ein bild

Seestück


Die blau in blaue Karte, ihre Handschrift.
Ich sehe es wohl ein, ich habe ihr Gesicht
vergöttert. Ihre Stimme, ihren Schlafgeruch
nie. Wäre ich ihr Hund, ich liefe ihr davon,

ich spränge in den Fluss und schwämme bis ins Meer.
Phänomenal … Strand, Paddeln — und wär sie ein Boot,
ich ließe mich nicht retten. Ich liege wach, das stimmt,
mich sehnt nach ihrem Haar. Es hat türkis geschimmert,

wie der Atlantik nachmittags. Bewundert? Viel, sogar
an ihr: den sechsten Sinn, den vierten und den zweiten,
den Hang zur Perspektive statt zu Sekunden, schön.

Nur wie sie bellte, und wie sie morgens meistens roch,
und ihre Klaue. Ich sehe noch, wie sie durchs Wasser pflügt —
sie sagt es nicht, es spricht aus ihr: Soll alles untergehen.


29.06.2005 10:59:34 

Rondel


Teppich Eisschlamm, Möbel Speiseölkanister:
Fällt schwer, sie anzusehen, und fällt schwer,
sie nicht anzusehen, am Bahndamm die Baracke,
in der wir leben könnten, so wie wir jetzt sind,
du, ich, zweieinhalb Kinder und der gelbe Hund,
leben könnten, so wie wir jetzt nun einmal sind.
Fällt schwer, sie nicht anzusehen, und schwer,
hinzusehen, da, die Baracke am Bahndammrondel,
Möbel Speiseölkanister, Teppich Schlamm und Eis.

20.06.2005 12:57:45 

Schattenkabinett


schat3

3. Ingeborg Welling (1923 – 1981)
Ministerin des Inneren

17.06.2005 12:14:44 

Die Hülsenbeckschen Züge


Wir pafften im Geratter vorm Garagenanbau,
und der alte Herr ging in den bebenden Garten.
Auf ein Rohr vor das Gewächshaus gepflanzt —
ein Styroporkopf, um die Kinder zu erschrecken.
Tante spielte, Akkordeon für alle, Zug um Zug
preschte durch die schaurigschönen Melodien.
Und sie riefen: Eiben, Fichten, Eschen, Thujen,
unsere schöne wilde Rose, allen Baumbestand
weggeschlagen wegen Bahndammbaudrainagen.

15.06.2005 10:41:26 

Rasen


Ende Mai, die Forsythien geben auf
und werfen das Handtuch in den Garten.
Gras, hoch wie die Zeit der Frösche.
Abends, die Küche gemacht, du schreibst,
ich schreibe auch, alles ist vergeben.
Auf den Fliesen der Hund zuckt, die Läufe
wollen nicht laufen, wohin auch, Träumer.
Der Rasen liegt quakend da im Dunkel.

10.06.2005 10:58:49 

Schattenkabinett


schat2

2. Otto Kardinal Bompert (1867 – 1976)
Minister für Familie, Gesundheit und Ernährung

07.06.2005 10:50:35 

Pulk


Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf aus dem Wasser
Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Noch ein Kind und liest einen Band Keats
Da stockten die Gespräche, und alle zählen — Blitz

Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Eine Graugans, Luft, eine Graugans, Luft
Da stockten die Gespräche, und alle zählen — Blitz
Über die Wände getrabt kam das Lichtpferd

Eine Graugans, Luft, eine Graugans, Luft
Jedes Gewitter löscht alle Bilder aller Gewitter
Über die Wände getrabt kam das Lichtpferd
Ihr hell- und dunkelblau geblümtes Kleid auf der Hüfte

Jedes Gewitter löscht alle Bilder aller Gewitter
Ein Junge blieb am Fußballplatz hocken
Ihr hell- und dunkelblau geblümtes Kleid auf der Hüfte
Stütz dich mit den Händen ab auf meiner Brust

Ein Junge blieb am Fußballplatz hocken
Noch ein Kind und liest einen Band Keats
Stütz dich mit den Händen ab auf meiner Brust
Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf aus dem Wasser

06.06.2005 11:29:03 

Irgendwie ein goldiges Ding


Irgendwie ein goldiges Ding, hat dies wundervolle Leben
Eine Vorstellung von Mitternacht, hinweggerafft
Vollkommen lebendig, nicht meine Rettung
Ces petites misères qui gâchent notre vie

