Durchzug eines Fragezeichens
Dass Ulrich Zieger im Juli 2015 dreiundfünfzigjährig verstarb, just so knapp nach dem Erscheinen seines großen Romans "Durchzug eines Regenbandes", an dem er, wie es heißt, die letzten zehn Jahre gearbeitet hat, ist ein Unglück. Der Buch ist ein weitläufiges Labyrinth, und würde sein Verfasser noch leben, würde man wohl auch sagen: Ein Versprechen.
Schon auf den ersten Seiten macht uns Zieger klar, wo in "Durchzug eines Regenbandes" der Hammer hängt: Eine Rahmenerzählung wird ausgebreitet, gleiche mehrere unzuverlässige Erzählerstimmen, wie Matrjoschkas eine in der anderen nestelnd, installiert; das sukzessive Enthüllen und verrätselnde wieder-Zurücknehmen von Informationen (auch über das Setting) endet nicht und nicht. Zunächst drängt sich beispielsweise angesichts fiktiver, phantastisch benannter Figuren, Völkerschaften und Schauplätze der Verdacht auf, man könnte zumindest den ersten Teil schlicht als Schlüsselerzählung lesen, und zu klären bleibe nur noch, um welchen realgeschichtlichen Vorgang oder um welche bestimmbare gesellschaftliche Theorie es da "eigentlich" gehe. Aber so taxfrei lässt sich nichts in "Durchzug eines Regenbandes" auf einen einzelnen Punkt bringen. Nach spätestens zwanzig Seiten Verwirrspiel stellen wir fest: Diesen Roman hier müssen wir at face value nehmen, und sehen, wohin uns das führt. Auf derlei muss man sich als Leser auch einlassen wollen, damit es glückt - ein gewisses Mindestmaß an Verführbarkeit setzt das Buch voraus. Zum Glück bietet es uns auch genug unterschiedlichstes Material, an der diese sich entzünden kann.
Zwar ist zumindest der zweite der drei Teile von "Durchzug eines Regenbandes" historisch klarer verortet - DDR, "Tal der Ahnungslosen", Neunzehnsechziger/-siebziger - aber das heisst nicht, dass er in sonstiger Hinsicht "realistischer" wäre: Das Dresdner Hinterland bei Zieger ist ein untertunnelter, uralt-Grimm'scher Märchenwald.
Nicht nur die Insistenz auf den Einbruch des Surrealen in die Wirklichkeit ist sympathisch unzeitgemäß, auch die Insistenz auf eine durch und durch kontrollierte Sprache, orientiert erstens an der Hochblüte des bürgerlichen Romans und zweitens der romantischen Novellen etwa Tiecks. Kontrolliert heisst: Dass bereits im Tonfall und in der Auswahl jener einzelnen Elemente einer Szenerie, die explizit genannt werden, viel mehr determiniert wird, als es zunächst den Anschein hat. Hinzu kommt eine Flut an offenen und versteckten Referenzen auf Werke des Films, der Literatur, der bildenden Kunst. Doch diese Verweise so zu interpretieren, als wäre "Durchzug eines Regenbandes" zunächst ein "Roman über die Kunst", erfolgt auf eigenes Risiko. Ist er nämlich nicht. Er ist vielmehr eine Einladung zum breit angelegten Schwelgen in den Möglichkeiten der strengen Form (zu denen dieses oder jenes Meta-Dings dann eben dazugehört, ohne erschöpfend das "Eigentliche" auszumachen).
Was ich nicht schaffe, ist, nachzuerzählen, worum es geht. Also: Überhaupt nicht. Gar nicht. Das verdankt sich den häufigen Verwandlungen (und anderen Zauberkunststücken) ebenso wie der Mannigfaltigkeit an side-stories, die jeweils, wenn sie auftreten, meine gespannte Leseenergie voll auf sich ziehen - und bei denen man sich auch nie, nie, nie sicher sein kann, dass nicht just diese eine hier, die gerade unvermittelt anfängt, den "Hauptstrang" von vorhin, oder was man dafür hielt, vorantreiben wird. Der Effekt dieses demokratischen Neben- bzw. Nacheinander: In Bann geschlagene Leser, unfähig, zu rekapitulieren, was es noch einmal war, das da genau geschehen ist. Grob gesprochen gibt es drei Stories, die in alle Richtungen ausfasern: Die Rahmen-im-Rahmen-im-Rahmen-Geschichte über die Insel mit der Papierkleidung; die DDR-Geschichte (sagen wir "Mond über Dresden"); die Sache mit dem Maler und dem Kommissar, Jahre später im Westen.
"Durchzug eines Regenbandes" ähnelt hierin einigen der Filme von Hayao Miyazaki - die (z.B.) Fünfakt- oder Großroman-Struktur bleibt gewahrt, obwohl die Identität der Protagonisten, ihre Rolle im Gespinst, die Folie sich jederzeit ändern kann. Würde ich gezwungen, Miyazakis "Wandelndes Schloss" zusammenfassen, käme ich an einer bestimmten Stelle nicht umhin, zu sagen: "Und dann ist die mächtige böse Hexe plötzlich eine liebe sehr alte Frau, und das kleine Mädchen, das vorhin gegen sie gekämpft hat, ist jetzt erwachsen und pflegt sie." Das würde im Kontext Sinn machen. Auf ähnliche Weise kann man vielleicht ein Teil des Grundgerüsts von "Durchzug eines Regenbandes" so fassen: "Die Frage des Journalisten Norden, ob Schab (der eventuell der Teufel persönlich war) wirklich tot ist, ist später die Frage nach dem Verschwinden jener alten Dame in Dresden, aber eigentlich geht es in beiden Fällen um die Frage, ob die Menschheit mit der Moderne ihre Unschuld verloren hat." Oder so ähnlich. Ich zweifle keine Sekunde, dass alle Elemente zu einer erheblich lineareren Nacherzählung, alle Hinweise, Hints und Plotpoints der "eigentlichen" Stories irgendwo in dem Wälzer zu finden sind - aber für sie fehlte mir angesichts der barocken Ausgestaltung des Ganzen, des Detailreichtums schlicht die Geduld. Um sie geht es (zumindest mir) nicht wirklich, und "Durchzug eines Regenbandes" gestattet mir das. Mir hat es völlig genügt, mich der surrealen Parade Ziegers auszusetzen, und ich werde das auch wieder und wieder tun. Vielleicht, dass ich beim fünften oder sechsten Mal die Handlung aufzusagen weiss.
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Kommentare
Durchzug eines weiteren Fragezeichens
Mir geht es ähnlich dem Rezensenten: Ich warte auch auf jenen K(l)ickmoment, wo ich oder jemand anders, von mir aus auch der Roman selbst, sagt, was ich da eigentlich für eine Geschichte wieder und wieder vor mir herlese. Wo seit ihr Geschichtenversteher?
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