ein bild

Ich erinnere mich …


… an die schwarze und schon beinahe Kohle gewordene Banane, die ich in meinem Schulranzen fand, und daran, wie ich sie zwischen zwei spitzen Fingern über den Schulhof trug und in den Mülleimer warf, daran, wie es in der darauffolgenden Stunde an der Klassenzimmertüre klopfte und zwei Mädchen aus der Parallelklasse im Türrahmen auftauchten, so plötzlich und unerwartet und verstörend wie am Ende von Antonionis "Blow Up" dieser Jeep voller Clowns und Verkleideter. Eines hatte in der Hand ein Papiertaschentuch und darin meine Banane, und das andere erzählte, was es mit der Banane auf sich hatte, und meine Lehrerin, die Frau Dr. Gittler hieß und die ich Frau Dr. Hitler genannt hätte, hätte ich nur etwas Böses geahnt und Namen für das Böse gehabt, Frau Dr. Gittler bat beide, ihr den Jungen zu zeigen, der die Banane weggeworfen hatte, ich erinnere mich genau an den Blick der beiden und wie ihre Zeigefinger auf mich wiesen und daran, wie ich aufzustehen, die Banane zu holen und sie vor der Klasse aufzuessen hatte, ich erinnere mich an mein glühendes Gesicht, an das Gesicht der Mädchen, an das Gesicht der Frau Dr. Gittler, ich erinnere mich an das Kreuz an der Wand unseres Klassenzimmers in Sch., ich erinnere mich nicht an den Geschmack der Kohlebanane.

20.04.2005 12:56:54 

Cook oder: Wo genau wir sind, wissen wir nicht genau


Greenstreets durch Mark und Bein fahrende und am Rand des Überschnappens zitternde Kommandos gehen nahtlos über in das ohrenbetäubende Jaulen der Winschen und Gerattere der Spille. Meter für Meter kommen die grünen Ketten an Bord. Bis mit doppeltem Knall backbord und steuerbord die beiden Ungetüme aus dem Wasser brechen und gegen die Bugwand donnern.
"Aaaanker geliiiichtet! Hooool Anker klaaaar!"
Abgesehen von den Heizern und dem Mann im Ruderhaus sind alle an Deck, als wir unter Sirenengeheul vom Ufer und siebzigkehligem Gekläff aus den Zwingern eine letzte Schleife um die Zerlegeplattform ziehen und dann langsam aus der Cumberland-Bucht hinaustuckern. Der Tag unserer Abfahrt mit Kurs auf die dem Weddellmeer vorgelagerten Süd-Sandwich-Inseln ist ein warmer wolkenloser Tag im subantarktischen Sommer, fünf Grad über null, der fünfte Dezember. Holness hat mir einen fliederblütenfarbenen Pullover vermacht, nicht zu dünn, so dass ich schön warm eingepackt bin, aber auch nicht zu dick, damit Moms Grego noch darüber passt.
Ein kleiner Trupp Wikingerwalfänger hat sich am Anleger eingefunden und winkt uns Wahnsinnigen zu.
"Hoiho, ihr Birkbeiner! Macht's gut!"