Eine Vorstellung von Mitternacht, hinweggerafft
Ich tat alles, bloß um jener Schatten zu sein
Ces petites misères qui gâchent notre vie
Mit ihren Versprechen von Himmel, ihren Händen

Ich tat alles, bloß um jener Schatten zu sein
Die Einvernehmen, sie reißen auseinander
Mit ihren Versprechen von Himmel, ihren Händen
Ich nehme, was harsch ist, armseliges Dämmerwerk

Die Einvernehmen, sie reißen auseinander
Was du berührst, ist meine falsche Geschichte
Ich nehme, was harsch ist, armseliges Dämmerwerk
Als gelangte ich in meine eigenen Spiegel zurück

Was du berührst, ist meine falsche Geschichte
Vollkommen lebendig, nicht meine Rettung
Als gelangte ich in meine eigenen Spiegel zurück
Irgendwie ein goldiges Ding, hat dies wundervolle Leben

Emma Lew

06.06.2005 10:28:07 

Radio Paradise


2:01 am - Emmylou Harris - Deeper Well
1:57 am - Euphoria - Delirium
1:53 am - Fatboy Slim - Weapon of Choice (remix)
1:47 am - Gomez - Sweet Virginia
------------------------------------------------------------------------
1:41 am - Chris Smither - Drive You Home Again
1:39 am - Nick Drake - Pink Moon
1:37 am - Cream - I Feel Free
1:33 am - Jeff Beck - Rollin' And Tumblin'
1:29 am - Stevie Ray Vaughan - Couldn't Stand The Weather
------------------------------------------------------------------------
1:25 am - Morphine - Radar
1:23 am - Little Richard - Tutti Fruiti
1:19 am - Björk - Big Time Sensuality
------------------------------------------------------------------------
1:14 am - Rachael Yamagata - Paper Doll
1:10 am - The Cardigans - Live and Learn
1:05 am - Beth Orton - Concrete Sky
1:01 am - The Cure - Letter to Elise
12:57 am - John Cale & Brian Eno - Lay My Love
12:52 am - Donovan - Sunshine Superman
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12:47 am - Dave Matthews Band - American Baby
12:44 am - The Wailin' Jennys - One Voice
12:40 am - Beck - Broken Drum
12:35 am - Depeche Mode - Personal Jesus
12:32 am - Eels - Novocaine for the Soul
------------------------------------------------------------------------
12:27 am - Sorten Muld - 2 Sisters
12:23 am - Air - Universal Traveller
12:18 am - Vienna Teng - Soon Love Soon
12:14 am - Edie Brickell & New Bohemians - A Hard Rain's a Gonna Fall
12:09 am - Manic Street Preachers - If You Tolerate This Your Children Will Be Next
12:03 am - Pink Floyd - Fearless
11:59 pm - Damien Jurado - Never Ending Tide
11:55 pm - Lou Barlow - Holding Back the Year
------------------------------------------------------------------------
11:51 pm - Tom Petty - A Face In The Crowd
11:47 pm - The Durutti Column - Requiem For Mother
11:44 pm - Placebo - This Picture
11:40 pm - Leonard Cohen - The Future
11:38 pm - Nina Nastasia - Rosemary
11:33 pm - Doves - Walk In Fire
------------------------------------------------------------------------
11:29 pm - Low - On The Edge Of
11:25 pm - Vast - Thrown Away
11:20 pm - The Church - Reptile
11:16 pm - Radiohead - High and Dry
11:12 pm - Joan Osborne - Make You Feel My Love
11:07 pm - Jay Farrar - Make It Alright
------------------------------------------------------------------------
11:03 pm - Jesse Cook - Red
10:59 pm - Hooverphonic - Jackie Cane
10:53 pm - Alpinestars - Burning Up
10:51 pm - Yoshida Brothers - Tabidachi (Starting on a Journey)
10:43 pm - Steely Dan - Aja
10:40 pm - Tom McRae - You Only Disappear
------------------------------------------------------------------------
10:36 pm - Thievery Corporation - Samba Tranquille
10:32 pm - Moodswings - Spiritual High (State Of Independence) Part II
10:27 pm - Pineapple Thief - We Subside
10:23 pm - The Bad Plus - Flim
------------------------------------------------------------------------
10:19 pm - Michelle Shocked - When I Grow Up
10:16 pm - Neko Case - Stinging Velvet
10:12 pm - Be Good Tanyas - Rain and Snow
10:09 pm - Hank Williams - Ramblin Man
10:08 pm - Atomic 7 - Your Ironic T-shirt
10:02 pm - John Fogerty - Change in the Weather
9:57 pm - Anders Osborne - Had My Reasons
9:52 pm - Neville Brothers - Congo Square
------------------------------------------------------------------------
9:50 pm - Blue Man Group - Drumbone
9:46 pm - The Fixx - Saved By Zero
9:42 pm - Rolling Stones - She's A Rainbow
9:40 pm - Johnny Nash - I Can See Clearly Now
9:36 pm - Bruce Cockburn - Wondering Where the Lions Are
------------------------------------------------------------------------
9:32 pm - Autour de Lucie - L'autre Nous
9:28 pm - Bob Dylan - Simple Twist Of Fate
9:23 pm - Lucinda Williams - 2 Kool 2 Be 4-Gotten
9:19 pm - Sarah Harmer - Almost
------------------------------------------------------------------------
9:15 pm - Prefab Sprout - Faron
9:10 pm - Folk Implosion - Releast
9:07 pm - Big Head Todd & The Monsters - Tangerine
9:02 pm - Magic Slim & James Cotton - When the Levee Breaks
9:00 pm - G. Love & Special Sauce - Gimme Some Lovin'
8:58 pm - Iron & Wine - Naked As We Came
------------------------------------------------------------------------
8:54 pm - Jack Johnson - Sitting, Waiting, Wishing
8:48 pm - Tracy Chapman - New Beginning
8:43 pm - Peter Tosh - Downpressor Man
8:38 pm - Stevie Wonder - Master Blaster
8:36 pm - XTC - Grass
8:31 pm - The Postal Service - Recycled Air
------------------------------------------------------------------------
8:25 pm - Nick Cave and the Bad Seeds - As I Sat Sadly By Her Side
8:23 pm - Coldplay - Don't Panic
8:16 pm - Dire Straits - Brothers In Arms
8:13 pm - Erik Satie - Gnossienne No1
8:10 pm - Sophie Zelmani - To Know You
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8:07 pm - Jethro Tull - Up To Me
8:04 pm - Levellers - Four Winds
7:56 pm - Al Stewart - Roads To Moscow
7:50 pm - Led Zeppelin - The Battle of Evermore

