird übersehen, dass Massenerfolg in aller Regel darauf beruht, dass ein Werk ganz unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt bzw. zu befriedigen verspricht und verschiedene Lesarten zulässt. Zudem beweist der Verkaufserfolg eines Buches keineswegs, dass sich von einem anderen bei ähnlicher Publicity nicht auch erheblich mehr Exemplare hätten verkaufen lassen.
Doch Tanja Hommen geht es ja nicht nur um Verkaufszahlen. Es geht ihr als begeisterungsfähiger Leserin um die Weitergabe von Lesevergnügen und die Verbreitung interessanter historischer Erkenntnisse. Das ist sehr sympathisch, und ich wünschte noch mehr deutschen Verlagen eine solche Lektorin. Ich möchte hier nur zu bedenken geben, dass ihre drei Qualitätskriterien auf viele historische Sachbuchbestseller gar nicht oder nur eingeschränkt zutreffen. Gleichzeitig fallen uns allen sicher etliche Bücher ein, die diese Ansprüche erfüllen, die aber im riesigen Angebot von Neuerscheinungen weitgehend unbemerkt geblieben sind. Die »anderen Faktoren«, die Frau Hommen nennt – vor allem der bekannte Verlag mit gutem Vertriebsnetz und hervorragenden Kontakten zu den Medien –, müssen also offenbar nicht nur hinzukommen. Sie sind demnach für die Chance, bemerkt zu werden, ganz entscheidend. Und auch das beschränkt sich nicht auf die Verkaufszahlen. Ob ein Werk fortan als »Meisterwerk« oder »Meilenstein« gehandelt wird, hängt – machen wir uns nichts vor – nicht zuletzt davon ab, ob es ein namhafter Historiker im Feuilleton einer Qualitätszeitung dazu erklärt hat. Um das überhaupt zu ermöglichen, ist es wiederum notwendig, dass den Feuilletonredakteuren in den Stapeln von Buchanzeigen und Rezensionsexemplaren auf ihren Schreibtischen Autor oder Thema als publikumswirksam ins Auge fallen und ihnen zum Thema sofort ein namhafter Historiker einfällt, den sie bitten können, das Werk für ihr Blatt zu besprechen, und das möglichst rasch nach dessen Erscheinen. All das hat nur bedingt mit Qualitätskriterien zu tun.
Dass zudem die von Frau Hommen genannten Qualitätskriterien bei unserer Diskussion im Juli nicht unsere uneingeschränkte Zustimmung fanden, ist hier bereits mehrfach angeklungen. Zu allen drei Punkten kommen mir sowohl gelungene als auch abschreckende Beispiele in den Sinn. Insbesondere vor der einen starken, einfach zu vermittelnden These möchte ich warnen, haben sich doch schon manche AutorInnen von eigentlich differenzierten historischen Untersuchungen keinen Gefallen damit getan, eine allzu weitreichende schmissige These aufzusatteln oder so zu tun, als hätten sie gerade das Rad neu erfunden. Doch ich möchte mich hier auf die von Frau Hommen aufgeworfene Frage konzentrieren, was AutorInnen historischer Sach- und Fachbücher aus fiktionaler Literatur lernen können. In der Tat packt mich beim Lesen mancher Romane mitunter der Neid, wenn mir nämlich eine Geschichte erzählt wird, die mir über eine historische Konstellation die Augen öffnet, für die ich als Historikerin aber wohl nie und nimmer Quellen finden könnte. Ein Beispiel: Hans Habe schildert in ›Off Limits‹, einem Kolportageroman über die Besatzungszeit aus dem Jahr 1955, diverse Liebesbeziehungen zwischen deutschen Frauen und amerikanischen Soldaten. Bevor er einen deutschen Anti-Nazi die junge Inge Schmidt reichlich konventionell und kitschig von einem Selbstmordversuch abhalten und aus der Prostitution erretten lässt, erfindet er eine literarisch durchaus unkonventionelle und alles andere als rührselige Ausgangskonstellation: Die 16-Jährige beschließt auf den Strich zu gehen nicht etwa, weil sie Hunger hat. Vielmehr hat ihr Vater auf ihre provozierende Frage, ob sie sich für Lebensmittel etwa prostituieren solle, geäußert, dass sie ja doch keiner nehmen werde. Und Inge fürchtet, dass der unleidliche Alte damit womöglich sogar Recht haben könnte. Der nimmt sich zwar das Recht heraus, auf »Huren« herabzusehen, durchsucht aber fortan gierig die rote Kinderhandtasche der Tochter nach Zigaretten, wenn sie von ihren Streifzügen zurückgekehrt ist und schläft. Die psychologische Dynamik wird im Roman nur angedeutet, die Szenen lassen der Leserin viel Raum, sich in die Verhältnisse hineinzudenken.
Die Skizze vom Vater als Zuhälter weicht auffallend ab von den zahllosen deutschen Klagen über die »Amiliebchen«, die für eine Zigarette »zu allem« bereit gewesen seien, auf der einen Seite und den Ehrenrettungen auf der anderen, denen zufolge es sich bei diesem oder jenem Verhältnis um »wahre Liebe« gehandelt habe. Als Historikerin werde ich wohl kaum das Tagebuch eines Vaters finden, der reflektiert, ob er seine Tochter womöglich gerade in die Prostitution getrieben habe, oder eine Interviewpartnerin, die rückblickend ihre widersprüchlichen Beweggründe für lukrative Beziehungen zu Besatzungssoldaten analysieren kann und will. Habes erfundene Geschichte wird mich vielmehr inspirieren, mir die breite Grauzone zwischen gewerbsmäßiger Prostitution und ernsthaften Liebesbeziehungen in der Besatzungszeit genauer auszumalen und moralisierenden Klischees zu misstrauen. Wollte ich über das Thema ein Buch schreiben, würde ich höchstwahrscheinlich nicht ausgewählte spannende Geschichten über komplizierte Gefühle erzählen, sondern eher der Frage nachgehen, warum einige wenige Geschichten über das »Amiliebchen« den Zeitgenossen so viel plausibler erschienen als andere, mit dem Effekt, dass sich die Erzählungen verdächtig gleichen. Ein solches Buch, das Narrative problematisieren und vermutlich mehr Fragen aufwerfen würde als es beantwortet, wäre sicher nichts für ein breites Publikum. Da es mich aber wie gesagt auch gar nicht danach gelüstet, einen Bestseller zu schreiben, wäre das kein Grund zur Enttäuschung. Trotzdem und unabhängig von diesem ganz und gar fiktiven Buchprojekt wünschte ich mir allerdings, LektorInnen würden weniger spekulieren, was ein breites Publikum wohl will und was auf keinen Fall, und es häufiger mal auf ein Experiment ankommen lassen. Ein Experiment würde bedeuten, auch einem Buch, das keinem erprobten Erfolgsrezept folgt, nach Kräften öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ich vermute stark, es würde sich herausstellen, dass nennenswert großen Gruppen im breiten Publikum auch anders gestrickte Lesestoffe zugemutet werden können.
Ulrike Weckel, Jahrgang 1961, studierte Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg und promovierte auch dort. Nach Stationen u.a. in Wien, Florenz, Berlin, Ann Arbor und Bochum ist sie seit April 2013 Professorin für Fachjournalistik Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.