Ich tippe auf die schönen Unterschiede, auch wenn eine Gemeinschaft sie vorstellt
Tippgemeinschaft also – die Jahresanthologie der Studierenden des deutschen Literaturinstitutes, eine Werkschau, eine Literaturschau. Möge die Show beginnen!
Und sie beginnt mit einem Text von Christina Hansen und einer Gruppe Jugendlicher, die in einer leicht verqueren Realität ein Mittelding zwischen Überlebenskampf und Cliquenspaß exerzieren. Da wird über Bazookas gesprochen und Essbares geklaut, aber Alkoholabstürze und Abende am Strand sind ebenso Teil der Aktivitäten. Die Symbole der Gewalt, die den Text durchziehen, das Bedrohliche an jeder Ecke, beides wird hingenommen als etwas Selbstverständliches. Der Text ist ein bisschen zu sehr fixiert auf die Gruppendynamik, deutet irgendwelche möglichen Hintergründe an, aber verschleiert sie dann sofort wieder, verlässt sich auf seine Unbestimmtheit. Trotzdem weiß er auf seine Art zu faszinieren.
In Julian Freinbergers Text holpern hier und da die Sätze etwas. Um eine großartige Szenerie (u.a. Raketenabschussbasen zur Flucht von der Erde) baut er eine leicht dünne, nur gesäumte Handlung, in der Motive aufscheinen, glänzen, aber matt und nicht wirklich ins Licht gehalten. Er klingt sehr nach einem Werkstatttext, einem Ausschnitt, hinter dem viele Möglichkeiten zu einer Geschichten liegen.
Famos bildet Marcus Klugmann in seinem Text „Zeiger“ das Ringen mit der eigenen Hemmung ab. Der Gegenstand des Begehrens, gleich hinter der Überwindung liegend, ist eine Uhr; aber eigentlich geht es um den großen Bruder, mit dem der Protagonist es aufnehmen will, aber gleichzeitig will er sich auch hinter ihm verstecken. In diesem Spannungsfeld, gespannt auf die ausgekosteten Schilderungen von Nervosität, Druck, Unzulänglichkeit und Verheißung, gelingt Klugmann eine kleine erzählerische Glanzleistung.
Ein großes Highlight ist Theresa Pleitners „Bilder einer Ausstellung“. Es passiert mir selten, dass ich mich in der Befindlichkeit eines Textes so wiedererkenne – eines Textes, der von der Schwierigkeit handelt, sich emotional zum Leid eines Anderen in prekärer Lage zu positionieren, mit dieser Lage irgendwie umzugehen. Wie weit können wir gehen, im Verständnis für den anderen und was ist mit dem Verständnis gewonnen, wenn es nicht echt ist, auf Logik und Vernunft, aber nicht auf dem Gefühl einer tatsächlichen Verbundenheit beruht? Pleitner erzählt die Geschichte eines Geflüchteten aus Syrien, der eine Zeit lang auch mit der Protagonistin wohnt und zeigt ihr Verhältnis zu ihm und seiner Geschichte in aller Ambivalenz, mit einer beeindruckender Akkuratesse, die viele Nuancen herausarbeitet.
es bleibt diese sicht inmitten der topographie
jener landschaft sie wächst nach in deinen zellen
In den Prosagedichten von Andra Schwarz halten sich das Diffuse und das Schwarz-Weiß-Graue an den Händen und sie errichten Landschaften, die eigentlich Unwägbarkeiten sind und die Bilder rattern vorbei als wären sie auf stark gealterte, staubige Filmrollen gebannt. Das macht Eindruck, ist aber auch irgendwie weit von der Möglichkeit eines intensiven Aufeinandertreffens entfernt.
Es ist immer gefährlich einem Text Misogynie vorzuwerfen, denn es spricht ja in der Regel nicht der Autor zu uns, seine Figuren tun es, und die stehen erstmal in einem ambivalenten Raum; sie müssen nicht konsequent eine Haltung ausdrücken, sie können sie auch zur Debatte stellen, einen Reflexionsraum bieten. Es bleibt allerdings die Frage, worum es denn in Simon Kalus Text gehen soll, wenn nicht um fragwürdige Frauen- und Männlichkeitsbilder. Dass seine beiden Figuren, die gemeinsam als die beiden Seiten einer Medaille, als strahlender Kapitän und armes Würstchen, im Auto durch die Landschaft fahren, keine Sympathieträger sind, ist ja kein Problem – dass man aber weit und breit keinen sinnvollen Grund erblickt, warum ihre Geschichte erzählt wird, wirft einen auf die Kernthemen ihres Gesprächs zurück. Und da packen einen ob der Weinerlichkeit und der Dummheit schnell die Langeweile und die Wut. Vielleicht sind das Gefühle, die hervorgerufen werden sollen. Aber dann ist das immer noch kein guter Text.