*

radioparadise.com

30.05.2005 10:56:13 

Ein paar Worte zu meinem Freund Gerald Koll


Er ist einer der warmherzigsten, aufrichtigsten, miesepetrigsten, ungläubigsten, frommsten, boshaftesten, zärtlichsten, rücksichtslosesten, tapfersten Zweifler, Glückssucher und Liebenden. Er ist Filmer, Autor, mein Trauzeuge, Journalist und Liebender. Er ging den Jakobsweg. Er ging den Ninaweg. Er lief in Rom den Marathon mit 40 ° Fieber. Er war im Forum der 13 einer der fleißigsten Schreiber.
Sein Witz ist solitär.
Schön, Gerald, nach Irrtümern und Fehlern und viel zu viel wirrem Antizipieren Dich wieder dabei zu haben.


Ja
Jakob
Jakob fährt Auto
Jakob der kleine Jakob fährt
im umgekippten Kinderstuhl Auto
sitzt im Wipp-Auto am Steuer und fährt
fährt „aussteigen!“ krabbelt aus dem Wippauto
steigt wieder ein wippt „aussteigen!“ steigt wieder aus
nimmt den Holzschemel belädt das Wippauto Oma hilft bei Beladen
steigt ein brumm-brumm „aussteigen!“ steigt aus lädt ab „Gebäck ablade!“
stellt das Gepäck ab „Gebäck parke!“ nimmt es wieder hoch belädt das Wippauto krabbelt „einsteigen!“ in das Wippauto und krabbelt aus der anderen Seite wieder aus nimmt das Gepäck und verstaut es hinter der Balkontür geht zum Wippauto geht hinter die Tür nimmt den Schemel packt damit das Wippauto steigt in das Wippauto brumm-brumm steigt wieder aus nimmt den Schemel vom Wippautogepäckträger trägt ihn durch die Balkontür ins Wohnzimmer zum Koffer nimmt den Schemel und eine Decke trägt Schemel und Decke zum Wippauto packt den Schemel auf den Wippautogepäckträger legt die Decke drauf krabbelt ins Auto hinein brumm-brumm steigt wieder aus nimmt Decke vom Schemel stellt Schemel und Decke auf Boden geht vom Balkon über die Schwelle ins Wohnzimmer zum Koffer findet darin ein Zweicentstück trägt es auf den Balkon stellt den Schemel und Decke auf den Wippautogepäckträger steckt das Zweicentstück durch den Eingriff vom Schemel krabbelt in das Wippauto und fährt
Jakob fährt mit Schemel Decke und Zweicentstück das Lastwippauto
Jakob nimmt Decke und Schemel vom Wippautogepäckträger
Jakob macht das Lastwippauto zum Wippauto
parkt das Wippauto auf dem Balkon
schenkt Schemel der Oma
die auch die Decke
Jakob geht
ab.

