Für die Verantwortung
Am 13. November haben islamistische Terroristen Dutzende Menschen in der Pariser Innenstadt ermordet. Auf dieser Webseite äußerte sich Martin A. Heinz am Tag danach in einem Kommentar. Sein Text läuft Gefahr, der Ideologisierung der Morde durch die islamistischen Terroristen auf den Leim zu gehen, und wird dadurch den Taten nicht gerecht. Er untergräbt durch seinen breiten Pinselstrich außerdem die Bemühungen der vergangenen Wochen und Monate, im Umgang mit Flüchtlingen und überhaupt mit jenen, die uns fremd vorkommen, Fürsorge und Nächstenliebe zum Tragen kommen zu lassen. Seine Wortwahl ist teils nah an den Metaphern der politischen Rechten.
Der Kommentar ist menschenfern. Die Rede ist von der „Masse“ und vom „Kapitalismus“. Es wird ein „Wir“ als Protagonist des „reichen Westens“ postuliert, der als „neofeudale“ Macht weltweiten Schaden anrichtet. In dieses „Wir“ werden Politiker, Agrarlobbyisten und Versicherungsbosse ebenso einbezogen wie Bürgerinnen und Bürger aus der Mittelschicht, zu der vermutlich auch der Autor und viele Leser dieser Webseite gehören; manche von diesen sowie die Marginalisierten der westlichen Länder seien nur zu naiv zu erkennen, dass sie an diesem „Wir“ gar keinen Anteil hätten, das in ihrem Namen handelt. Zu diesem „Wir“ gehörten außerdem Pegida-Relativierer und Scharia-Versteher, die sich, wenn man die Ellipsen des Kommentars so deuten darf, der herrschenden „neofeudalen“ Ideologie mindestens ungewollt zum Diener machen. Wie das vonstatten geht, bleibt unklar. Dieses „Wir“ als Ganzes werde nun jedenfalls zum Opfer eines „Zurückschwappens“ von Aggressionen, die vom Westen ausgegangen seien. Die Metapher ist dem rechtspopulistischen Diskurs entlehnt, der von Lawinen und Fluten spricht statt von Menschen.
Durch die Unschärfe des postulierten „Wir“ werden die Opfer von Paris für ihre Ermordung indirekt selbst verantwortlich gemacht. Der Kommentar grenzt sie nicht von dem aggressiven und auch nicht von dem naiven, politisch korrekten westlichen „Wir“ ab; er sieht sie also als Kronzeugen jener Ideologie, die nun von islamistischen Terroristen als Feind ausgerufen wird. Das „Wir“, zu dessen Sprecher sich Martin A. Heinz macht, ist so amorph und gesichtslos wie die diffuse Menge der „Kreuzritter“, die der sogenannte Islamische Staat sich zu Feinden erklärt.
Haben aber die Erschossenen im Bataclan Schuld an jenen Fehlentwicklungen, die der Kommentar beklagt? Haben sie die Mitwirkungsmöglichkeiten in westlichen Demokratien ausgehöhlt? Haben sie sich al-Qaeda und den IS als „Haustier“ herangezogen? Haben sie die Gefahren des politischen Islam relativiert? Ich weiß es nicht. Haben sie sich in einer Weise schuldig gemacht, die ihre Hinrichtung zur Folge haben sollte? Der Kommentar eröffnet den Raum für genau diese Interpretation.
Denn sein Thema ist der Mord an ganz bestimmten Menschen. In den Augen der Mörder sind sie Stellvertreter eines westlichen Kreuzzuges. Deshalb mussten sie sterben. Eine solche Sippenhaft, die namenlose Subsumption des Einzelnen unter eine Ideologie und die Rede von der Unentrinnbarkeit von Gruppenformationen – dem stellt sich die freiheitlich-demokratische Grundordnung entgegen. Sie appelliert vor dem Hintergrund der Unantastbarkeit der Würde des Menschen an die Verantwortung des und der Einzelnen. Sie beruht auf dem Gespür dafür, dass der und die Einzelne ein Gesicht haben. Sie erkennt an, dass Einzelne sich so oder so entscheiden können: Sie können wählen gehen oder nicht, Handel treiben oder nicht, Kommentare schreiben oder nicht, ins Konzert gehen oder nicht, Morde begehen oder nicht. Für die Konsequenzen ihres Handelns haben sie einzustehen. Für die Taten anderer nur sehr eingeschränkt. In Haft genommen werden können sie für die Taten anderer nicht.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist dadurch in der Lage, einzelne Attentäter von anderen Menschen – von (anderen) Flüchtlingen und Muslimen und Franzosen und Arabern, auch von anderen Attentätern – zu unterscheiden. Sie ist in der Lage zu sagen, wer sich aggressiv oder brutal verhalten hat und wer nicht.