Vorbei am Hobartfelsen erreichen wir die Hauptbucht, und ich bin kaum einmal unten gewesen, um sicherzustellen, dass Green nicht schon nach mir fahndet, da liegen an backbord bereits Sappho Point und vor dem Klüverbaum die offene graue See. Stornoway, Hownow, Bakewell und die anderen jagen die Wanten hinauf, stiefeln über die Rahleinen und lassen die frischgebügelten Segel in den völlig verblüfften Wind knallen.
"Alles rauf!", donnert Greenstreet und meint seine Männer.
"Alles runter!", kreischt der Bos'n und meint damit die Segel. Denn wenn Vincent einen Mann meint, hört sich das anders an: "McCarthy, heb den Arsch zum Mast! Bakewell, such nicht dein Hirn, du hast keins, mach lieber die Taljen klar! Blackboro, geh lesen, aus dem Weg."
So unter vollen Segeln dahinrauschend halten wir uns dicht an der gezackten Schneeküste der Insel. Wo die Brecher nicht turmhoch gegen die Felsenklippen branden, liegen die Buchten, die einst Cook mit Namen versah, allesamt menschenleer, mit Stränden aus schwarzem Sand, über die Gletscher kriechen, bis die Last ihres Gerölls zu schwer wird und sie ins Wasser brechen und als Eisberg davonschwimmen. Bestimmt eine Stunde lang stehe ich trotz meines Blütenpullovers bibbernd an der Reling und kann mich nicht sattsehen am äußersten Rand von diesem Außenposten der Zivilisation, dem noch einmal gewaltig Krach schlagenden letzten Zipfel der Welt, an den es ausgerechnet mich verschlagen muss. Wie soll ich das finden? "Kap der Enttäuschung" nannte James Cook das südlichste Ende Südgeorgiens, als er entdeckte, dass es eine Insel ist und nicht Teil des sagenumwobenen Südkontinentes, den zu finden sein Geheimauftrag war. Wenn man von den endlosen Mühen liest, die der olle Cook auf sich nahm, um als erster Mensch so weit südlich auf dem Globus vorzustoßen, lässt sich seine Enttäuschung nachfühlen. Auch wo sie wieder ins Meer übergeht, ist die Insel eine baumlos nackte und farblose Einöde, ganz so wie man sich das Ende der Welt immer vorgestellt hat: Alles wird weniger und weniger, alles bis auf eines: Wasser! Und dann gibt es mit einem Mal nichts anderes mehr als die See. Dass ich dennoch nicht enttäuscht bin, liegt wahrscheinlich daran, dass ich den ganzen Monat auf Südgeorgien nie das Gefühl gehabt habe, ich würde unbekannten Boden betreten. Es kam mir vor, als hätte man mir die Möglichkeit gegeben, zur Küste meines Traums hinüberzurudern und sein Inneres zu erkunden. Und das war wunderbar. Aber im Gegensatz zu Cook weiß ich ja auch, dass es den riesigen Südkontinent tatsächlich gibt, dass er kein Traum, sondern so wirklich ist wie Südgeorgien.
Auf seine ekelhafte Art hat Vincent schon recht, wenn er mir seinen Spott ins Gesicht spuckt, denn in meinen Freistunden zwischen den Mahlzeiten sieht man mich nur noch selten ohne Buch. Nur was, bitte, kann ich dafür, wenn Shackleton mich nicht dazu anhält, im Schneidersitz zu Füßen meines Bos'n zu hocken und alte Signalwimpel zu flicken, sondern von mir verlangt, ich solle die Bücher, die ich so gewissenhaft sortiert habe, auch gewissenhaft lesen? Als er nach der Verabschiedung der Jacobsens an Bord kam, drückte er mir wortlos die Bibel an die Brust, und in seiner Kajüte hatte ich sie kaum an ihren Platz gestellt, da kam er türknallend herein und fing an zu nörgeln. Er war furchtbar schlecht gelaunt und ich wieder bloß der Dummkopf.
"Sie nehmen sich ein Buch und lesen es. In drei Tagen frage ich Sie ab."
"Yesser, gern, Sir. Haben Sie an ein bestimmtes gedacht?"
Hat er. Schließlich segeln wir in den drei folgenden Tagen auf derselben Route wie im Januar 1775 Cook mit seiner RESOLUTION.
Während wir Kurs Südost auf die Süd-Sandwich-Inseln nehmen und uns eine immer kleinere Zahl Vögel über die offene See begleitet, lässt Shackletons Anspannung zum Glück genauso nach wie die der Männer. Die Gespräche im Ritz kreisen allmählich seltener um Pastor Gunvalds Andeutungen von dem gewaltigen Krieg, der in Europa tobt, und auch ihre Enttäuschung über das ausgebliebene Postschiff vergessen die Männer langsam. Mit Erreichen des offenen Meers rücken eine Zeitlang wieder die vorhergesagten Eisverhältnisse in den Mittelpunkt des Interesses, aber weil sich das Schiff als unerwartet gut getrimmt erweist und wir auf einer ebenso unerwartet friedlichen See zwischen dem 55. und 56. Breitengrad schnelle Fahrt machen, mit keinem Eis in Sicht, nicht der kleinsten Scholle, kehrt Ruhe ein und vertieft sich allmählich ein jeder so in seine Arbeit wie ich mich in Cooks Logbücher der Reisen von 1768 - 1779. Auf halbem Weg zwischen dem Kap der Enttäuschung und der Sawodowskij-Insel, der nördlichsten der Süd-Sandwich-Kette, an einem diesigen Morgen, an dem sich die Trennlinie zwischen Himmel und Meer in weißem Nebel nur ahnen lässt, ist keiner der Vögel, die uns seit Südgeorgien gefolgt waren und sich auf unsere Rahen setzten, wenn sie ausruhen wollten, mehr da. Das Verschwinden seiner Vögel kommt mir wie der endgültige Abschied von Südgeorgien vor, und meine Wehmut an diesem Morgen wird noch stärker und treibt mir schließlich die Tränen in die Augen, als ich sie bei Cook wiederfinde: "Ländereien, die die Natur zu ewiger Kälte verdammt, die nie wärmende Sonnenstrahlen spüren und deren fürchterlichen und wilden Anblick ich nicht mit Worten beschreiben kann; solcherart sind die Länder, die wir entdeckten. Wie mögen dann aber jene aussehen, die weiter im Süden liegen? Wer immer die Entschlossenheit und die Ausdauer besitzt, diesen Punkt dadurch aufzuklären, dass er weiter fährt, als ich es getan habe, dem will ich die Ehre der Entdeckung nicht neiden, sondern vielmehr die Kühnheit haben zu sagen, dass die Menschheit daraus keinen Nutzen ziehen wird."