26.05.2005 12:42:05 

Schattenkabinett


schatt1

1. Elisabeth von Grevesmühlen (1846 – 1912)
Ministerin für Landwirtschaft, Umwelt- und Naturschutz

25.05.2005 15:03:56 

Dein Kinn, mein Arm, meine Hand, dein Gesicht, meine Hand, dein Kinn, mein Arm,


36 Grad sind wir warm.

20.05.2005 11:14:29 

Passover


This is a crisis I knew had to come
Destroying the balance I'd kept
Doubting, unsettling and turning around
Wondering what will come next

Is this the role that you wanted to live?
I was foolish to ask for so much
Without the protection and infancy's guard
It all falls apart at first touch

Watching the reel as it comes to a close
Brutally taking its time
People who change for no reason at all
It's happening all of the time

Can I go on with this train of events?
Disturbing and purging my mind
Back out of my duties, when all's said and done
I know that I'll lose every time

Moving along in our god-given ways
Safety is sat by the fire
Sanctuary from these feverish smiles
Left with a mark on the door

Is this the gift that I wanted to give?
Forgive and forget's what they teach
Or pass through the deserts and wastelands once more
And watch as they drop by the beach

This is a crisis I knew had to come
Destroying the balance I'd kept
Moving along to the next set of lives
Wondering what will come next

Joy Division

ianc
Remember Ian Curtis, 15. Juli 1956 – 18. Mai 1980

18.05.2005 10:36:00 

Dein Kummer mit Benn


Weine um die Wassertürme
ein fadenscheiniges Kleid
oder die gestrichene Galaxie

Trauere um tote Wörter
Marken, Orte der Vergangenheit
und das Schale an aller Magie

Heul doch — wenn du kannst —
heul doch in der Zwischenzeit
um dich, mich, dich und sie

Oder verzichte, das ist die Kunst
ein trauriges Lächeln bereit
hält vernünftige Melancholie

Ein Tag ohne Tränen ist ein Zufall
eine Gedankenlosigkeit
schon eine Manie


11.05.2005 15:28:33 

In Dassendorf im Regen


da bewachte mich
ein Einarmiger
mit einem Klumpfuß
er eilte mir schief
über Waldwege nach
und fluchte

hundert Meter vorm Friedhof
sah er mich, ich stand da
hielt mir die Nase zu
und schloss die Augen.
Noch durch den Mund
roch ich die Toten.

09.05.2005 13:09:23 

Kommenden Mittwoch vor dreißig Jahren


gen

03.05.2005 11:40:45 

(Regyn)


So haben wir also uns aufs Eis gerettet und haben alles, was wir zum Überleben brauchen, von Bord gerettet, nur unser Schiff, das haben wir nicht retten können, das ist untergegangen. Einen seltsamen Anblick bietet das neue Lager: Es sieht wie ein Schiff ohne Schiff aus. Denn es ist alles da: Deckshaus, Kombüse, Schornstein, Boote, Mast. Macks Hunde liegen faul in der Gegend herum, wie sie es an Deck getan haben, und wir gehen weiter unseren kleinen und großen Beschäftigungen nach. Auch wenn uns Shackleton mit Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft auf die Zelte verteilt hat, so bilden doch wie an Bord Matrosen, Heizer und Maschinisten eine Gruppe, eine zweite die Ärzte, Forscher und Künstler und eine dritte die Chefs, der Skipper, die Offiziere und Eisheiligen. Und genauso sind Green, der griesgrämige Koch, und ich, sein verbummelter Steward, eine Klasse für sich: Wir kochen für alle, bringen allen das Essen. Es ist kein Geisteressen bloß aus Wörtern, es ist echt, das heißt es schmeckt zwar scheußlich, aber es hält uns am Leben. Ab und an gibt es Hund, und nicht alle bringen es übers Herz, sich ein Stück von Sailor oder Shakespeare zwischen die Zähne zu schieben. Ansonsten aber ist es das gleiche Essen wie auf dem Schiff, nur mit dem Unterschied, dass es das Schiff nicht mehr gibt.