Genau diese Unterscheidungsfähigkeit, diese demokratische Sorgfalt steht jetzt im Feuer. Die Rede vom schuldigen „Wir“, dem die Konsequenzen seiner Aggressionen entgegenschwappen, ist kein Beispiel solcher Sorgfalt. Vor der Debatte über Systeme, Diskurse und Strategien muss aber die Erinnerung daran stehen, dass sich in ihrem Mittelpunkt Menschen befinden und dass Menschen nicht austauschbar sind. Dass ganz bestimmte Menschen, mit einem Gesicht und einer Geschichte, ermordet wurden. Dass ganz bestimmte Menschen gemordet haben. Dass ganz bestimmte Menschen sich jetzt so oder so entscheiden können. Und dass genau das der Kern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, die es zu verteidigen gilt.
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Kommentare
Replik
Sehr geehrter Herr Wie-auch-immer-Sie-heißen (Sie sind ja nicht einmal in der Lage, meinen Namen abzutippen), der Ideologisierung der Morde durch die islamistischen Terroristen auf den Leim zu gehen unterstellen Sie mir? Inwiefern? Ich habe ausdrücklich das Gegenteil geschrieben. Ich habe die Metapher des Zurückschwappens auch ausdrücklich als problematisch beschrieben, als Eindruck, der erweckt werden soll, darum die Kursivierungen, aber wer nicht abtippen kann, muß auch das nicht sehen. Stattdessen reden Sie schließlich von „Verantwortung". In einer Weise, die mitleiderregend bieder ist. Was bei einem, der, weil er nicht genau liest und demenstprechend eben nichts verANTWORTen kann, erwartet werden muß.
ich denke, christophe fricker
ich denke, christophe fricker mißversteht martin a. hainz.
der aufsatz von hainz ist der versuch einer analyse und er liegt bei der suche der verantwortlichkeit nicht weit vom realen geschehen: WIR als westliche gesellschaft haben mit den attacken hinein in den arabischen raum, mit unserem kulturimperialismus, den boden dafür bereitet, daß heute junge menschen, die sich in unserer gesellschaft gescheitert fühlen, im islamismus zuhause fühlen können, weil der genau diese gesellschaft attackiert und "zur rechenschaft zieht". es gibt menschen bei uns, die empfinden die extremisten des IS als brüder im geiste und sind froh darüber, "verstanden" zu werden.
christophe fragt: "Haben aber die Erschossenen im Bataclan Schuld an jenen Fehlentwicklungen, die der Kommentar beklagt? Haben sie die Mitwirkungsmöglichkeiten in westlichen Demokratien ausgehöhlt? Haben sie sich al-Qaeda und den IS als „Haustier“ herangezogen? Haben sie die Gefahren des politischen Islam relativiert? Ich weiß es nicht. Haben sie sich in einer Weise schuldig gemacht, die ihre Hinrichtung zur Folge haben sollte? Der Kommentar eröffnet den Raum für genau diese Interpretation."
Wir alle haben Schuld, Christophe, wenn wir dieses Wort als Platzhalter für "Ursache" benutzen wollen. Wir alle tragen täglich dazu bei, daß Großkonzerne ein globales Spiel spielen, ob wir wollen oder nicht. Wir sind verstrickt. Martin sagt mit keinem Wort, daß die Opfer "Schuld" wären, sondern Martin geht einen sehr vernünftigen Weg in seiner Argumentation: er sucht den Zusammenhang, warum schwappt das zu uns, bekommen wir hier etwas zurück?, er sucht die Erklärung, warum Menschen "aus unserer Mitte" den Schulterschluß mit den Extremisten suchen und sich dabei noch aufgehoben und ja, geliebt fühlen. Weil sie nämlich nie in unserer Mitte ankamen, teils weil wir sie nicht ließen und teils weil es eine trügerische Mitte ist, die nicht wirklich glücklich macht, weil wir ihnen eine Mitte illuminieren mit schnellen Autos und schönen Yachten, die in Wahrheit nicht mehr ist als Onanie, und keine echte menschliche Mitte. Wir betrügen Menschen um ihr Lebensglück, indem wir sie mit Chips und Cola füttern und wundern uns, wenn sie abdrehen und durchdrehen, bzw. wo anders landen.
Das Wort WIR ist nicht unscharf - es hat mit dieser Tastatur zu tun, auf der ich tippe und die sicherlich irgendwo in Asien hergestellt wurde. Es hat mit dem Erdöl zu tun im Süden des Iraks, von dem ich nicht weiß, ob damit auch mein Auto tuckert.
Die verantwortlichen Macher im Hintergrund der IS Kämpfer sind übrigens alte Militärs aus Sadam Husseins Baath Partei, die von den Amerikanern ausgemustert wurden.