Vielleicht hat die Menschheit abgesehen davon, dass sie Millionen von Robben, See-Elefanten und Walen hat töten können, um wertvolle Felle, Fette, Öle und Knochen weiterzuverarbeiten, bislang keinen Nutzen aus der Erforschung der Antarktis gezogen. Ein ganzes Jahrhundert verdient seinem Fortschritt dem Blubber, der Fettschicht der in den Eismeeren geschlachteten Tiere, mit dessen Öl Maschinen auf der ganzen Welt geschmiert wurden und auch die Straßenlaternen von Wales und die drei von Pillgwenlly nachts schön hell brannten, damit mein Vater meine Mutter sicher nach Haus geleiten konnte, um im Schein einer Kerze aus Waltalg mich zu zeugen. Cook hat es kommen sehen: Männer, die weiter nach Süden fuhren als er, Entdecker, denen es nicht um Profit oder Fortschritt ging, haben es sehr wohl verstanden, dem ewigen Eis einen Nutzen abzuringen. Zum Beispiel Shackleton. Seine Expedition mit der NIMROD hat ihm Ruhm und Ansehen eingebracht, so dass er sogar geadelt wurde. Sein Lehrmeister Scott muss das wie einen Hieb ins Gesicht empfunden haben. Wurde doch nicht einmal Cook zum Ritter geschlagen.
Hätte unser Sir wirklich vor, nach Lehrermanier meine Lektüre zu überprüfen, so könnte ich etwa die Mangelerscheinungen herunterbeten, unter denen Cooks Männer litten, als an Bord der alten RESOLUTION der Skorbut umging:
"Fauliges Zahnfleisch,
blaugraue Flecken,
Hautausschläge,
Atemnot,
zusammengezogene Gliedmaßen,
trüber grünlicher Schleim im Urin, Sir!"
Doktor McIlroy hat seinen Spaß, als ich ihm die Stelle in Cooks Aufzeichnungen vorlese.
"Tja, da helfen auch Karottenmarmelade und Sauerkraut nicht mehr."
Während sein Kollege Mack die ruhigen Tage auf See dazu nutzt, seine Hunde zu trainieren, ist Mick einer der wenigen, die nichts zu tun haben und mehr schlecht als recht ihre Langeweile verbergen. Er ist der erste, bei dem Greens Vorhersage eintrifft: Kurz nach Verputzen einer Mahlzeit fängt er an, nach der nächsten zu fragen. Wir lungern also beide in Küchennähe herum, es ist bloß schade, dass man sich mit McIlroy nicht wirklich unterhalten kann. Denn was er beispielsweise über den Krieg denkt, ob England oder Wales zum Schlachtfeld werden könnten, oder für wie wahrscheinlich er es hält, dass es zu einem Luftkrieg kommen wird, das behält Mick für sich, er macht lieber einen lustigen Spruch: Es sei durchaus wahrscheinlich, dass das britische Rotkehlchen der deutschen Amsel ordentlich den Marsch blase. Insofern, ja, nach seiner Meinung unbedingt ein Luftkrieg.
Es ist noch Zeit bis zum Abendessen. McIlroy raucht lieblos einen Ablenkungszigarillo und fragt eher beiläufig, ob ich Parallelen zwischen Cook und Shackleton sehe. Das ist Micks andere Seite.
Ich bin mir nicht sicher. Auch Shackleton, damals noch dritter Mann unter Scott, hat der Skorbut fast umgebracht. Ich erzähle Mick also davon, wie Cook in dem Moment zusammenbricht, als er aus dem Eis zurückkehrt. Aus dem milden Kommandanten von früher ist ein dünnhäutiger, jähzorniger Tyrann geworden, Cook neigt zu drakonischer Bestrafung durch die neunschwänzige Katze. Und er verbirgt die mörderischen Schmerzen einer Gallenblaseninfektion.
"Autsch", macht Mick und bläst einen Rauchring.
Cook hungert so lange, bis er nur noch Haut und Knochen ist. Erst als der Naturwissenschaftler an Bord, der Deutsche Reinhold Forster, seinen geliebten Hund opfert, um den ausgemergelten Kapitän mit einer Mahlzeit zu stärken, setzt allmählich die ersehnte Genesung ein.
McIlroy überlegt eine Weile, bevor er sagt: "Gut, Hunde haben wir ja genug."
Der Zigarillo ist aufgeraucht, vom Abendessen noch immer kein Anzeichen. Vielleicht hat Shackleton eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Cook, dem selbstlos-steifen Pionier voller Skrupel. Die gehetzte Besessenheit, die den älteren Cook rauf und runter durch die Weltmeere trieb, hat eher Scott mit ihm gemein. Mick stimmt mir weder zu, noch ist er anderer Ansicht.
"DISCOVERY", sagt er bloß und mit Seitenblick auf Green, der zwar vorbeihuscht, aber noch immer nichts in Händen hält, keine Brotkörbe, nicht einmal Servietten. Draußen vor meinem Leseplatzbullauge sackt graue Finsternis auf graue See. Doch, das Abendbrot ist nicht mehr weit.
"Sicherlich kein Zufall, dass Scotts erstes Schiff genauso hieß wie Cooks erstes", meint Mick gelangweilt.
Er weiß nicht, und wahrscheinlich interessiert es ihn auch gar nicht, dass es sieben Discoverys gab und dass Scotts Schiff bloß das bislang letzte mit diesem Namen war.
Die Kommandanten der sieben herunterzurattern, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, um Shackleton Respekt abzunötigen. Dazu müsste er allerdings erst seine Drohung wahrmachen und meine neugewonnenen Kenntnisse überprüfen. Aber er hat wohl andere Sorgen.

