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Kritik

Ohrfeige an die Gegenwart

Hamburg

Auf den ersten Blick eint Damian und Ziggy wenig. Über ein Jahrzehnt ist es her, dass die Brüder das letzte Mal in Kontakt standen, dann musste Damian notgedrungen alle Verbindungen abbrechen. Er führt eine gefährliche Existenz als Drogendealer, der über nebulöse Internetforen und verschlüsselte e-Mails Drogen in die EU verkauft, wo Ziggy ein angepasstes Leben führt: Die zwei Kinder, seine Frau und sein Beruf als Schlafforscher halten ihn auf Trab, öden ihn aber gleichzeitig an. Überwachungskameras beobachten jeden seiner Schritte, die einzigen Drogen seiner Welt sind Alkohol und Koffein, Tabak ist nur noch zu astronomischen Preisen zu haben.

Auch räumlich ist das scheinbar so ungleiche Brüderpaar getrennt: Damian hat es in die DZ verschlagen, eine Art Interzone in Südostasien, in der alle nur denkbaren Drogen legal sind. Mit seiner Lebensgefährtin Zoë und seinem Freund Surpresh, der schon im Kindesalter Taxen per Fernsteuerung durch die verwinkelten Gassen der bizarren Parallelwelt lenkte, geht er auf Trips und muss sich ständig vor Repressalien durch die mächtigen Drogenkonzerne des Landes wie auch der internationalen Drogenbehörde der Außenwelt in Acht nehmen.

Wo Damian Substanzen an Fremde vertickt, damit diese ihr Bewusstsein auf chemische Art erweitern können und auch selbst einem Trip keineswegs abgeneigt ist, da versucht Ziggy mit seinem Forschungsprojekt zu luziden Träumen Ordnung ins Chaos zu bringen. Der bietet die Entfesselung des Unbewussten an, der andere will es lenken.

Etwas jedoch haben die beiden noch gemein, besser: Jemanden. Als bei Mutter Diana Krebs diagnostiziert wird, macht sich Ziggy auf die Suche nach seinem verschollenen Bruder. Er klappert die zwielichtigen Ecken des Internets ab und wird langsam Teil einer Community von eingeschworenen Drogenusern, schließt Freundschaften mit ihnen. Das reißt ihn einerseits aus seinem gleichförmigen Leben im Überwachungsstaat, andererseits kommt er damit auch seinem Ziel näher. Auf der Suche ist er nach Zweierlei:  Er will LSD für seine Mutter auftreiben und darüber hinaus noch seinen Bruder ausfindig machen.

Der wiederum bekommt ein undurchsichtiges Angebot von einer nicht minder enigmatischen Person unterbreitet. Eines Tages steht der Mann in Damians Wohnung und drückt ihm eine Packung der Droge wmk in die Hand mit der Bitte, Damian möge diese doch über seine Vertriebswege an interessierte Kunden vermitteln. Damian wird schnell klar, dass er sich auf ein gefährliches Spiel einlässt. Die übermächtigen Drogenkonzerne, die die DZ mit ähnlich harter Hand in ihrem Griff haben wie die Gesetzgeber auf der anderen Seite die EU, kommen ihm schnell auf die Fersen. Die Droge, die es ermöglicht, jede Sprache zu verstehen und darüber hinaus den Ursprungsmythen der Welt näher zu kommen, wird zum begehrten Gut.

Vor dem Hintergrund von internationalen Überwachungsskandalen durch staatliche Behörden und dem Aufstieg und Fall von Drogenhandelsplätzen wie SilkRoad und Atlantis in den Untiefen des Darknets legt Selim Özdogans Roman DZ den Finger auf gleich mehrere Wunden. Während in Berlin über den Modellversuch eines Coffee Shops am Görlitzer Park diskutiert wird, malt er in DZ aus, welche wirtschaftlichen Konsequenzen die Legalisierung haben könnte. Die DZ erscheint für einen Moment wie ein liberales Paradies, entpuppt sich jedoch schnell als neoliberale Hölle.

Auf der anderen Seite sieht es jedoch nicht besser aus: In der EU regiert nicht nur die Maßlosigkeit des Maßhaltens, die überzogenen (Selbst-)Optimisierungszwänge graben den Menschen dort gekoppelt mit der dauerhaften Überwachen die Lebensfreude ab. Es ist eine andere Form von Kapitalismus, er zeigt aber ein nicht minder gefährliches Gesicht wie der in der DZ.

DZ umreißt die Konsequenzen eines Dilemmas, vor dem wir jetzt stehen: Werden wir dem wuchernden Drogenhandel, der sich im Netz organisiert und ausbreitet, mit Repressionen begegnen und damit auch unsere eigene Privatsphäre zur Sicherheit aller opfern? Oder legalisieren wir den Drogen, machen Schluss mit der Beschaffungskriminalität – und ebnen so den Weg für Konzerne, die keine Rücksicht auf das Wohlergehen ihrer Kundschaft nehmen würde? Antworten liefert der packend geschriebene Roman nicht, sondern vollzieht sogar einen Abstecher ins Mystizistisch-Spirituelle und stellt hüben wie drüben die Realitätskonzepte der Figuren infrage. Weder die EU noch die DZ können den Schein von Sicherheit auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite halten.

Mit DZ legt Selim Özdogan einen bestechend intelligenten Roman über zwei dystopisch anmutende Systeme vor, die sich im Hier und Jetzt bereits herauskristallisieren. Nicht nur übt er eine scharfe, aber dennoch moralinarme Kritik an gesellschaftlicher Doppelmoral, die Alkoholkonsum und medikamentöse Körpermodifikation absegnet und im gleichen Zug weit weniger schädliche Drogen und bewusstseinserweiternde Substanzen verdammt, er bringt auch den essentiellen Konflikt, vor dem die Drogenpolitik anno 2013 steht, auf den Punkt. Wie jede gute Dystopie ist DZ eben vor allem eine Ohrfeige an die Gegenwart. Ein Roman, der scharfsinnig aufdeckt, dass alle unsere Paradiese künstlich sind.

Selim Özdogan
DZ
Haymon
2013 · 384 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-7099-7084-3

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