Sitzen, Denken, Leben
Vier Motive, in einer Aufzählung aneinandergereiht, die man wohl in hunderten Erzählungen finden kann: Lug und Trug und Rat und Streben. Immer wieder wird jemand in der Literatur hinters Licht geführt, immer wieder geht es um jemandes Streben, ein/e große/r xy zu werden und dabei auf jemanden zu hören oder eben nicht. In Silvia Bovenschens posthum erschienenem Roman, der diesen Titel trägt, wird aus den vier zeitlosen Motiven eine Geschichte gewoben, die über Beziehungen und Einsamkeiten, Altern und Geistesgegenwart viel Kluges, Witziges, Berührendes auf eine sehr lebendige Weise zu erzählen hat.
Im Mittelpunkt steht die Familie Lupinski: Agnes, deren Tante Alma, ihr einstiger Liebhaber Mr. Odino, Agnes’ Neffe und Almas Enkel Max, Almas Schwager Bärentrost. Dass sie nicht mehr oder noch nicht so „ganz im Leben stehen“, in geordneten Verhältnissen mit klaren Plänen, ist, was sie eint.
Die Männer sind Sonderlinge: Max mag keine Smartphones und Tablets, will nicht mit seinem Vater und dessen neuer Frau nach Florida, sondern träumt davon, ein Wolf zu werden. Unten im Souterrain analysiert Großschwager Bärentrost, vom Schnaps befeuert, die Gesellschaft, deren Vertreter er von dort nur bis zum Oberschenkel kennen kann. Mr. Odino, emeritierter Altphilologie-Professor mit ordentlicher Pension, dem man seinen Vornamen Gotthelf aus der Nase ziehen muss, versucht Alma zurückzugewinnen und zieht dafür auf den Dachboden des Hauses. Agnes und Alma reflektieren unentwegt ihr Leben und ihre Zeit, grübeln sich aus ihren beengten Wohnverhältnissen in die Vergangenheit oder spielen Szenarien der Zukunft durch. Beide sind nicht wirklich zufrieden, wie das Leben verlaufen ist, versinken aber auch nicht in Selbstmitleid und Nostalgie. Das widerspräche auch der Erzählhaltung des Romans, denn er erzählt mit Tempo: Es gibt viele kurze Kapitel, oft folgt Hauptsatz auf Hauptsatz, ein, zwei Seiten sind eine ganze Szene. Bovenschens Sprache ist dabei aber alles andere als karg und der Text nicht der Schnelldurchlauf eines Reißbrettplots. Die Figuren grübeln viel, versumpfen aber nie in zähem Gedankenbrei, nie ergötzt sich das Erzählen an sich selbst in manieristischen Beschreibungen. Dafür bleibt den Figuren die Zeit nicht, dafür wollen sie noch zu viel.
Nach einem Vorspiel folgt man zunächst Agnes, die in der Küche sitzend auf SMS wartet, sich über Küchendesign echauffiert. Nach und nach treten die anderen Protagonisten hinzu. Nicht selten spielt dieser Roman im Sitzen. In einigen Passagen kommt der Eindruck auf, die (äußere) Entschleunigung erst lässt die Protagonisten denken und erkennen. Die Welt wird nur verstanden, wenn man nicht ganz mit ihrem Tempo mithält. Allerdings ist der Roman auch kein Kammerspiel: Später unternehmen Alma, Odino und Max einen Ausflug in die Provinz nach Mispelheim, wohnen einem Mummenschanz bei, in der Dorfkneipe wird ein Pudel massakriert, ein Eremit taucht auf. Das Buch schließt mit einem Traumbild Almas über das „Schriftgeisterschiff“.
Bovenschens letztes Buch zeigt eindringlich, wie in einem realistischen Familienroman erzählerische Geistesgegenwärtigkeit gelingen kann. Es kann traurig, es kann komisch, kann klug sein. Es ist Lebenschreiben.
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Lug und Trug und Rat und Streben
Der von Bovenschen gewählte Buchtitel kann als Anspielung auf Bachs Kantate BWV 147 „Herz und Mund und Tat und Leben“ gelesen werden. Bei „Lug und Trug“ handelt es sich ebenso wie bei „Herz und Mund“ um eine Zwillingsformel. „Rat und Streben“ gleichen „Tat und Leben“ sowohl in der Wahl und Reihenfolge der Vokale (Assonanzen) als auch – dies gilt für den gesamten Titel – hinsichtlich der Silbenzahl und des Metrums.
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