Wir haben alle ein und dieselbe Sorge. Auch am kommenden Morgen, dem vierten seit Grytviken, ist kein Eis in Sicht. Sobald die Wolkendecke aufreißt, bestimmen Worsley und Buddha Hudson unsere Position, aber sie kommen immer wieder zum gleichen Ergebnis: Laut den Angaben von sowohl Jacobsens als auch Sørlles Männern müssten wir bereits seit anderthalb Tagen auf schweres Treibeis gestoßen sein. Doch vor uns liegt nichts als Wasser.
Shackleton steigt persönlich mehrmals am Tag ins Fass hinauf und hält Ausschau im beißenden, aber völlig schneefreien Wind. Im Ritz, wo sie sich aufwärmen, diskutieren der Sir und die Ranghöchsten die mögliche Fehlerquelle. Einen Navigationsirrtum schließt Worsley aus, er weist aber dennoch Uzbird und James an, das Besteck zu überprüfen.
Es ist tadellos. Und ob unsere errechnete Position stimmt, 56° 10' südlicher Breite und 28° 30' westlicher Länge, wird sich ohnehin binnen weniger Stunden herausstellen, dann nämlich, wenn am Horizont die Sawodowskij-Insel liegt oder nicht.
Der kleinste im Raum ist anderer Ansicht. Uzbird Hussey wartet mit den Luftdruckmessungen der vergangenen Stunden auf. Sie ergeben, dass ein schwerer Sturm, wenn nicht ein Orkan aufzieht. Shackleton kombiniert am schnellsten: Falls Uzbird recht hat, könnte der Sturm die Erklärung dafür sein, dass kein Treibeis da ist. Allerdings fegt wirklich bloß ein Orkan das Eismeer so sauber.
"Ich sehe noch ein anderes Problem", sagt Worsley. "Falls wir in Orkanwetter laufen, ist Sawodowskij in Sichtweite zu passieren viel zu riskant. Ich schlage vor, wir kreuzen Kurs West."
Shackleton stimmt zu für den Fall, dass der Sturm auch wirklich kommt. Noch wolle er die schnellstmögliche Positionsbestimmung durch die Sawodowskij-Insel nicht abschreiben. Damit löst er die Runde auf und geht zurück an Deck. Und kurz darauf sehe ich ihn wieder oben im Ausguckfass stehen. Cook ließ im Eismeer rote Mützen an seine Männer verteilen, rote Flauschjacken und Hosen aus rotem Flanell. Shackletons Kapuzenjacke ist schwarz, und fast genauso schwarz wird in Minuten der Himmel, als Husseys Sturm kommt.
In dieser Nacht opfern Männer Neptun, von denen ich nicht im Leben gedacht hätte, dass sie noch seekrank werden könnten. Ein Monat an Land reicht aus, so scheint es, und eine Bootsgeburt wie Vincent kübelt sich über der Reling die sieben Sinne heraus. Im Wasser leben die Fische und was alles sonst Flossen hat. Und über die See sausen die Biester mit Flügeln, da hausen die seligen Vögel. Aber auf dem Wasser lebt keiner, nichts und niemand. Da treibt bloß totes Zeug, Algen und Planken, Müll und Kadaver. Und irgendwo westlich von den Süd-Sandwich-Inseln, die so unsichtbar sind, wie sie es Jahrtausende lang waren, treibt jetzt auch der versammelte Auswurf der Männer von der HMS ENDURANCE.
Der Sturm ist heftig. Hagelböen zerhauen zwei Segel, so dass How und Bakewell aufentern müssen und sie von den Rahen schlagen. Mit dröhnendem Gong fährt der Sturm in die über den Masttoppen auf und ab rauschende Kuppel aus Leintuch und trägt sie davon. Und kaum sind die beiden Jungs zurück auf den Wanten, bricht die Rahe, auf der sie eben noch hinaus über die Wellen balanciert sind, aus ihrer Verankerung und kracht, Spieren und Takelwerk mit sich reißend, in den Riggbunker.
Doch so heftig wie der Killer, der der JOHN LONDON den Garaus gemacht hat, ist Husseys Sawodowskijsturm nicht. Dagegen ist er ein Lüftchen. Man merkt, er hat einen Willen. Er will uns mal zeigen, was Polarluft ist, und das tut er ordentlich, indem er alle Register zieht, Fallwinde, haushohe Brecher, Hagel und Schneeböen. Er ist ein akkurater Orkan, der zu Ende bringt, was er angefangen hat, aber der auch genauso schnell wieder aufhört, wie er begonnen hat. Der Hurrikan vor Montevideo war ein Inferno, ein unerklärter Krieg zwischen Wasser und Luft, in dem sinnlos zerstört wurde, was immer seine Bahn kreuzte.