Eine Mischung aus poetischen Metamorphosen, aufblitzenden Anspielungen und dem Einsatz von einer Menge Anberaumung und einer Menge Schwund: Die Kurzprosa-Stücke von Julian Walther haben trotz ihrer ausufernden Innenleben etwas Graziles an sich, eine Leichtigkeit, die einen Kontrast zu den mit Tiefe und Schwere beladenen Sätzen bildet; und in dieser launigen Diskrepanz liegt ein ungeheurer Reiz, der sich in vielen Momenten ankündigt, in den besten auch auftut.
Nora Linnemann schreibt über Eifersucht, darüber, wie es ist die Geliebte zu sein, nicht die erste Wahl, sondern die nächstbeste. Präsent ist in ihrem Text vor allem die unerreichbare Andere, die Frau, die nicht sie ist und die eine geheime Kraft haben muss, mit der sie ihren Mann bei sich hält. In ihrem Kopf wälzt die Protagonistin Gewaltphantasien, die immer wieder in Bewunderungsphantasien umschlagen. Ein Text, in dem die poetische Ausformung die erzählerische zu ersticken droht.
Keine hochtrabende Kost, dafür eine gelungene, runde Erzählung um eine halbherzige Entführung, einen Straßenköter und die kleinen Irritationen des Lebens, Schauplatz Bolivien. Ludwig Baders „Wilder“ macht Spaß! Und nebenbei reißt der Text auch einige existenziellere Themen an.
Ob Julian Amankwaas Text in einer Anstalt oder einem Internat spielt, kann ich nicht genau sagen. Auf jeden Fall an einem Ort, an dem viele Leute aufeinander hocken, es Zimmer und Gruppendynamiken gibt. „Viertel-Neger“ heißt der Text um eine Clique von Jungs, die an einem Abend das einzige (zumindest das einzige erwähnte) Mädchen der Einrichtung zum Geschlechtsverkehr nötigt; eine Gruppensexphantasie aus dem Bilderbuch, auserzählt und trotzdem weichgespült. Das ganze ergibt, in Kombination mit der rotzigen Sprache, durchaus einen fetzigen Text; gut geschrieben, muss man zugeben. Trotzdem empfinde ich die Beschreibung und Einordnung der Frauenfigur als höchst problematisch. Ein bisschen rettet es den Text, dass auch seine männlichen Figuren, aus deren kollektiver Perspektive die Geschichte erzählt wird, nicht besonders gut wegkommen, intellektuell und moralisch. Der Autor könnte damit argumentieren, dass solche Geschichten nun mal nicht aus der Luft gegriffen sind und er zeigen wollte, was für (von der Pornographie befeuerte) Vorstellungen in den Köpfen der meisten Jugendlichen vorherrschen. Aber auch ein Beitrag, der problematische Haltungen und Vorgehensweisen bloß aufzeigen oder behandeln will, wird selbige mittransportieren und am Leben halten, wenn der Autor nicht sehr viel Vorsicht walten lässt.
David Blums mono-logischer Text über den großen Tag hat mir – obgleich ich seine Art, aus der schwadronierenden Rede eine Erzählform zu machen, normalerweise schnell ermüdend finde – ganz gut gefallen, vor allem die dahinter schimmernde Selbstironie. Kein großartiger Text, aber einer, der auf seine Art zu überzeugen weiß.
rochen, umarm mich. atme weiter, rochen.
dein brennen, dein feuern zieht mir striche
über die brust, ah, was knarzt das. warzt sich fest
als methode. geb mich deinen radikalen, deinen
radien hin. pi. schmieg mich in deinen umhang,
rochen, bis wir schlurfen über boden, in samt, wir schlürfen.
Wie so oft, wenn es um Lyrik geht, deren Lektüre mich unbefriedigt zurücklässt, versuche ich, meine Befindlichkeitsallüren zurückzuhalten. Aber es fällt mir schwer.
