Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Kriminal Tango in acht Folgen

Autor:
Mechthild Curtius
 

Kriminal Tango in acht Folgen

3 Chioggia

Piero legt den Arm um mich. Lange ist er still und ernsthaft. Zum erstenmal höre ich etwas Nachdenkliches aus seinem Mund. "Warum hatten es meine Verwandten damals als Gastarbeiter in Alemania besser?" Dann sind wir da. Wir schauen in meine leere verlassene Wohnung, fragen im Treppenhaus in helle und dunkle Gesichter hinein und erhalten freundliche Antworten in mehreren Sprachen. Piero fragt italienisch und englisch, ich polnisch und deutsch. Irgendwie verstehen sich alle. Wem das Haus jetzt gehöre und was daraus würde, keiner weiß es wirklich. Piero zieht mich die Treppe hinauf, bis es zu baufällig wird. Sagt nichts, umarmt mich, das halte das für seine Art zu trösten. Als ich endlich seine erotische Absicht bemerke, gebe ich dem losen Mauerstein einen Stoß mit dem Fuß: wenn du unbedingt willst. Dein letztes Mal könnte es sein. Wir rennen zur Straßenbahn, die stadteinwärts fährt, darin reden drei alte Männer sächsisch, Piero findet es "bella - come musica. Un poco come italiano." Sie halten die neuesten Zeitungen vor sich mit den Berichten über Frankfurts Pläne vom unterirdischen 'Rail-Port'. Sie streiten um den Vergleich der Bahnhöfe Leipzig - Frankfurt. "Weil unsrer greeßer ist, und die Wessis in Frankford immer die Hauptsache sein missen, baun se ihren Boahnhof unterirdsch." "Also vergleichen auch die Leipziger". Sagt der italienische Piero. "Frankfurt und Leipzig sind zwei Geschwister, die in der Kindheit getrennt worden sind. Und Leipzig ist von den ärmeren Eltern adoptiert worden. Wiedergefunden, teilen sie sich Armut und Reichtum."  

Da liebte ich Piero am meisten. Wieder eine neue Seite an ihm, seelische Wunden kann er merken und schließen. Im ICE zwischen Leipzig nach Frankfurt, ungefähr auf der Höhe von Erfurt, hab ich in die katholische Taufe unseres Kindes eingewilligt. Wieder in Frankfurt, haben wir Conte Raimondo im Friaul gebeten, Pate zu werden. Fälschlich habe ich daraus geschlossen, dass alles seine Ordnung haben werde mit unserer jungen Familie. Meinen erwachsenen Söhnen in Leipzig habe ich nicht einmal von ihrem Halbbruder Sandro erzählt; nur zufällig hatte ich meinen Ältesten am Augustusplatz vor dem 'Schwarzen Marx' auf dem Wege in den "Weisheitszahn" zu seiner Vorlesung über Hegels Ästhetik getroffen und Piero als meinen Mieter vorgestellt, was er schließlich auch ist. Ich glaube, dieser versponnene Philosophie-Dozent ist nicht einmal misstrauisch geworden, dass ich mit dem schönen Italiener was hätte, so sehr bin ich für ihn als Mutter jenseits von Gut und Böse und von jeder erotischen Regung.

Von hier an wird Erinnern gefährlich. Ein leichter Stoß rüttelt Katharina zurück aus Leipzig zwischen die venezianischen Lagunen. Hup nicht so blöd, du hängst mir ja fast auf der Stoßstange. Pass doch auf, du bist schuld. Findet der nicht, zeigt der ihr doch den Stinkefinger. Italiener mögen galant sein, auf der Autostrada sind sie es gar nicht.  NieseIregen oben, glitschige Straßen unten, die Landzunge runter fährt Katharina seit Porto Sabbiano und weiter durch langweiliges Lagunenflachland. Dunkel. Erschöpft. Schon zwanzig Uhr fünfzehn. Sie ist müde. An vielen rostigen und weißen Fischkuttern vorbei rettet sie sich in die Altstadt von Chioggia, ruckelt am Pier lang. Das finstre Eckhaus ist das Albergo Giovanna, sie fragt nach Alfredo Boretti. Der dürre Greis erstarrt, seine altersfleckige Haut zittert über den feinen Knochen, er fasst sich und nimmt einen roten Knauf mit zwei Schlüsseln. Viertes Stockwerk, letztes freies Zimmer, keine Dusche, Klo unten am Gang. Aber draußen vom Hotelbalkon aus sieht sie den Himmel, Schiffe schaukeln, Regen schlägt ihr entgegen, Lichter spiegeln sich im Wasser. Im Morgengrauen weckt sie der Sturm. Tagsüber geht sie allein durch die Gassen dieser kleinen volkstümlichen Schwester Venezias, immer neben den Lagunen läuft sie entlang. Weiße reinliche und rostige Fischkutter fahren aus und ein, liegen meist fest, hier und da hämmern einige Männer, selten laden sie ein paar Fische aus, ein fetter Mann lehnt rauchend über die rostigste Reling, sein Mopsgesicht mit den schwarzen Haaren ist wie ein Bruder des Alfredo, doch warum sieht der Seemann gutmütig aus und Alfredo brutal? Hier und da kehrt sie ein und trinkt einen Espresso, einzige Frau unter vielen Männern in Arbeitskleidung. Die mustern sie von oben bis unten, einer in schmalen Krokodils-Lederschuhen zum Lacoste-Hemd zeit auf ihre hellen Beine. "Bianco bello, bella Tedesca, no Vacanze?" Nein, die Ferienreise hat erst begonnen. Wenn der wüsste, was das für Mörderferien sind.