Als bei allmählich aufklarendem Wetter Kapitän Worsley die erste sichere Positionsbestimmung gelingt, errechnet er, dass uns der Orkan um genau zwei Breitengrade weiter südwärts getragen hat. Stimmt die Berechnung, haben wir Sawodowskij, Ljeskow, Wisokoi und Candlemas im Westen passiert, ohne nur eine von den vier Inseln zu sichten, und befinden uns jetzt auf halbem Wege zwischen dem Saunders- und dem Montagu-Eiland. Bereits die Hälfte der vor dem Weddellmeer in der See liegenden Sichel aus Vulkaninseln hinter uns gebracht zu haben, wäre die beste Nachricht seit Beginn der Reise. Doch wir haben noch immer kein Land gesehen, und immer noch gibt es kein Eis. Worsley nimmt es mit Humor, muss aber eingestehen, dass, wo genau wir sind, wir nicht genau wissen.
Wir beseitigen die Sturmschäden. Aufs Vorderdeck gestürzte Teile der Rigg haben ein Zwingergelass zertrümmert. Zwei der Hunde wurden erschlagen, die Crean und Doktor Macklin bestatten müssen. Es tröstet die beiden wenig, dass inzwischen mindestens drei Weibchen trächtig sind. Sie schnüren die Kadaver in zwei alte Seesäcke und lassen sie über die Reling ins Wasser hinab. Es waren zwei der unauffälligeren Hunde, die sich im Zwinger gut vertrugen und die Crean und Macklin, weil sie fast gleich aussahen, Jakes und Jones nannten.
Als Land ausgerufen wird, sitze ich gerade an meinem Bullauge und lese. Den Cook habe ich schon vor Tagen abgeschlossen, jetzt stecke ich bereits tief im 19. Jahrhundert, bei Robbenjägern, die zu Forschern und Entdeckern werden, bei Weddell und von Bellingshausen, die sich hundert Jahre vor Scott und Amundsen einen ganz ähnlichen Wettstreit liefern und den Ruhm schließlich teilen: Weddells JANE und BEAUFOY stoßen in das nach ihm benannte Meer vor, von Bellingshausens WOSTOK und MIRNIJ gelingt die nach Cook zweite Umrundung des Kontinents.
Man muss nicht immer der erste sein. Ich bin einer der letzten, die in der Jacke sind und an der mit einem Eisfilm überzogenen Reling stehend dieses nur aus Schnee, Eis und einem umbrandeten Felssockel bestehende Gebilde bestaunen, das sich im Osten aus dem grauen Meer erhebt.
Ist es Montagu? Die Chefs sind sich nicht sicher. Einige von den Eisheiligen sind vor Jahren hier vorbeigesegelt, aber keiner hat Montagu je groß beachtet. Cheetham schnappt sich Greenstreets Fernglas und erklärt, das Gerät noch vor den Augen, die Insel zur Montagu-Insel: Sie habe drei in etwa gleich große südliche Buchten mit je einem größeren Felsen, außerdem Kolonien von Kehlstreifenpinguinen, so weit das Auge reiche. Saunders im Norden habe keine Südbuchten, Bristol im Süden dagegen lasse sich leicht an dem ihr vorgelagerten Freezland-Felsen erkennen. Was wenn nicht Montagu also soll es sein?
Shackleton befühlt sich den inzwischen stattlichen Eismeerbart und wechselt Blicke mit dem Skipper.
"Kehlstreifenpinguine, was, Alf?", spottet Worsley und versetzt Cheetham im Weggehen einen Schlag auf den Rücken.
Alf Cheetham ist buff: "Kehlstreifenpinguine, aber natürlich! Was gibt's da zu lachen?", ruft er Worsley hinterher. "Guck doch selbst durch, wenn du's nicht glaubst. Die hocken da, Millionen davon!"
Shackleton ist bereit, die Insel vorläufig als Montagu durchgehen zu lassen. Er legt einen Arm um den völlig verdatterten Cheetham.
"Falls wir morgen Bristol Island passieren", sagt er, "muss er dir einen ausgeben. Okay? Sei nicht sauer!"
Aber kaum dass sich Cheetham davongemacht hat und Trost sucht bei seinen Hunden, ist es Greenstreet, der sein Fernglas noch einmal auf die Insel richtet und dem Shackleton zustimmend zubrummt, als er sagt: "Könnte auch die Bouvet-Insel sein, Sir. Was hieße, das wir uns völlig verfranst haben. Ich glaube es nicht, aber möglich ist es."