Der Beginn von Lara Rüters zweitem „liebes gedicht“ ist brillant und wirkt auch sehr gekonnt. Die Zeile beginnt mit dem zentralen Motiv und endet mit ihm, im „rochen“ schwingt außerdem noch die Vergangenheitsform von Riechen mit, die beiden Befehle, das „umarm mich“ und das „atme weiter“, sind sehr unterschiedlich und verschmelzen doch auf großartige Weise miteinander; das „weiter“ als letztes Wort vor „rochen“, nachdem so viele Worte mit m dominierten, schafft einen schönen Übergang. Auch mit der zweiten Zeile kann ich noch viel anfangen, aber warum muss beispielsweise der knarzt-warzt Reim sein? Will das Gedicht sich ironisieren, seiner eigenen Verdichtung wieder etwa entkommen, nicht versinken in dem eigens Aufgemachten? Das wäre ja alles verständlich, aber diese Kippmomente, hinein in die bloße Lautmalerei und ein unverfängliches Weiterspinnen, entgräten das Gedicht; es mundet vielleicht besser, glatter, aber verliert meiner Ansicht nach auch an Lebendigkeit und büßt die Möglichkeit einer nicht forcierten Entfaltung ein. Beim „samt“ schwingt noch mal etwas von der anfänglichen Kraft mit (ebenso übrigens beim Ende, in dem Satz „ich schwebe, oje“) aber dazwischen blubbert das Gedicht doch nur vor sich hin, oder irre ich?
Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht nach Agenda oder Missgunst klingen, und es sind, das ist mir bewusst, auch Behauptungen, keine Beweise oder Nachweise oder dergleichen. Und hinter diesen Behauptungen spreizt und reckt sich das schlechte Gewissen. Denn Lyriker*innen sollten nicht gezwungen werden, ihre Gedichte zu erklären. Worum es mir ja eigentlich geht: ich wüsste gerne, wo diese Gedichte hinwollen, was ich daraus ziehen soll? Vielleicht ist das die falsche Frage.
Ich möchte gern glauben, dass kein Funken Ignoranz in meinem Nachfragen, meiner Kritik liegt. Dem ist sicher nicht so. Aber die Frage, sie bleibt und ich glaube, sie hat ihre Berechtigung.
Hier sitzt jemand vor einem Bildschirm und dieser Bildschirm kann das Internet aufrufen und in dem kann man sich von einer Geschichte zur nächsten, von einem Indiz zum anderen hangeln. Und alle Indizien sind doch nicht das Indiz, welches man gesucht hat, sondern eben jenes, das man gefunden hat. Etwas bleibt immer ausgespart in der Nachzeichnung der Informationsfülle.
Sibylla Hirschhäuser verfolgt in ihrem Text die Geschichte der berühmten Selbstmörderin Evelyn McHale, die einst vom Empire State Building sprang. Und die Geschichte des Bildes, das direkt nach ihrem Tod gemacht wurde: sie als moderne (Per)Version der „sleeping beauty“, liegend in dem eingedellten Dach eines Wagens. Vom Rand dieser Geschichte wagt die Autorin den kühnen Sprung in die Problematik ihrer eigenen Psyche, ihrer eigenen Geschichte – und verneint auf diese Weise die weitverbreitete, aber dünne Wahrheit der Nachzeichnung, bei der es sich um ein Bündel von Referenzen handelt, nicht um das Ergebnis einer Beschäftigung mit dem Wesen Person, dem Wesen der Sache. Der Weg und das Konzept des Textes, sie lassen mich tiefbeeindruckt zurück.
Ein bisschen atemlos, als würden sie von einer Sehnsucht angeschoben, bewegen sich die Sätze von Jasper Westhaus über die Seiten. Der Autor scheint die ultimative Kontrolle über das Ineinandergreifen seiner Formulierungen zu haben; alles läuft, glatt, gleich neuen Rädern auf einem frischasphaltierten Highway. Im Sog dieser Glätte ist es mir schwergefallen, der erzählenden Instanz inhaltlich zu folgen. Immer wieder werden Schnitte vorgenommen und kurz wird ein ganz anderer Ort aufgerufen, aufgebaut. Der Text trägt eine Trauer mit sich, schießt straight in the dark, wie man sagt. Und berührt, sacht.