Warum musste der damit anfangen, gerade hatte sie so angenehm alles vergessen und sich wirklich als Ferienreisende gefühlt. Spielverderber. Sie zahlt und rennt raus, der Regen hat aufgehört, sie läuft immer weiter bis dicht an das Meer, die Anlegestelle vom Vaporetto nach Venedig, klappert mit den Murano-Glasketten an den Buden. Sie trödelt herum, hoch auf die halbrunde Marmorbrücke, die einzige hier mit Reliefs, die Rialtobrücke von Chioggia sozusagen, der weiße Stein des Geländers zum Meer hin glänzt vom Griff vieler Hände. Sie schlendert wahllos und entspannt zwischen den Schiffen und den Läden für den Fischfang, in einem Schaufenster hängen Holztafeln voller Seemannsmotive und geschnitzte Seenixen als Gallionsfiguren, auf dem Vertiko schläft eine fette weiße Katze. Eine neue Welt für die Frau aus Leipzig, denkt Katharina und flüchtet vor dem Platzregen unter die Colonaden mit den Cafés, Schuhgeschäften und Modeläden, studiert lange Kostüme und noch länger Kinderkleider. Nicht sehen, den Gedanken entgehen.

Um die Barockkirche herum und hinein ins Halbdunkel mit dem Geruch aus Lilien und Wachs, lieber wieder raus an die frische Brise zwischen die Lagunen. Nicht frisch, es stinkt nach Kloake, am Seitenkanal wird gebaggert, ein Mann im schwarzen Tauchergummi mit Schnorchel taucht in die Kanalisation, in den grauen Abwasserschlamm, andere vermessen mit  Zollstöcken im Kanalschlick Höhe und Breite der Mauern, Leute stehen und glotzen, sie alle nehmen die seltene Gelegenheit wahr, der Stadt in die glitschigen Eingeweide zu schielen, Lagunenvoyeure. Wo der Froschmann am anderen Ende dort hinten unter den Häusern wohl rauskommt? Was wäre, wenn in diesem Haus gerade ihr Piero wohnen würde? Oder Sohn Sandro versteckt wäre? Der Froschmann könnte ihn greifen und holen, sie würde den Sohn hier aus seinen schwarzen Gummiarmen empfangen, Mamma Mamma, schluchzend würde sich das verängstigte Kerlchen an sie drücken, was macht es da, dass das weiße Kleid schlammgrau wird. Schlammige Träume, weiß Gott, Mamma mia. Weil es um die Mittagstunde wieder regnet, vertreibt sie sich die Zeit in einem Fischrestaurant. Zum hellen Verdiccio di Jesi nimmt sie Antipasta mista aus 'Zigale de Mare', das seien Meereszikaden, erklärt ihr der Kellner, "Specialita, Meeresspinner", sagt er, Meeresspinnen; sie isst das Häufchen feiner, fischiger Fasern aus einer rosa narbigen Schale, die sie am Ende für Sandro mitnimmt. "Ah, Signora, ricordo." Ein Andenken hat sie nicht nötig. Rundherum haben sich alle verschworen, geradezu ein Kindergarten scheint sich aufgemacht zu haben, sie zu quälen. Ein gezopftes Mädchen schaukelt auf der Absperrungskette zur Promenade, Mütter fahren ihre Bambini in Kinderwagen aus bunten Baumwollstoffen vorbei, nebenan muss ein schwarzer Lockenkopf artig mit Messer und Gabel essen und versucht, vom Stuhl zu rutschen, weg zu einem dünnen blonden Glatzkopfjungen, der machen darf, was er will, überall herumkriecht und dem Bernhardiner ins Sabbermaul fasst, danach die Hand ableckt. Die Zwillinge an den Händen eines jungen Paares sehen einmal wieder dem Sandro ähnlich. Nur ein bisschen. Wahrscheinlich bildet sie sich das Meiste ein. Katharina lässt den Rest des Geldes liegen und flüchtet ins Albergo.