Am Morgen, der die Entscheidung bringt, ob wir auf dem besten, bislang sogar eisfreien Weg in Richtung Weddellmeer sind oder ob wir seit einer Woche Kurs aufs Nirgendwo halten, ein Morgen, an dem den meisten der Appetit vergangen ist, sitze ich wieder allein mit dem seelenruhig sein Frühstück mümmelnden McIlroy im Ritz. Ganz kalt kann auch ihn unsere missliche Lage nicht lassen, weshalb er mich fragt, ob ich wisse, woher die Inselkette diesen Namen habe: Südsandwich. Ob er daher rühre, dass die Inseln zwischen Südamerika und der Antarktis liegen, praktisch wie eine Scheibe Schinken?
Ich weiß nicht, ob er die Frage ernst meint oder ob er mich bloß aufziehen will. Inzwischen gibt es so einige Herren an Bord, denen es auf die Nerven geht, wenn ich beim Tischabräumen kurz einstreue, was Cooks Männer früher aßen, oder wenn ich auf den Zuruf, ein Schiffsjunge solle mal nicht so eine große Lippe riskieren, antworte, es sei Cooks Schiffsjunge Nicks gewesen, der sowohl Australien als auch Neuseeland entdeckt habe. Green fand es zwar lustig, als ich ihm erzählte, dass auch Cooks Astronom Charles Green hieß, aber er will nichts mehr von meinen Büchern hören, seit ich ihm in einem Wortgefecht an den Kopf geworfen habe, dass Cooks Green auf See an der Ruhr starb und dass er sich das ruhig gesagt sein lassen solle.
In McIlroys Miene erkenne ich keine bösen Absichten; er scheint einfach bloß froh zu sein, dass er die Frühstückstafel für sich allein hat und ein bisschen plauschen kann.
"Beide", sage ich deshalb, "das Brot und die Inseln sind, soviel ich weiß, nach irgendsoeinem Lord benannt."
"Aha", macht er mit vollem Mund. "Wieso das?"
Ich zucke bloß mit den Achseln und beginne abzuräumen. Der vierte Lord of Sandwich, der mit Vornamen John Montagu hieß, der große Mann hinter Cook, muss warten, bis er dran ist. Denn plötzlich zieht es mich an Deck, vielleicht weil es auf dem Schiff mit einem Mal völlig still ist.
Ich schlüpfe in die Jacke, lasse - "Was'n los?" - Mick allein sitzen und steige hinauf. Ein Blick im Freien über die Schultern der an der Reling versammelten Männer genügt und ich weiß, was passiert ist. Dort ragt eine Insel aus dem Nebel, sie ist kleiner als Montagu und sie hat einen vorgelagerten Felsen: Es sind Bristol Island und der Freezland Rock. Doch dahinter, dort wo sich die Passage öffnet, die Cook nach seinem deutschen Wissenschaftler und dessen Sohn die Forsterstraße nannte, liegt noch etwas. Strahlend weiß, mit pulsierend aufleuchtenden blauen Schründen liegt sie da wie eine vergessene, übersehene Küste.
Die Packeiskante.