Helge Brummes „Der Assistent“ (ein Auszug aus einem größeren Werk) erzählt locker flockig von der Beziehung zwischen einem Rollstuhlfahrer und seinem Pfleger. Eigentlich gibt es zu dem Text nicht viel mehr zu sagen. Er bleibt bei seinen Leisten und verlagert das Gewicht nie auf das Sprachliche oder eine innovativere Art der Darstellung. Dadurch wirkt der Text etwas statisch, aber eigentlich ist er auf eine solide Art und Weise schön.
Annkathrin Wetts kurzer Text „Perfekt“ hat etwas Überschwängliches, dem ich mich schwer verschließen kann. Eine heile Welt mit kleinen Schönheitsfehlern, darin Kindheitsspiele und später Verliebtheiten. Nicht der große Wurf, aber ein voller, ausgelassener Sprung.
Einnehmend unaufgeregt, aber durchaus belebt, ist der Text von Sandra Burkhardt, in dem es eigentlich nur um die Schilderung einer Bergbesteigung in Italien und Limoncello geht.
Ronya Othmanns Gedichte hantieren mit einer seichten, zuverlässigen Grobheit. Man hat das Gefühl, jede Zeile möchte ein bisschen anecken, ein bisschen wie das Kettenglied einer umfassenden Beschwerde klingen. Die unförmige, vielgestaltige Tristesse, die aus der Folge der Verse entsteht, hat nicht gerade das Zeug zum Erkenntnisreflex, bietet kaum poetische Sehnsuchtsflügel. Dafür bringt die Verdichtung des Abgewandten, des Nörgelns, eine gewisse existenzielle Note mit sich, die sich in den vier Gedichten zu einer unleugbaren Präsenz auswächst.
Man muss diese Disziplin ja schon etwas bewundern. Nein, eigentlich muss man das nicht. Denn der Text von Peter Lünenschloß hat wirklich ein bisschen etwas von einer Tortur, eine völlig unsinnigen. Es gibt natürlich einen komischen Aspekt durch das vollkommen ungebrochene Abspulen der Sätze, aber der ist mir nicht stark genug, um „Sie sagte“ irgendwie unterhaltsam zu finden.
Benedikt Kuhn hat einen Link in das Buch drucken lassen. brant.h4u5.com. Man schaue selbst und staune. Diese unverbrauchte Art der Präsentation ist auf jeden Fall einen Blick wert.
Angelächelt werden von einer Plakatwand und wissen: das jetzt und hier ist kein Zustand, kein Umstand, es ist nur das hier und jetzt. Umstand und Zustand sind auf diese Plakatwände gebannt und nichts wird etwas an ihrem Grinsen ändern. Um diese Romeo-Versprechen geht es u.a. in Esther Beckers kurzem Text.
Eines der zentralsten Phänomene im Leben eines Menschen ist das Altern, das Schleichende daran und gleichsam die Gewissheit, dass jede Existenz, die lange genug währt, dieses Kapitel erreichen wird, in dem der Körper verfällt, nicht mehr alles zusammenhält. Es ist meistens so, dass wir diesen Prozess vorher bereits bei unseren Eltern und Großeltern miterleben. Wobei jeder Mensch natürlich anders altert. Und so glauben wir uns auf kurze Sicht gefeit und leben in unserer eigenen Geschwindigkeit.
In Lea Sauers Text (ein Auszug aus einem längeren Werk) wird die Protagonistin mit den Unterschieden in der Geschwindigkeit konfrontiert und ist außerdem gezwungen, über ihren eigenen Alterungsprozess zu reflektieren (oder, wenn man es dramatischer sagen will: ihre eigene Sterblichkeit). Gemeinsam mit einer Verwandten, die vor kurzem ein künstliches Hüftgelenk bekommen hat (es geht nicht ganz hervor, ob es sich um die Mutter oder die Großmutter handelt), verbringt sie ein paar Tage auf der ostfriesischen Insel Langeoog. Die Verwandte ist langsam und hemmt nicht nur ihre Geschwindigkeit, auch ihre Sicht auf die Dinge und ihr Wesen wirken beschränkter, dünner, zumindest nimmt es die Protagonistin so wahr. Ein Dialog, ein Austausch, scheint fast unmöglich, auch wenn es hier und da versucht wird.