Als ich ein Junge war, wurde in Pillgwenllys Nachbarort Mynyddislwyn die alte Bethel-Kirche abgerissen, um die Newporter Docks auszubauen. Ich erinnere mich an das verwirrende Gefühl, wenn ich über den einen ganzen Sommer lang brachliegenden Platz rannte: Mit der Kirche schien dort auch die Zeit verschwunden zu sein. Besonders der eingeebnete Friedhof am Uskufer, über den der heiße Wind hinwegstrich, kam mir wie ein Zeitloch vor, in dem jede Stimmung unbegrenzt anhielt, ob ich traurig war oder froh. Zwischen den Ligustersträuchen zogen Regyn und ich uns nackt aus. Und die Krebse, die wir aus dem Fluss holten, wirkten mit ihren roten Stiefeln wie Räuberhauptmänner.
Den Gestank des Ligusters und den Geschmack der wilden Erdbeeren auf der Uferböschung haben wir nie mehr vergessen, auch dann nicht, als uns die Erinnerung an Mynyddislwyn peinlich geworden war. So sehr zumindest Regyn sich wünschte, die Zeit ausradieren zu können, das Gefühl aus diesem Sommer verging nicht, weder bei mir noch bei ihr.
Wenn die Zeit stillzustehen scheint, ist man von der Zukunft abgeschnitten. Man rettet sich dann entweder von Augenblick zu Augenblick, indem man wartet und hofft, dass einer gewillt ist, die Zeit mit dir zu teilen, oder aber man träumt sich in die Vergangenheit zurück, zu den Süßspeisen, den Erdbeeren, rot wie die Stiefel der Flusskrebse, oder zu einem Schiffsjungen namens Smith. Damals, als das Kind, das ich war, bedeutete mir die Gegenwart nichts. Ich spürte bloß, dass die Zeit stillsteht, und war nicht einmal verblüfft. Im Eis aber gibt es kaum Schlimmeres als zu spüren, wie die ohnehin verlangsamte Zeit ins Stocken gerät und gefriert. Deshalb notieren diejenigen, die auf der ENDURANCE Tagebuch führten, im Lager jedes Wort und jedes Zipperlein ihrer Schlafsackgenossen. An den Zeltstangen baumeln mit lauter seltsamen Zeichen versehen die Kalender, die die Evakuierung überstanden haben, und Wild und Worsley lassen es sich nicht nehmen, weiterhin täglich exakt Position, Lottiefe und Tempo unserer Scholle ins Logbuch einzutragen. Ein dicker Tintenstrich teilt das Buch in ein Vorher und Danach: Hier ging sie unter!
So vergeht der Dezember. Die Adventsonntage schmilzen zu einem einzigen Nachmittag zusammen, an dem es viermal Robbenbraten und Pinguinpudding gibt. Und jedesmal spielen die Geisterköche danach in meinem Zelt ein Wissensquiz mit denselben paar aus der Enzyklopädie herausgetrennten Seiten, die Hurley zur Polsterung der Negative in die Blechkanister gestopft und so vor dem Eis bewahrt hat: Was heißt "Ormolu"? Wo liegt "Ormoc"? Und eben sind das weihnachtliche Robbenragout und die Pinguinpastete verdrückt, als Bob Clark die entscheidenden Hinweise im kniffligsten der Rätsel erfragt: Wer war "Eleanor A. Ormerod"?
"War sie Wissenschaftlerin?"
"Ja", sagt Jimmy James.
"Wusst ich's doch! Biologin?"
"Ja", sagt Jimmy James.
"Ha! Erforschte sie nicht die Saurier?"
Gerechtigkeit widerfährt Mrs. Ormerod am Silvesterabend: Sie war nicht nur Insektenforscherin, sie war die Naturforscherin schlechthin, ja, liest Jimmy James vor, "sie war die Demeter des 19. Jahrhunderts."
Darauf stoßen wir bei Robbensteak und Pudding vom Pinguin an. Und schon ist 1916. Aber das macht keinen Unterschied.