Shackleton und ich, Buch II, Die ausgelassene Küste, Kapitel 9. Sommer 2004

20.04.2005 11:13:49 

Ohne Grund


Für Thomas Kling

Man will sich ja kein Schiff aus Tränen bauen
ohne Grund.
Du könntest deinen Jammer verstauen,
Tanks mit Bitterkeit füllen und
heiho, Korsar,
dich dem salzigen Meer der Trübsal anvertrauen.
Containerfreibeuter –
könnte man sein und
heulend an der Reling in die Ferne schauen.
Da flimmert eine gläserne Küste.
Leben bricht dir den Vertrag,
Tod durchkämmt die Heuerliste
ohne Grund.
Ein Schiff aus Tränen könnte man sich bauen.

15.04.2005 21:02:39 


tans

Mark Tansey: "Judging"

(Noch bis 24. April im Museum Kurhaus Kleve)

08.04.2005 13:31:44 

Durchs Bild


Es langt, Weichling, steh auf,
und wirf einen Blick hinaus:
da wird ein Film gedreht,
März in Kleinportugal —,
Männer in Windjacken,
die Antenne am Ohr,
tigern auf und ab.
Genug, lass gut sein,
ein plötzliches Erröten,
und es war einmal.

Schlüpf aus dem Haus …
Schon blafft einer dich an,
der Kleine auf dem blauen
lächerlichen kleinen Kran.
Möwen segeln durchs Bild.
Die Umbaupause. Jetzt,
geschenkt ist der Tag —
Sags der dunklen Kamera,
Schnecke, sag: Nie wieder,
was ich nicht mehr mag.

06.04.2005 11:26:59 

Zum Tod von Thomas Kling


Ich trauere um Thomas Kling. Seine Gedichte, seine Stimme, seine poetologischen Aufrisse haben mich seit fünfzehn Jahren begleitet, kirre gemacht, zweifeln lassen und angespornt. Keiner passt in diese Lücke.
So unverschämt und beißend, so kalt und arrogant er manchmal daherkam, er war es nie wirklich. Allein mit ihm, wurde er sanft, und die Anwürfe zeigten sich ohne die Maske, sie waren wachstes Interesse.
Nun, lieber Thomas, hört wahrlich auf der Stelle jede Korrespondenz auf. ("GEKAPPT!")

04.04.2005 10:42:41 

1909


"Er wird jetzt fliegen, nichts ist natürlicher." Franz Kafka

Vor Gewittertrümmern eines Hangars
raucht die Königin,
zwölf Silberschnallen auf dem Rücken.

Autobusse schaukeln querfeldein
zum Luftschiff über den Melissenbüschen,
bei den Buden parken die Propellerwagen,

und ein erster Doppeldecker
rollt ins Licht, ein safrangelber Spinner.
Toscanini,

der Maestro, er will helfen,
den Aeroplan auf die Brughiera schieben,
aber niemand lässt ihn.

Curtiss fliegt zwei Kilometer weit in Strauchwerkhöhe,
in den Berberitzen singt ein Zilpzalp
und Puccini lacht und lacht.

Könige von Prag
in der letzten Dampftram,
Motten, ganze Schwärme überm Gardasee.

Tage, Täler, Böhmen,
Böhmen ist aus Luft,
knatternd kommt der Morgen aus den Wolken.


21.03.2005 10:26:29 


Der Text wurde autorisiert gelöscht am 22.03.2005 10:51:31.

20.03.2005 11:15:27 


geist

"SYLVIA! SYLVIA! SYLVIA!"

15.03.2005 12:32:49 

Nesselgesang


Warum glimmen? Fang Feuer!
Was ist versunken? Die süße Stunde,
alle Häfen, die Ecken —
In Falten wird’s dunkel!

Die Rose brach,
ich bin am Fiebern.
Führ mich zu Hyazinthen,
ich renn zu den Samen.