Lea Sauer gelingt eine sehr gute Darstellung der Entfernungen, die sich zwischen Menschen in verschiedenen Lebensabschnitten und -altern auftun. Und wenn die Protagonistin in der letzten Szene ihr eigene Körperwahrnehmung ganz unvermittelt der ausführlichen Beschäftigung mit dem alten Körper der Verwandten gegenüberstellt, bekommt man fast so etwas wie Gänsehaut – weil der Text ganz nah herangeht an das Unfassbare, das darin besteht, einen Körper zu haben, immer; einen Körper, der sich eines Tages gegen einen wenden könnte. Wie sagte Cioran: „Wir sind alle schon im Grab, denn unser Körper ist unser Grab.“
Oh je. Irgendwie stehe ich ratlos vor Cathrin A. Stadlers Geschichte über einen Mönch, der sagt: „Erzherzog Karl“ und „Gute Geschichte“ und noch einiges mehr über Nordlichter und Karten. Zu manchen Texten sollte es ein Manual geben. Irgendwann muss ich dann lachen über dieses Labyrinth, das fast ist wie ein Kreuzworträtsel ist, das einen schachmatt gesetzt hat und jetzt zu einem spricht und Friedensbedingungen diktiert. Naja, keine Ahnung, ich steig da nicht durch. Aber unterhaltsam und malerisch, das Ganze.
Die Initiale m. und der Twen-Blues. Anne Oltschers „U+0277“ ist eine nette, kurze Beziehungskeule, zwei Menschen über den Kopf gezogen, die sich selbst wie Käfigratten im Labyrinth der modernen Existenz vorkommen, nur dass es nirgendwo Käse gibt. Also machen sie halt den üblichen Scheiß: Sex, Drugs, Abhängen. Ein bisschen Zeittotschlagen, darin der Versuch, aus einem hier und da ein hier und jetzt zu machen. Außerdem ist der Text mit einigen poetischen Fußnoten versehen, die dem glatten Rutsch des Textes etwas Aufgebauschtes geben.
Wie ein kurzer Zapp in ein getaktetes und neurotisches Leben, nimmt sich Margarita Iovs Text „Bärlauch“ aus. Man ist verwirrt und googelt Bärlauch. Was ist jetzt so schlimm daran, dass er bis zur Haustür wächst? Ah, Moment, es geht ja darum: das ist eine sehr, sehr früh austreibende Pflanze. Bärlauch sagt also: es geht wieder los. Und dann auch noch das: Kirschen in der Konserve – was die Welt nicht alles für Wunder bereithält. Irgendwie beunruhigend.
Nun ja, ich werde jetzt nicht schon wieder darauf herumreiten, dass die einzige weibliche Figur in dem Text stigmatisiert ist, diesmal durch eine kognitive Entwicklungsstörung. Aber auch ansonsten ist Jonas M. Mölzers Text eine hölzerne und irgendwie auch unklare Angelegenheit. Aber ich will auch nicht wirklich zu ihr durchdringen.
Mia Göhrings Auszug aus dem Dramentext „Das Stück Angst“ schafft es mit Bravour, das diffus-bedrohliche Moment dieses Gefühls in verschiedenen Szenen einzufangen. Diese Szenen, in denen sich meist zwei Menschen begegnen, wirken unvorbereitet, sogar ein bisschen halbgar zu Anfang, verdichten sich dann aber ohne großes Aufhebens zu Ausbrüchen, Einbrüchen, Suggestionen. Jeder Satz der Dialoge fügt einen feinen Knacks in der Schale der Dinge hinzu, während die Monologe aus ihnen hervorsprudeln.
Eine Orang-Utan-Sexsklavin, die im Zuge der ersten Folge einer ZDF-Reality Show aus einem Bordell befreit wird; mittendrin einer von André Pattens Durchschnittsprotagonisten (das Wort Durchschnitt bezieht sich nicht auf die Güte der handwerklichen Darstellung, sondern auf den Charakter und die Ausstrahlung der Figur im Text), ein Toningenieur, semi-beteiligt, Opportunist in Anstandsfragen, aber nicht aus Überzeugung, sondern weil es halt einfacher ist. Auch dieser Text ein Auszug und man darf durchaus gespannt sein, wohin dieser Text noch wachsen wird. Das Ungeschminkte daran gefällt mir, aber die Figuren wirken dann und wann noch wie etwas zu selbstverständliche Abziehbilder, dafür werden bereits ein paar vielversprechende Dynamiken angeschnitten.