In den ersten sechs Wochen nach Neujahr driften wir gute 200 Kilometer nach Norden. Die Paulet-Insel liegt nur weitere 250 Kilometer entfernt in nordwestlicher Richtung, doch noch immer liegen zigtausende Grate und Spalten zwischen uns und dem festen Land. Die Strecke könnte ebenso gut 2500 Kilometer betragen. Solange sich das Eis nicht öffnet und wir in die Boote wechseln können, sind wir an unsere Scholle gefesselt und treiben mit der Packeisdrift, wohin es ihr gefällt.
"Dinge, die es gibt, aber nicht gibt im Eis", heißt ein Spiel, das uns während dieser warmen Sommertage im Januar und Februar beschäftigt. Die Idee dazu stammt von Sir Ernest, den Unterhaltsamkeit und ausgleichende Wirkung des Enzyklopädie-Ratens nicht unbeeindruckt gelassen haben. Einmal, als ich Hurley und ihm Tee ins Zelt bringe und den beiden bei einer Poker-Patience über die Schulter schaue, ist Shackleton mitten in einer Glückssträhne und gewinnt auf dem Papier nach einem seidenen Regenschirm, einem Spiegel und einer Keats-Sammlerausgabe nun von Hurley auch das heiß umkämpfte Abendessen im Londoner Savoy. Ausgelassen gibt Sir Ernest zu, jede Form von Quiz zu verabscheuen. Doch für die Zufriedenheit der Männer will er gern in diesen sauren Apfel beißen.
Das Spiel geht ganz einfach: Einer denkt sich eine Sache aus, die es zwar irgendwo, aber nicht im Eis gibt, und die Anderen versuchen reihum, sie zu erraten. Da wir 28 sind, können wir zu jedem Begriff 27 Fragen stellen, um ihn einzukreisen und herauszubekommen. Der es schafft, erhält als Gewinn nach Wahl entweder einen Keks oder ein Stück von den letzten zwei Tafeln Schokolade. Schafft es keiner, erhält den Gewinn derjenige, der sich den Begriff ausgedacht hat.
Bereits in den ersten Runden stoßen wir auf Probleme. Eine hitzige Diskussion entzündet sich an der Frage, ob es im Eis Tannen gibt. Jock Wordie vertritt die Meinung, dass es innerhalb der Polarkreise keinerlei Bäume gibt, somit auch keine Tannen. Orde-Lees hält dagegen, dass Teile des Schiffes und der Schlitten aus Tanne gefertigt wurden, und so wie er die Sache sieht, bleibt Tanne Tanne.
Ähnlich ergeht es dem Begriff, mit dem Greenstreet ins Rennen um ein Stück Schokolade geht: "Gras". Er wird zwar nicht erraten, dafür aber abgeschmettert, als Doktor McIlroy seine eiserne Reserve aus der Brusttasche zieht, eine Viertelscheibe Weißbrot aus dem Grytvikener Backofen von Stina Jacobsen.
"Da ist gutes norwegisches Getreide drin, und Getreide, bester Mister Greenstreet, ist nichts anderes als Gras."
Ganz in Shackletons Sinn, erstreckt sich das Spiel über Wochen. Einige Male gibt es heftigen Streit, etwa zwischen Vincent und Orde-Lees um den Begriff "Grammophon". Vincent behauptet, es gebe kein Grammophon im Eis, seit unseres glücklicherweise mit der ENDURANCE untergegangen sei. Orde-Lees widerspricht. Niemand könne wissen, wo sein Grammophon jetzt sei. Vielleicht treibe es auf einer Scholle übers Meer. Vielleicht finde man es eines Tages wieder, unversehrt.
"Nein", sagt Vincent. "Es ist weg, für immer. Der Satan hat es sich wiedergeholt."
Wir beschließen, dass das Spiel nicht funktioniert. Doch schon am nächsten Tag sitzt eine kleine Gruppe wieder zusammen, und als die ersten Keksprämien ausgezahlt sind, kommen nach und nach alle wieder dazu und versuchen ihr Glück.
Hussey gewinnt, als er Cheethams "Hornissen" errät, Holie schafft es, seine "Tower Bridge" durchzubringen und ergattert ein Stück Schokolade, und für den größten Wirbel von allen sorgt ausgerechnet der seit der Tötung seiner Hunde so gut wie verstummte Tom Crean, als er nach 27 erfolglosen Fragen seinen Begriff offenlegt: "Amundsen".
Shackleton verkündet das Ende des Spiels, indem er eine Extrarunde ausruft. Sie soll einem einzigen Thema vorbehalten sein, Frauen.
"Jeder, der sich beteiligt und den Namen einer Frau nennt, die ihm lieb ist", sagt er, "erhält Keks oder Schokolade. Und weil dieser Butterkeks, dem kein Zahn fehlt, mich so anlächelt, will ich der erste sein und ihn mir verdienen."
Damit greift er in die mit gemalten Reitern, Hunden und Wäldern bunt verzierte Blechdose.
"Im Namen meiner Frau, Caroline Shackleton", sagt er und beißt unter unseren stummen Blicken in den goldenen Keks. "Und im Namen meiner Geliebten, ebenfalls Caroline Shackleton."
Der Erste, der es ihm nachmacht, ist der Skipper.
"Theodora Worsley", sagt der Käpt'n und nimmt einen Keks. "Mmhh! Jawohl, Gentlemen, so duftet sie!"
Und während wir noch lachen, langen schon Marstons Finger in die Dose und sind ebenso bunt von lauter Farbe. Kein Tag vergeht, an dem Marston nicht an Namen, Ziffern und Bildern malen würde, mit denen er die ihm zurückgebrachte antarktische Uhr schmückt.
"Hazel Marston, Gott schütze sie."
"Ja, George, das tut er", sagt Shackleton. "Da bin ich mir sicher."
Der Reihe nach fallen die Namen von Ehefrauen, Bräuten, Müttern und Töchtern. Einige zücken gar Fotografien der betreffenden Ladies und jungen Damen. Aber es gibt auch Geheimniskrämer.
So sagt der kleine Holness nur: "Rose."
Und Wordie meint: "Wer sie ist, wird nicht verraten, nur dass sie Gertrude Mary Henderson heißt. Gilt das?"
Jeder Name gilt. Bakewell bekommt sein Stück Schokolade für ein Barmädchen aus Brooklyn mit Namen Helga, Crean bleibt Stina Jacobsen treu, und Mick McIlroy kennt alle sieben Vornamen Ihrer Majestät, der Gattin unseres Königs: Mary Augusta Louise Olga Pauline Claudia Agnes Prinzessin von Teck.
Einer der letzten, die noch einen Keks ergattern, bin ich. Nachdem ich lange gezögert habe, ob ich überhaupt einen Namen nennen soll, ist mein Hunger nach etwas Süßem doch größer als mein Zweifel, und so folge ich der Stimme meines Herzens und sage zu meiner eigenen Überraschung den Namen meiner Schwester, Regyn.


