weitere Infos zum Beitrag
Essay
Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki
Soweit d'accord. Seine Analyse deckt sich mit der in diesem Essay vorher behaupteten Allgegenwart des Zitats und dem körperlosen Unwesen der Imitation, „weil das Reproduzieren, Variieren, Klischieren schon je die Stelle der Modernisierung vertrat.“ Es ist gut möglich, daß diese Mechanismen eine grundliegende Eigenschaft der Moderne anzeigen, sich selbst zu illustrieren, daß das ursprüngliche authentische "Ist" notwendigerweise von einem breitenwirksamen „als wie“ begleitet wird. Was einmal ist, ist beim nächsten Mal schon als wie.
Kiefer behauptet: die gewöhnliche Nutzung der Sprache generiere automatisch herkömmliche Literatur, auch wenn sie moderne Inhalte transportiere. Man müsse das „alltägliche Bezeichnungsempfinden“ übersteigen, um in einer neuen Literatursprache zu sprechen, die der Moderne entspricht. Im Übersteigen ist bildlich ein Akt angelegt, der sehr gut trifft: die prinzipielle Offenheit des Jetzt (es ist der Startpunkt der Moderne) erzeugt Tiefe und das Gestapelte der Vergangenheit stellt Hürden davor auf, die man übersteigen muß. Nur daß man vom Aussehen der Tiefe nichts weiß, solange man nicht in ihr unterwegs ist. Kiefer sagt: Es fehlt Substanz. Wir plappern über die Moderne und leben sie nicht.
Und wir leben sie doch. Aber auf seltsame Weise. Es gehört zum Wesen der Zeit, so zu tun als schreite sie voran. Als gelte es etwas zu übersteigen, Sekunde um Sekunde. Modern ist demnach, was gerade „in“ ist, was in diesem Moment drin zu sein drin ist. Schon der nächste Moment kann anderes enthalten. Die Moderne füllt den Moment immer neu, sorgt für das Ändern der Muster zu etwas anderem hin. Form, neue Form, wieder neue Form (aber immer dasselbe Prinzip: „Kleid“). Der moderne Mensch hält nicht fest, sondern ist offen dem gegenüber, was gerade passiert. Er kommt nie an. Der Weg ist nie verstellt, weil die Zeit immer weiter läuft. Deshalb kann die Moderne aber auch nie ankommen, will es auch nicht. Ankommen heißt für sie Stehenbleiben. Sie übersteigt nicht nur, sondern sie stolpert drüber weg. Ihr inhärant ist das Unvermögen verläßlich in der Gegenwart zu sein. Komplexität ist ihr Feind. Ignoranz gehört zu ihrem Tagesgeschäft.
Das Zeitkonzept, wie es der moderne Mensch denkt, etikettiert Gegenwart gerne mit Stillstand. Der Begriff Gegenwart ist zudem durch esoterische Belagerung zur ariden Zone ausgetrocknet, in der nichts „Wirkliches“ passiert, sondern nur seelische Momente herumtropfen. Verbreitet ist die Denke das Spannende, das Lebenszugewandte passiere nicht dort, wo man wohnt, sondern wo man aufsteht und geht und Neues erlebt. Es muß Zukunft geben und die Zukunft gehört der Moderne. Das ist allein schon physikalisch nicht richtig. Alles was geschieht, geschieht in der Gegenwart. Und gerade sie ist der Einstieg in das „Steigerungsspiel der Moderne“ (wie es Gerhard Schulze beschrieben hat), das auch nur eines von vielen möglichen Spielen ist. Gegenwart ist auch offen, aber nicht modern. Sie ist nachhaltig. Sie wartet auf das Gegenüber, auf den Nachhall, sie will die Antwort und nicht übergangslos die nächste Frage. Wenn es tatsächlich eine Literatur gibt, die wir brauchen, dann ist es eine Literatur, die gegenwärtig ist und nicht „modern“. Dabei spielt es keine Rolle wie sie formal beschaffen ist. Wer dem Moment sein Aussehen diktieren will, diktiert auch dessen Inhalt, er beklebt ihn und fälscht ihn, macht ihn modern oder unmodern, obwohl er substanziell etwas anderes ist. Wir sollten aufhören mit der als „avantgardistisch“ fehlinterpretierten Jagd nach neuer Form, sie endet genauso in neurologischen Fakten wie alle Form bisher. Unser Gehirn wird sich in den relevanten Zeitspannen dem Wesen nach nicht ändern und Sprachprozesse werden sich auf absehbare Zeit (wohl für Jahrtausende) neurologisch auf immer gleiche Weise anzünden. Wir sollten Ausschau halten nach neuer Gegenwart. Das ist womöglich viel „avantgardistischer“ und ändert wirklich etwas.
