Mit dem Auto in die Ewigkeit
Durch die Herausbildung einer modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert verlor das voraufklärerische Ideal der Beharrlichkeit ihren Vorzug gegenüber allem, was mit Bewegung, Dynamik und Flexibilität assoziiert wurde. Noch suchte man sein Seelenheil meist in der „unbewegten Ewigkeit“, doch vor dem Hintergrund eines beweglich gewordenen Erfahrungshorizonts, wie Reinhard Koselleck nachwies, entwickelte der moderne Mensch allmählich ein neues zeitliches Bewusstsein. Ausgehend etwa vom englischen Sensualismus, der die Bewegung als sinnlich erfahrbares Prinzip des Lebens aufwertete, entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine neue Lebensphilosophie, die heute meist als „Vitalismus“ bezeichnet wird. Friedrich Nietzsche und Henri Bergson wurden ihre bedeutendsten Vertreter, in deren Folge der Vitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten echten Höhepunkt innerhalb der Kunst erfuhr. Filippo Tommaso Marinetti war es, der in seinem futuristischen Manifest von 1909 einen vollkommen neuen Schönheitsbegriff predigte, der in erster Linie an Geschwindigkeit bzw. rauschhafte Geschwindigkeitserlebnisse gekoppelt war. Seine Behauptung, ein Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake, ist bis heute eine der bekanntesten Thesen seines Manifests.
Der französische Dichter Saint-Pol-Roux (1861 – 1940) widmete Marinetti eines seiner Hauptwerke. Es handelt sich dabei um die dreibändige Ausgabe der Prosagedichte Les Reposoirs de la procession (dt. Die Stationen der Prozession), die erstmals zwischen 1901 und 1907 erschienen. Marinetti dachte damals noch nicht über den Futurismus nach und für Saint-Pol-Roux, der sich gerade vom Symbolismus löste, spielte die Geschwindigkeit noch keine Rolle. Doch im Denken der beiden sollte sich einiges ändern. Marinetti verrannte sich bald in eine übersteigerte Technikbegeisterung, die die Verherrlichung von Krieg und Faschismus schon im Kern in sich trug. Saint-Pol-Roux begann hingegen ein Buch zu schreiben, das sich überaus skeptisch mit der Beschleunigung der Moderne auseinandersetzen sollte. Das Werk schaffte es nie über das Stadium der Notizen und Planskizzen hinaus, was für den Berliner Verlag Matthes & Seitz glücklicherweise keinen Anlass darstellte Vitesse nicht endlich ins Deutsche zu übersetzen.
Ob Saint-Pol-Roux bereits mit Erscheinen des Manifests von 1909 anfing einen Gegenentwurf zu schreiben, lässt sich heute nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Vielleicht sah er sich auch erst viel später dazu veranlasst, als sich in 1930ern der vom Futurismus antizipierte Faschismus in Europa auszubreiten begann. So oder so stellt Geschwindigkeit einen deutlichen Bruch mit Marinetti und den Beschleunigungstendenzen der Welt im 20. Jahrhundert dar. Dabei geht der Dichter jedoch nicht in polemische Opposition gegen Personen oder künstlerische Strömungen. Vielmehr versucht er dem Phänomen der Geschwindigkeit durch gedankliche Umkreisungen habhaft zu werden. Ohnehin ist für Saint-Pol-Roux die Dynamik der Vorstellungskraft ein bedeutend reizvolleres Fortbewegungsmittel als das Automobil, die Eisenbahn, das Schiff oder gar das Flugzeug. „Reisen haben mich nie interessiert“, so der Autor.
„Das Übel der Geschwindigkeit nagelt uns an Ort und Stelle fest“, schreibt Saint-Pol-Roux und meint damit, dass es ohne die hohen Reisegeschwindigkeiten gar kein Bewusstsein des Menschen dafür gab, dass er sich unbeweglich an einem Ort befindet. Erst die Möglichkeit der Geschwindigkeit schafft das Begehren sich fortzubewegen. Und das tut der Mensch mit dem Auto, das für den Dichter „die Wiege des Todes“, „ein Sarg voller Lebender“, „eine Granate“ ist, die die Detonation, den Unfall, den absoluten Stillstand bereits in sich trägt. Nein, Saint-Pol-Roux ist nicht begeistert von der Beschleunigung der Moderne, doch er kann der Bewegung und der Geschwindigkeit doch einige ästhetische Aspekte abgewinnen, die sich ihm vor allem im Sport, im Tanz, in der Liebe und immer wieder in der Einbildungskraft offenbaren.
Dabei scheint ein wiederkehrender Gedanke für ihn von zentraler Bedeutung zu sein, der ihn wiederum etwas näher an den Futurismus heranrücken lässt. Galt die Ewigkeit, wie eingangs erwähnt, zu Beginn der Moderne als ein im wahrsten Sinne des Wortes „überholtes“ Ideal, so lässt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneut eine gewisse Sehnsucht nach ihr feststellen. Die heute wenig bekannte Marie Holzer formulierte in ihrem Text Das Automobil von 1912: „Das Automobil ist der Überwinder der Zeiteinteilung, unseres Lebens grausamster Uhr.“ Die Fantasie, mit Hilfe der Geschwindigkeit die Zeit zu überwinden, um ihr in der Ewigkeit nicht mehr unterworfen zu sein, geht für Saint-Pol-Roux mit dem Wunschtraum einher, aus der diesseitigen Welt einfach verschwinden zu können. Er schreibt: „Der geheime Ehrgeiz der menschlichen Geschwindigkeit ist die Dephysikation, um schließlich in die Metaphysik zu münden.“ Also ist alle Entwicklung der technischen Beschleunigung nichts weiter als ein Streben nach Gott oder einer sonstigen höheren Wahrheit? Auch darüber macht sich Saint-Pol-Roux seine Gedanken, angesichts derer es nicht verwundert, dass er bis heute als einer der Vordenker des Surrealismus gilt.
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Kommentare
Ihre Besprechung des Buches "Geschwindigkeit" von Saint-Pol-Roux
Diese Besprechung enthält viele Fehler, Unsinn könnte man sagen. Es fängt damit an, dass als Übersetzerin eine gewisse Anna Kauk genannt wird. Dabei habe ich dieses Buch übersetzt und herausgegeben: so steht es auf der Titelseite. Saint-Pol-Roux hat nicht die drei Bände seiner Reposoirs Marinetti gewidmet, sondern nur einen Text daraus usw. Sie sollten diese Besprechung löschen!
geschwindigkeit
lieber herr schultz, ich habe den fehler in der übersetzung sofort korrigiert, zum übrigen wird sich der rezensent melden. beste grüße und vielen dank für den hinweis.
korrektur
bzgl. der widmung saint-pol-roux' an marinetti ist mir in der tat ein fehler unterlaufen. lediglich der text "le poète au vitrail" wurde dem italiener gewidmet, nicht jedoch das ganze werk "les reposoirs de la procession".
Saint-Pol-Roux
Danke für die Korrekturen!
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