Ich denke, das ist, was Martin aufzeigen wollte. Die komplexe Vernetzung, die uns in die Schuld mithineinnimmt, ob wir das wollen oder nicht. Und damit liegt er meines Erachtens nicht falsch. Christophe, ich denke sogar, daß ihr beide ganz ähnlich denkt und es gar keinen Grund für diese Auseinandersetzung gibt.
Frank Milautzcki
Nein.
"Genau diese Unterscheidungsfähigkeit, diese demokratische Sorgfalt steht jetzt im Feuer." -- Das ist der eine Satz im Essay von Wie-auch-immer, der stehenbleiben kann. Den Rest des Essays kann man eben dieser Klage als Exempel beilegen: Schlampige Lektüre, danach reflexhaftes Urteil, ein Text, der eben durch Dummheit bösartig wird. Darum weise ich auch von mir, irgendwie eine ähnliche Intention zu vertreten, sie ist im Text von Wie-auch-immer nicht glaubhaft formuliert.
Dass fixpoetry sich dafür hergibt, den Text von Wie-auch-immer zu publizieren, nehme ich mit Bedauern zur Kenntnis.
Konkret
Lieber Herr Hainz, dass ich Ihren Namen durchgängig falsch geschrieben habe, ist wirklich misslich, und ich bitte Sie dafür um Entschuldigung. – Formen des Wortes ‚zurückschwappen‘ stehen in Ihrem Beitrag zuerst recte, dann kursiv.
Inhaltlich liegen wir in der Tat in mehreren Punkten auseinander. Lassen Sie mich einen herausgreifen, der mir Sorgen macht. Ich stimme zwar, wie Sie vielleicht auch, mit Frank Milautzckis Enschätzung überein, dass viele Muslime in Deutschland oder in Frankreich „keine echte menschliche Mitte“ gefunden haben und auch dadurch für radikale Ideologien empfänglich wurden (das gilt übrigens nicht nur für Muslime). Ich danke Frank auch sehr für die Bemühung um weitere Klärung.
Ich meine trotzdem nicht, dass die Antwort auf das so benannte Problem der Ruf nach dem „WIR als westliche gesellschaft“ sein sollte oder dass es nun das Dringlichste ist, eine solche postulierte Großgemeinschaft früherer Versäumnisse anzuklagen. Auch wo solche unvermeidlich übergriffigen Entwürfe nicht der Mobilisierung (für oder gegen eine Sache) oder der Uniformierung dienen, tendieren Sie dazu, individuelle Handlungsspielräume zu verdecken. Sie eignen sich als normierender Maßstab und lassen sich allzu leicht als Entschuldigung für eigenes Fehlverhalten (für das Nichthandeln, für das Ausweichen vor dem Mitmenschen) in Anschlag bringen. „Den Islam“, „den Westen“ und „den Kulturimperialismus“ zu beschwören nimmt dem konkreten, eigenverantwortlichen, mitmenschlichen Handeln vieles von dem Raum, den es jetzt braucht. Nicht erst die Helfer am Münchner Hauptbahnhof haben ihn genutzt. Vielleicht habe ich ihn aber in Ihren Ausführungen übersehen?
Grüße von Christophe Fricker (dessen Name oft falsch geschrieben wird – ich sollte es besser wissen!)
Replik
Sehr geehrter Herr Fricker,
„nous devinons une certaine amitié envers l'ennemi auquel on parle, et plus intense parfois que l'amitié envers l'ami dont on parle", schrieb Derrida, man könne es ahnen, daß man für den Feind, zu dem man spricht, eine gewisse, ja zuweilen eine stärkere Freundschaft hegt als für den Freund, von dem man spricht.
Ich hätte mir gewünscht, sie hätten genauer gelesen und dann gefragt.
Zur Frage, die Sie nun stellen:
Der „Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft im Leben! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretiren: »es giebt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!«" -- Ein schales Narrativ wird das heute nicht mehr sein dürfen. Doch vielleicht der Glaube daran, daß der Mensch sich verantwortlich gestalten könne; daß der Mensch sich (er-)findet, gemäß Lichtenbergs anthropologischer Hypothese, es sei „der Mensch […] am Ende ein so freies Wesen, daß ihm das Recht zu sein was er glaubt zu sein nicht streitig gemacht werden kann", was eine Diversifikation des Menschlichen in dem Grade mitmeint, daß man aussichtsreich miteinander spricht: womit wir wieder beim Stil Ihres Textes wären, aber das erspare ich Ihnen und mir.
Jedenfalls hoffe ich selbstredend, daß dieses Narrativ mehr Raum für Eigenverantwortung haben wird, und weniger für das, was Politiker vom Schlage Orbans umsetzen.
Grüße
MH
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