Sebastian Kiefer sieht in der Literatur ein träges Ungetüm, das sich der Evolution der Kunst verweigert und lediglich „die Revolutionen der modernen Erfahrungswelten mit den Mitteln der Vormoderne illustrieren will“. Sie stellt die Moderne nicht körperlich dar, sondern malt sie uns hin. Was sich Kiefer erhofft ist ein Sagen jenseits des Ichs, ein Sagen, das nur Sprache will. Es ist – das hört sich seltsam „unmodern“ an, trifft aber die Sache - das alte Ideal des ichlosen Dichters, der vollkommen in seiner Kunst, dem künstlichen Erzeugen, aufgeht und hinter dem Kunstwerk verschwindet. Insofern kein neues Begehren, sondern eine eher traditionelle, romantische Vorstellung. Der aufscheinende Text soll Sprache enthalten, die nicht von der Moderne redet, sondern sie darstellt. Die in der Sprache stets beigepackte Ichhaftigkeit soll ausgeschaltet sein und der Text als Kunstwerk die absolute Hoheit haben.
Die Illustration mithilfe der Sprache ist ein Erzählen, statt mit Strichen und Farben, Flächen und Formen ausgeführt mit Worten. Das Narrative gehört in das Wesen der Sprache, schon weil sie ihrem Wesen nach Bezug nimmt, bezeichnet, Verhältnisse und Verhalten aufzählt und bereits das einzelne Wort erzählt. Es ist biologisch nicht zu haben ohne Geschichte, es kann im Menschen nicht sein, ohne „dort hingekommen“ zu sein. Es muß sich zweimal gebildet haben, einmal in der Kulturgeschichte und einmal in der persönlichen Geschichte und erfüllt dann einen Raum, den es – modern oder nicht modern – nur in der Person gibt, die das Wort soeben gelernt hat. Wenn ich „blau“ anhand des Himmels lerne, werden die neurologischen Schaltungen von anderer Farbe sein, als beim Blau der Rassel. Die Verknüpfungen werden wachsen und mit der Zeit ergänzt werden um neue Erfahrungen. Sprache gibt es nur als organisches Metagewebe im Sprechenden und kann von dort aus allenfalls Bezug nehmen, also eine Erzählung starten, wie sie zum Gegenstand kommt. Sie ist nicht der Gegenstand. Sie kann auch als angerichtetes Muster nur begrenzt etwas verkörperlichen, weil ihre Konsistenz Automaten im Gehirn anschaltet, die eigene Arbeit tun. Am ehesten noch könnten Lautgemälde Kiefers Forderung nach einem veränderten Bezeichnungsempfinden, das der Bildhauerei ähnelt, erfüllen. Die Sprache, wie sie sich natürlich im Menschen anlegt, kann das Verkörperlichen nicht leisten, weil sie sich im Menschen nicht als materiell identifizierbarer Körper ablegt, den man bei Bedarf hervorholt, sondern als kompliziert durchgeschalteter elektrischer Raum. Wenn wir unsere Sprache benutzen, erzeugen wir in uns eher ein Feuer, eine Explosion, ein Happening, als ein Stück Text, das definierte Zustände kennt. Die vielen Ichs in uns singen dazu ein Lied. Wenn man also „Text“ will, muß man ein strenges Regiment führen und eindeutig das Oberkommando haben. Eine klare Linie, einen bewußten Schnitt, mathematisches Kalkül. Man muß eine Sprache sprechen, die es auf natürliche Weise nicht gibt. Also künstliche Sprache?