Dieser nächste Auszug spielt in Rumänien und Dorothee Riese bildet darin eine Kindheitswelt ab, in der Nationalstolz und Rumäniendeutschtum als wiederkehrende Motive eine Rolle spielen, ebenso wie die Figur des Hahns, dem die Flügel gestutzt werden müssen, damit er nicht mehr zum Nachbarn fliegt und dessen Hahn blutig pickt. Leider lässt einen der Auszug etwas unbefriedigt zurück; man bemerkt an allen Ecken und Enden, das er einem größeren Korpus entnommen ist. Vor allem kann man spüren, dass hier wirklich ein ganz eigener Kosmos abgebildet werden soll und das gelingt natürlich nur auf längere Sicht, mit einer gewissen Breite.
Der Award für die coolste Textform innerhalb der Tippgemeinschaft 2017 ist Katia S. Ditzler nicht zu nehmen. „II. Hauptgruppe: Erdalkalimetalle zum Ankreuzen und Ausfüllen“ liegt mit seiner Form irgendwo zwischen Do-it-yourself-Gedichten und freien Variationen auf willkürliche Themenfestlegungen, mit ganz viel Funkensprühen und Querschlägern. Kostprobe gefällig?
kardamom, muskatnuss, zimt und vanille
die flotten meiner träume brechen auf!
ich verleumde meinen verstand ich _________ meinen verstand
weißt du, wo er wohnt? wir können sein haus mit drohungen bemalen
das problem des begabten kindes
ist die unfähigkeit zur □ symbiose
□ nekrose
□ gürtelrose
Özlem Özgül Dündars „Die Luders“ durfte ich ja schon in der Open Mike Anthologie lesen. Bei der zweiten Lektüre hier in der Tippgemeinschaft ist mir der Text nach wie vor zu bemüht, zu attitüdig. Allerdings muss ich sagen, dass ich mich diesmal mehr auf die Protagonistinnen einlassen konnte und jede Figur trägt ein deutliches Potenzial in sich, wird aber unverständlicherweise, was ihre individuelle Ausprägung betrifft, im Zaum gehalten.
Die Sonne ist ganz rot und groß. Dünne Wolken schieben sich seitlich davor, sodass der Mann erst an das Logo der Sparkasse denkt und dann an die Liebe.
Ich weiß nicht, wie ich die Kurzprosastücke von Johannes Koch anders beschreiben soll, als mit den abgegriffenen Worten „liebenswert“ und „sympathisch“; „poetisch“, könnte ich auch noch hinterherwerfen. Dabei ist ja das großartige an diesen Texten, dass sie eben jede Form von Abgegriffenheit umschiffen, sich aber gleichzeitig unentwegt auf vermeintlichen Allgemeinplätze tummeln. Diese Kombination ist ebenso erstaunlich wie schön. Schön, noch so ein Begriff, der abgegriffen ist. Aber in Kochs Texten kriegt seine Karosserie stellenweise wieder richtig Glanz.
Eine gelungene Satire auf einen völlig spießbürgerlich-verklemmten Anwalt, hier und da ein bisschen überinstrumentiert, aber dennoch ein zartböses, sarkastisches Kleinod: Dominik Schuppichs „Der Rechtsanwalt“.
In einem schwachen bis starken Mäandern begriffen. Manchmal krud, manchmal sanft. Aber in der Art wie der Autor Paul Watermann mit seinem Material umspringt, sehe ich auch eine gewisse Belanglosigkeit walten. Der Text hinterfragt viel, macht viel auf. Und doch ist „Der goldene Japaner“ ohne Zentrum, verflüssigt seine starken Momente durch seine eigene, unbestimmte Konsistenz.
Fast schon besinnlich, in Thema und Machart, könnte man Malte Möllers Geschichte „Im Lauf der Zeit“ nennen. Schauplätze ist das Gefängnis, der Mittelpunkt das Rätsel einer schweigsamen Person. Es ist einer der klassischsten Erzähltexte in diesem Band, ein stetes Feuer, das am Ende sang- und klanglos verlischt, eine große Dunkelheit zurücklässt. Aber gerade wegen dieses Endes hinterlässt der Text einen bleibenden Eindruck.