Was liegt dir am Herzen?
Gletscher, Gletscher,
ein seltsames, böses Verhungern,
der winzigste Sturm.

Was macht dich reich?
Pfützen und Disteln,
zerplatzte Früchte, derlei Aschen,
wild wie ich wünsche.


(Emma Lew)

14.03.2005 14:38:28 


earthbee

Beeing

08.03.2005 10:31:29 

Sieh hin


Er belügt dich, in leeren Augen wirst du's sehen,
er betrügt sich selbst um eine Vogelkontur.
Die lausigste Krähe ist schon eine Weihe,
jeder Blitz gilt nur ihm,
so rettungslos ist er verlogen
und verloren.

Er betrügt sich um die Sicherheit des Zufalls,
die deine ist, die freie Sachlichkeit.
Mit blauen Augen wird er sie verklären,
erst heilig, dann klebrig
wird er dich sprechen wollen
und sprechen.

Er lügt, weder bist du ein Naturschauspiel
noch Braut in der Hölle, und er kein Teufel.
Bleib du, sieh hin. Er kann nicht sehen,
dass immer etwas kommt,
das selbst so einen retten will
und rettet.

28.02.2005 10:44:41 

Bush in Mainz


Dope, Guns
Fucking in the Streets
Revolution.

23.02.2005 13:54:30 

Black-Eyed


I was never faithful
And I was never one to trust
Borderlining schizo
And guaranteed to cause a fuss
I was never loyal
Except to my own pleasure zone
I'm forever black-eyed
A product of a broken home

I was never faithful
And I was never one to trust
Borderline bipolar
Forever biting on your nuts
I was never grateful
That's why I spend my days alone
I'm forever black-eyed
A product of a broken home
Broken Home

Black-eyed! Black-eyed! Black-eyed!
Black-eyed!! Black-eyed!! Black-eyed!!

I was never faithful
And I was never one to trust
Borderlining schizo
And guaranteed to cause a fuss
I was never loyal
Except to my own pleasure zone
I'm forever black-eyed
A product of a broken home
Broken Home

Black-eyed! Black-eyed! Black-eyed!
Black-eyed!! Black-eyed!! Black-eyed!!

Black-eyed. Broken home.
Black-eyed. Broken home.
Black-eyed


Placebo

23.02.2005 11:32:20 


ajwherehe

Arthur Johnson: "Where He Lived and Where He Died" (2002)

21.02.2005 10:52:08 

Sommerwind


Als ich in den zwei Hohlwegen nach Spuren suchte,
fand ich keine: In der Mulde das zerrissene Kabel
lag nicht mehr da. Die Tragtasche, voller Stricke,
das abgestreifte Paar Schuhe, von dem man las,
lang in Verwahrung. Wespen in den Hortensien.
Die Brombeerhecke. Heruntergelassene Rolläden.
Das Licht in der Garage seit Tagen und die Geräte,
liegen geblieben im Garten, alles ließ sich deuten
als Schmerz derer am Leben. Sommerwind, heiß,
und ich fand die Namen, sie waren reines Feuer.

1990 / 2005

15.02.2005 16:08:51 

Sommerwind


Als ich in den zwei Hohlwegen nach Spuren suchte,
fand ich keine: In der Mulde das zerrissene Kabel
lag nicht mehr da. Die Tragtasche, voller Stricke,
das abgestreifte Paar Schuhe, von dem man las,
lang in Verwahrung. Wespen in den Hortensien.
Die Brombeerhecke. Heruntergelassene Rolläden.
Das Licht in der Garage seit Tagen und die Geräte,
liegen geblieben im Garten, alles ließ sich deuten
als Schmerz, Schmerz derer am Leben. Sommerwind,
heiß, und ich fand die Namen, sie waren rein wie Feuer.

14.02.2005 13:06:12 


aje

Arthur Johnson: "Iye" (2001)

07.02.2005 10:46:52 


ajlm

Arthur Johnson: "Love Mountains" (1999)

02.02.2005 12:30:51 

Stipendium


Zwischen den zwei aufgebockten Trucks
der Wäscheständer mit Plane,
mein Zimmer von Felge zu Felge.

So wunderbar, die Vögel
surren über kahle Wälder,
Wildgänse und Schwäne.

Der Lehmboden duftet,
es ist weich, und ich bin nicht allein.
Die Pferde der Hölle

suchen nach Brombeeren. Morgen,
vielleicht ja, vielleicht nein,
ein Ritt zur Schrottgrenze.

Ich habe die Bücher
und presse sie an mich,
solange es regnet.

Für H. R.

31.01.2005 10:48:15 

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