Kriminal Tango in acht Folgen
3 Chioggia
Durch Leipzig kreuz und quer wollte er fahren, bis heran an den aufgeforsteten Braunkohlenrand, Espenhain wollte er schon lange sehen, immer wenn etwas im Fernsehen darüber kam. Dann bewundert er die Hardt aus Pappeln und Gras, den neuen Gospudener See, der das Grundwasser ist, das langsam in die aufgegebene Braunkohlegrube steigt. "Nur von Weitem Mondkraterlandschaft ist das Tagebaugebiet", sagt Piero entzückt, "nahe betrachtet, guck doch nur, überall Blüten und Büsche, wie oben in Umbria, sehen wirst du." Hoffentlich, sein Vergleich ist ein gutes Omen. Wir gehen durch Zöbigker, die Kirche ist eine Ruine, hinter Mauern finden wir Reliefköpfe, denen die ätzende Luft sie Nasen weggenagt hat. Das Schloss ist gespalten, unterhöhlt ist das ganze Terrain. Küssen auf dem Vulkan nicht gerade, aber Liebe über dem Abgrund, den Doppelsinn hat er gewiss nicht gemeint. Erotisch ist es gewesen wie nie, ein bisschen makaber wie diese Lithografien im Hinterhaus sind. Aber im Nachhinein interpretiert man manches hinein. Das ganze Leipzig muss es sein, wir fahren in die Stadt hinein, mal mit neuer, ruhiggleitender, mit tiefen Glastüren, mal mit alter, ruckelnder Straßenbahn durch die Straßen, aber immer zwischen den hohen alten Häusern her, ich gucke, den Kopf gereckt, an Markkleeberger, Connewitzer, Leipziger Gründerjahr-, Jugendstil- und noch älteren Stadthausgiebeln vorbei, manche mit Stuck, manche mit leeren hellen Flächen, wo mal ein Schnörkel war, meist halb da und halb fort. Piero schaudert: wem das wohl alles auf den Kopf gefallen sein mag. "Du sei ruhig", hab ich mein Leipzig verteidigt: "Wenn es in eurem Calabrien steht, ist das Alte kunsthistorisch wertvoll, das Zerfallende idyllisch." - "Si, sie, bello, bella Leipzisch", hat er mich beruhigt.
Und wie ich jetzt durch Venedig ging, so ist er durch die Mädler-Passage, um und in die Thomaskirche, das Alte und Neue Rathaus spaziert. Den Kopf hocherhoben, hat er immerzu bewundernd gelächelt: "Wie in Roma, wie in Firenze". Schönere Komplimente kann er nicht machen, das ist mir klar; ohne dass er es je sagte, ohne dass er es recht wusste, hab ich gemerkt, dass er manchmal heimwehkrank war. Madre Italia. "Come Perugia! Bellissima Leipzisch!" Ach, wie liebevoll ist Piero. Wir sind als Touristen durch Leipzig gelaufen, die kann man schon von hinten an ihren Kopfbewegungen erkennen: sie gucken mal rauf und mal geradeaus, mal rechts und mal links. Oben die Mauern, mal pastellneu, mal altersgrau, unten bunt bunt bunt alle Läden und Shops und Bistros, viel wird gebaut, manches ist fertig, der Augustus-Platz ist ein gähnender Krater, für die Tiefgarage. Wir gehen drum herum, hier und am Rathaus wurden Archäologen fündig, meine Türme sah ich und sehe ich von Weitem, Weisheitszahn der Universität, damals haben wir vom Studenten-Café im obersten Stockwerk weit über Leipzig geguckt, darunter arbeiteten Norbert und die 'Kuwis', die Kulturwissenschaftler. Da schlägt der steinerne Mann wieder mit dem Hammer an die Glocke vom Hochhaus, dem der Weisheitszahn den Höhenschneid abgekauft hat, wie die Studenten spotteten.
"Zeig mir dein Haus", drängt Piero. In Plagwitz ist mehr kaputt und unberührt seit 1990 als anderswo. Wenige Häuser sind farbige Inseln im vertrauten Grau, viele sind eingerüstet, wir laufen unter Bauarbeiten im dröhnenden Lärm und schnell, in der Hoffnung, gerade diese Minute falle uns nichts auf das Hirn, wir stehen im Staub, der durch die Ritzen der Trümmerrutschen aufwirbelt. Als wir wieder sehen können, lesen wir Firmenschilder aus allen möglichen westlichen Städten, die sind die Igel all hier, samt einem Architekten aus Köln, bei dem mein ältester Sohn anfangen wird. Neu sind Türschlösser auch dort, wo außer der brettergefestigten Tür nichts mehr heile aussieht, viele Häuser scheinen teilweise leer, in Hinterhöfen lagern Möbel ein, alte und neue. Er bewundert Balkongärten voller Blütenranken zwischen baufälligen Mietskasernen, ein Durchhaus zieht Blicke und Schritte in einen grasigen Hinterhof, in der Ecke inseriert ein Bräunung-Studio, sonst alles verlassen, abgebrochen, Bretter und Steinberge. Angefangen, nicht zu ende geführt. Neue Schilder über alten Türen, wieder überklebt, viele Besitz-'Generationen' seit 1990. Schildchen- wechsel- dich von Firma zu Pleite, der eine hat einen alten Lastwagen, der andere ein Doppelbett auf dem Grundstück hinterlassen, das lagert nun alles zwischen ganz- und halbrenovierten und zerschlissenen Bauten.
Über eine Brücke gehen wir, drunten wird eine Seite mit Platten belegt, die Böschung ist frisch eingesät, das sollen Spazier- und Radwege werden. Vom anderen Ufer hängen Baumzweige über grünliches Wasser. Noch immer sind die Eckhäuser grau, und nur hellere Stellen markieren ehemalige Ornamente, Engelsköpfe und Jugendstilschlieren. Geteilt wird die graue Zeile durch einen Bau aus Glas und blauem Stahl, darüber steht das Schild 'Möbelfabrik' und drinnen neue Möbel. Dann eine große freie frisch geräumte Fläche, in der Ecke bauen noch drei Männer den Rest ihrer eigenen Fabrik ab, wie sie Piero sächsisch erklären. "ABM - das heeßt 'Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme'- nächsten Monat isses ooch aus. Unsern eegnen Betrieb machen wir platt, sind dreie von sechshundert, die hier ihr Läben lang georbeedet habn."