Olav H. Hauge - Europäischer Dichter aus Norwegen

Essay

Autor:
Klaus Anders
 

Essay

Olav H. Hauge - Europäischer Dichter aus Norwegen

Über das Persönliche, das dem Gedicht zugrundeliegt, schwieg Hauge sich aus. Der Goldhahn, also ein quasi-mechanisierter, sich in Byzanz (Miklagard) unter einer Maske verdingender Sänger, knüpft an verschiedene literarische Vorbilder an: Yeats Byzantine Poems, Andersens Des Kaisers Nachtigall.  „Ich denke oft an Yeats Birds of gold  in Byzanz, wenn ich Gedichte von George sehe – er ist so ein Kunstvogel, der singt, das ist Mechanik. Aber was für eine Mechanik!“ (Tagebuch, 25.5.1973)
Hauge verweist in seinem Tagebuch auf die Edda, und zwar auf die neunte Strophe der Vegtamskviða, in der die Völva oder Wala, die Seherin, Odins Wecklied, um sie wegen Baldurs bösen Träumen zu befragen, erwidert: dauð var ek lenge.



Welcher der Männer,     mir unbewusster,
Schafft die Beschwere mir    solchen Gangs?
Schnee beschneite mich,    Regen beschlug mich,
Tau beträufte mich,    tot war ich lange.   (Simrock)

    
Das Totsein ist kein bloßes Leblossein, es ist ein Dasein „unter“, wie es im dritten Vers von Gullhanen heißt. In der Unterwelt, der Hel, dem Totenreich weit im Norden, lebt einer der drei Hähne, die in der Völuspá genannt sind:


Unter der Erde    singt ein anderer,
Der schwarzrote Hahn    in den Sälen Hels.  (Simrock)


Auf Anspielungen an Nervals El Desdichado verweist Aarnes, auf den Ausgestoßenen, der sein Liebstes verloren hat und trauernd die Welt durchzieht und wie Orpheus zweimal – siegend – den Acheron überquert, in Hauges Sonett aus der materiellen Welt in die des Traums und zurück.

Die Traum-Episode ist formal im Gedicht eingeschlossen wie eine Fliege im Bernstein. Doch die Festigkeit der Hülle, der äußeren Welt ist nur scheinbar, sie zerfällt, indem das Ich in den Traum eintritt, und sie ersteht wieder neu, als der Traum das Ich losläßt – so wie es beim Einschlafen und Erwachen geschieht. Aber es heißt: Der Traum schüttelte mich wach. Das Ich erwacht in den Traum hinein.

Das äußere Dasein wirkt traumhafter als das Geschehen, das im Traum real wird. Ist also der Traum die eigentliche Wirklichkeit und das äußere Leben nur Traum eines Traums? Es ist ein Ineinandergehen wie das Schillern auf einer Seifenblase: was gerade noch blau war, ist jetzt rot, was farbig glänzte, plötzlich durchsichtig und klar.
Ich fühlte mich an eine Stelle in Dostojewskis Puschkin-Rede erinnert, wo er von der Tatjana in Eugen Onegin, die unglücklich im Prunk der Petersburger Gesellschaft lebt, sagt:
„Sie hat sogar in der Verzweiflung und in dem Bewußtsein, daß ihr Leben verfehlt ist, etwas Festes und Unerschütterliches, auf das ihre Seele sich stützen, woran sie sich aufrichten kann. Das sind ihre Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre Heimat, an die Landeinsamkeit, in der ihr stilles, reines Leben begann, und wäre es auch nur ‚das Kreuz und der Schatten der Bäume auf dem Grabe ihrer alten Kinderfrau‘. (…) diese Erinnerungen allein sind ihr geblieben, aber sie genügen, um ihre Seele vor der letzten Verzweiflung zu bewahren.“

Hat Hauge in den vierzehn Versen des Sonetts das Geheimnis des Künstlerseins zu Form und Gestalt gebracht? Das künstliche Dasein, das Wirken des Künstlers unter seiner Maske, seiner goldgeschmiedeten Haut, umhüllt es als sein wahres Leben den Traum, der die Erinnerung birgt, aus der es die Kraft zum Aushalten einer zwar als fremd und feindlich empfundenen, aber doch auch aufgesuchten Welt bezieht?

Das Gedicht, das der Künstler, ist es fertiggestellt, von seiner Hand fortbläst, beginnt ein eigenes Leben, die besten Gedichte reichen weit über ihren Verfasser hinaus; er mag sich mühen, doch er wird niemals selbst alle Kammern seines Gebildes betreten und teilt diese Beschränkung mit seinen Lesern, die vielleicht Räume entdecken, von denen der Dichter nicht einmal etwas ahnte, und an anderen achtlos vorbeigehen, die ihm die vertrautesten und liebsten waren.

„Wie dumm man ist!“ schreibt Hauge im Tagebuch. „Es hilft nicht, an Jahren zuzunehmen, man bleibt doch ein und derselbe. Das merke ich, wenn ich Nerval wieder öffne. Das ist mein Dichter! (…) Blake und Nerval sind sich sehr ähnlich. Der Unterschied ist nur, daß Blake der Sieger war und Nerval der Verlierer. Nerval fühlte sich verurteilt von Jugend an. ‚La dernière folie qui me restera probablement, sera de me croire poète,’ schreibt Nerval. Jedes Mal, wenn ich diese Worte sehe, fällt mir ein Stein vom Herzen.“ (15.11.1964)