Shackleton und ich, Drittes Buch: Die gefrorenen Bücher, aus dem 10. Kapitel: 28 Fische für das Lager der Geduld. Herbst 2004

02.05.2005 12:18:10 

Deutscher Dichter †


dpa. London, 26. 4. Der 35jährige Dichter Rolf Dieter Brinkmann ('Die Umarmung') ist in London von einem Auto überfahren worden. Er starb.

Aus der "Bild"-Zeitung vom 26. April 1975

*

Alka-Seltzer

Du kannst jetzt
weggehen
oder bleiben
meinetwegen
das ist im Grunde
gleich.

Rolf Dieter Brinkmann

26.04.2005 08:30:17 

Ich erinnere mich …


… an die Toten, grau lagen sie da oder gingen flüsternd an mir vorüber. "Erinnere dich meiner!" Wir sahen Helmut Kohl in seiner unsichtbaren Bodyguardsänfte durch den Buchmessenkorridor kommen und küssten uns im Moment, da seine ruhmgierigen toten zwei Augen vorüberglitten. Ich erinnere mich an Robert Creeley. Er flüsterte von Rage. Er schlich an den Wänden entlang und saß am Tisch wie ein Holzfäller unterm Baum der Erkenntnis.

25.04.2005 13:51:46 

Ich erinnere mich …


… an das goldene T-shirt, das sie anhatte, als ich sie zum ersten Mal sah, und das sie nie besessen hat, wie ich in der Zwischenzeit mit Sicherheit weiß.

22.04.2005 12:11:58 

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