Postmoderne in der türkischen Literatur

Essay

Autor:
Beatrix Caner
 

Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke

Haben sich die Modernen dem Cartesianismus, dem Positivismus, der reinen Vernunft, der Wissenschaftlichkeit und ähnlichen berechneten und berechenbar erscheinenden Prinzipien verpflichtet und gleichzeitig die Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben, erweitern Postmoderne das Repertoire sowohl zeitlich als auch kulturell, sie stellen Wissenschaft und Magie, Denken und Intuition, Fühlen und Handeln auf eine Stufe der Gleichwertigkeit. Für sie existieren alle Menschen gleichwertig-demokratisch nebeneinander und Erkenntnis kann jeder jedem vermitteln. Das ist eine wichtige Denkbasis, die zunächst sehr human und demokratisch erscheint. Mit dem Fortschreiten der Praxis ergeben sich daraus jedoch Probleme, die zum Teil heute schon sichtbar sind, zum Teil erst in Zukunft massiv zum tragen kommen könnten – befürchten manche Theoretiker. Um einige Bedenken zu benennen, verweise ich auch den Kanadischen Philosophen Charles Taylor, der einige Phänome der „Gleichwertigkeit“ als die „Disnaylandisierung“ der Kultur sieht. Vielleicht ist dieser Begriff eine Abwandlung der Massenkultur Adornos.

Im Diskurs der letzen Jahre erscheint mir auch ein Gedanke Peter Sloterdijks, den er in seinem Buch Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung zum Ausdruck bringt, ebenfalls wichtig: "das Auseinanderbrechen des alteuropäischen Wahrheitsbegriffs." Ein solcher Wahrheitsbegriff ist meiner Ansicht nach nicht nur „alteuropäisch“ – wie auch immer man „Alteuropa“ definieren möchte – Grundlage jeder Ästhetik und jeder Gesellschaft, an diesem Punkt treffen Literatur und Menschen - ob Leser oder Nichtleser - aufeinander. Dieser Wahrheitsbegriff beinhaltet auf der ganzen Welt „das Wahre, Schöne und das Gute“ – mag man es auch anderenorts auch anders formulieren.

Warum diese antiquiert wirkenden Begriffe von Bedeutung sind, werde ich am Beispiel der türkischen Literatur aufzuzeigen versuchen. Vorweg dazu eine weitere Feststellung Sloterdijks:  "Wahrheitsbegriffe sind nicht (…) die Angelegenheiten weltabgewandter Philosophen. Sie sind die ontologischen (das Seinsverständnis betreffenden) Zentralnervensysteme der Zivilisationen; sie entscheiden über die Art und Weise, wie und ob Kulturen sich in außermenschliche Umwelten einfügen; sie bestimmen darüber, wie sich die Kulturen selbst symbolisch ordnen oder desorganisieren. Die Auslegung der Welt und die Strukturierung menschlichen Lebens sind voneinander untrennbar und über das vermittelt, was in einer Kultur als Wahrheitsfunktion in Kraft ist. Dies mag erklären, warum ein Phänomen wie das Zerbrechen eines alten Wahrheitsbegriffs als zivilisatorisches Warnzeichen aufgefasst werden kann. Die voranschreitende Desintegration der Wahrheitsfunktionen taucht alle Erfolge der Modernität ins Zwielicht des Unheimlichen; sie signalisiert, dass etwas "aus den Fugen" gerät, dass etwas nicht mehr stimmt, dass alte Passungen nicht mehr gelten, dass etwas zerfällt, was in der einen oder anderen Weise gleichwohl zusammengehalten werden müsste."

Beginnend mit einer literarischen Interpretation des "Wahrheitsbegriffs" als ontologisches Zentralnervensystem der Zivilisation, das bis in die Alltagsstrukturierung hinein wirkt, möchte ich mit dem letzen Modernen und wohl gleichzeitig dem ersten Postmodernen in der türkischen Literatur beginnen: Mit dem Literaten Ahmet Hamdi Tanpınar (1901-1962) und seinem wichtigsten Roman Huzur/Harmonie (auf deutsch unter dem Titel Seelenfrieden erschienen)
Während des Zweiten Weltkrieges war der Autor Abgeordneter im Türkischen Parlament in Ankara und beschäftigte sich intensiv mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, die ihn zutiefst berührten und ihn in eine Lebenskrise stürzten. (Davon zeugen seine Tagebuchaufzeichnungen, die erst 2009 erschienen sind.) Diesen Krieg, den er als den Untergang der Zivilisation empfand, thematisierte er in dem o. g. Roman. Dieser erschien zunächst 1947 in Fortsetzungen in einer türkischen Tageszeitung, 1949, mit einem Kapitel ergänzt, in Buchform.

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