Josefine Berkholz Gedichte drehen sich um das Greifbare. Der Intensität darin ist fast ausschließlich am Festmachen interessiert, kaum am Belassen, an der Beschau. Trotzdem herrscht eine große Diversität. Und in dem ganzen Durcheinander wird viel erzählt und immer wieder findet man einen gewissen Swing in den Versen, eine Tonart, die alles zusammenhält.
Hier wird Intensität angehäuft: durch die Kräuter, die gejagten Lebewesen, durch das Verlangen, das zärtliche, das verbotene, den Wald, das Verlassene. Und doch ist Linda Achbergers „Fische in seichtem Wasser“ nicht unbedingt ein sinnlicher Text, sondern einer, der um sein Zentrum kreist als könnte er jeden Moment hineinfallen. Dieses Zentrum ist die Liebe zwischen zwei Brüdern, eine Liebe, die auch die körperliche Nähe mit einschließt, braucht. Sie versuchen sich in einer Waldhütte ein gemeinsames Leben zu ermöglichen, aber ein Scheitern scheint der langsamen Entfaltung, der Heile-Welt-Bewegung dieses Versuchs von Anfang an innezuwohnen.
In Kaśka Brylas „Landflucht“ wird auf clevere Weise mit der Ambivalenz von irrationalen Ängsten gearbeitet. Wobei, so irrational sind die Ängste der Hauptfigur vielleicht gar nicht – fürchtete sie die Nutztiere nicht ganz zurecht, ihre Verständigung untereinander? Es mag ein alberner Gedanke sein, aber was wenn die Tiere wirklich begreifen könnten, dass sie uns gegenüber in der Überzahl sind und sich von ihrem Joch befreien, die Zäune einreißen und die Menschen einfach über den Haufen rennen und zertrampeln würden? Die Hauptfigur sieht die Katze als das einzige verlässliche Tier an, da sie in den Augen der Nutztiere eine Verräterin sein muss und sie ihr deshalb auch nach dem Leben trachten. Das Finale rollt heran mit Donnergrollen.
Auch in der Tippgemeinschaft ist der finale Text erreicht und der hat die Schwere und Langsamkeit, das Unaufgeregte eines melancholischen Abspanns. Jonathan Böhms Protagonist fährt heim nach Prag und erinnert sich an die Tage, als das Volk auf die Straße ging. Es ist interessant, welche Form der Autor gewählt hat, um dieses Ereignis einzubetten, es quasi etwas zu verschachteln. Aber der Text setzt meiner Meinung nach ein bisschen zu sehr auf das Motiv der Erstarrung und läuft auch leicht ins Leere.
Fazit: Eines lässt sich feststellen: die Tippgemeinschaft 2017 beweist, dass der so oft beschworene Vorwurf von der Einförmigkeit der Schreibschulproduktionen, bei genauerem Hinsehen in sich zusammenfällt. Dieses Buch enthält die unterschiedlichsten Ansätze, Stile, Ideen und es stehen, da bin ich mir sicher, unterschiedlichste Motivationen und Arbeitsweisen hinter den Texten.
Insgesamt bietet die Tippgemeinschaft eine spannende Textmischung, deren Zutaten hoffentlich in Zukunft zu einer vielfältigen Literaturlandschaft beitragen werden.
Ein letzter Satz noch zum Konzept: Leicht verblüfft hat mich die Entscheidung der Redaktion, statt den Vitas die E-Mail Adressen der Beiträger*innen abzudrucken. Eigentlich eine schöne Idee, weil die Vita nicht über den Text geschoben werden kann und die Möglichkeit, die Autor*innen zu kontaktieren, auch ein bisschen die Neigung zum vorschnellen Urteil hemmen wird.
Bei aller Kritik, die ich hier angebracht habe, bitte ich nochmals zu bedenken: Es handelt sich bei den Beiträgen teilweise um Werkstatttexte und bei den Urteilen auch um Augenmerks- und Geschmacksurteile; dennoch stehe ich zu allem, was ich bedenklich oder bemerkenswert finde.
Anmerkung der Redaktion: Alle Autor_innen der Ausgabe, die mit einem Profil auf Fixpoetry vertreten sind, sind verlinkt. Die vielen anderen Autor_innen sind fett und ohne Link gekennzeichnet. Eine Verlinkung war uns nicht möglich, da wir in Unkenntnis der Personen nicht jede Autor_in sicher zuordnen konnten. /Julietta Fix
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Only God can judge me.
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