Postmoderne in der türkischen Literatur

Essay

Autor:
Beatrix Caner
 

Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke

Der Roman (Harmonie / Seelenfrieden) definiert m. E. ein kulturell-philosophisches Problem, dessen Wirksamwerden der Autor nicht zuletzt als die Folge dieses Krieges sieht: das ersatzlose Wegbrechen eines kulturellen Identitätsparadigmas der türkischen Gesellschaft - ganz konkret, die tatsächlich noch in Kraft befindlichen Wirkungselemente einer alten Kultur, ohne eine stabile alternative Weltauffassung an ihre Stelle gesetzt haben zu können.
Formal kann dieser Roman bereits in Teilen als experimentell gesehen werden, denn er folgt sowohl den Regeln einer Symphonie (Oberstruktur) als auch einiger türkischer Musikwerke (Unterstrukturen), was nach der Definition des Literaturwissenschaftlers Ulrich Ernst bereits in die Kategorie experimentelle Literatur gehört. Auch inhaltlich bleibt der Literat nicht bei den Vorgaben moderner Mittel, die eher rational durchdacht und logisch nachvollziehbar wären, sondern setzt, seinem vielseitigen Naturell entsprechend, Elemente aus Mystik und transzendentalem Empfinden, besondere Wahrnehmungsarten und hohe Sensibilität, aber auch Elemente der osmanischen Geschichte und einiger untergegangener orientalischer Kulturen bewusst ein. Obwohl seine diesbezüglichen Bemühungen in der Türkei fälschlicherweise als "Synthese West-Ost" definiert und häufig abwertend als traditionalistisch bezeichnet wurde, möchte ich behaupten, dass es sich dabei um eine sehr bewusste "Umwertung der Werte" – im besten Sinne des Wortes – handelt (Ahmet Hamdi Tanpınar las Nietzsche bereits in seiner Jugend und dieser deutsche Denker hat ihn maßgeblich beeinflußt). Bedenkt man, dass der Druck der Zeit, eine neue Republik unter den vorgegebenen Prinzipien des Staatsgründers Atatürk (Republikgründung 1923), aufzubauen voll im Gange war und dieser Prozess die kulturelle Vergangenheit recht rigoros abschnitt, erscheint mir dieser Gedanke zumindest bedenkenswert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien der Roman 1949 in Buchform. Er ist – um es zeitgemäß zu formulieren - eine poetisch-philosophische Diagnose auf drei Ebenen: auf der individuellen Ebene, auf der Ebene der türkischen Gesellschaft und auf der Ebene der Welt. Der Literat Ahmet Hamdi Tanpınar nannte seinen Roman - trotz jeder fehlenden Harmonie - Huzur, also Harmonie. Es ist jene Harmonie gemeint, in der sich die Welt im Urzustand - wenn man so will, als Gottes Schöpfung – befunden haben soll, als die ersten Menschen noch sorglos – paradiesisch - leben konnten, in einer Harmonie, von der spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr übrig bleiben wird. Die Desintegration der eigenen, türkischen Welt hatte bereits früher eingesetzt - ob mangels eines verinnerlichten eigenen ästhetischen Wahrheitsbegriffs? - und die versunkene, abgelehnte osmanische Zivilisation, von der sich die Republik verabschiedet hatte, riss auch die herkömmlichen moralisch-ethischen Werte mit in den Abgrund. Im Sog dieser inneren Auflösung, in der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges die ganze Welt steht, hat den Türken (als Gesellschaft) den ethisch-moralischen Tod gebracht, denn das große Vorbild, der neue Orientierungspunkt, der Westen nämlich, hält sich selbst in keiner Weise an den großen Idealen, sondern stürzt die Welt ins größte Elend - das macht Tanpınar unmissverständlich deutlich. Eine Schlüsselszene im großen Basar in Istanbul ist eine Spiegelung dieses Zustandes, den wir durch den inneren Monolog der Hauptfigur in einer mitreißenden Konzentration erfahren:

"Zwei schwer nachzuahmende Antagonismen des Lebens, deren Annäherung nicht möglich war, ohne unsere Haut zu beschmutzen und uns in unser Herz zutreffen, trafen hier aufeinander. Schlimmste Elend und erlesenster Luxus … oder das, was davon übrig geblieben war ... Auf Schritt und Tritt traf man auf verjährte Krümel ausgedienten Geschmacks sowie auf letzte große und alte Traditionsbrocken, von denen nicht zu erfahren war, ob und wenn ja, wann und wo sie ihre Fortsetzung fanden. Das vergangene Imperium leuchtete oft in einem dieser winzigen, ineinander verkeilten Läden in der verblüffendsten Gestalt und unvermittelt auf. Kleidung aus alten Zeiten, die von Ort zu Ort, von Sippe zu Sippe, von Ära zu Ära sich verwandelten, neben Teppichen und Kelims, deren Herstellungsort man trotz Nennung schnell wieder vergaß, ihre Farben und Motive man aber tagelang in der Erinnerung behielt, ein Haufen Kunstgegenstände, von byzantinischen Ikonen bis hin zu alten, beschrifteten Bronzeschildern, Juwelen von vor ein-zwei Generationen, die wer weiß welch ehemaliger Schönheit Hals oder Arm geschmückt hatten, konnten ihn mit dem Charme ferner Zeiten und den Mysterien, die ihrem Wesen in dieser feuchten und halbdunklen Welt zugefügt wurden, stundenlang fesseln. Das war nicht der alte Orient, aber der neue war es auch nicht. Vielleicht war es das Leben zur falschen Zeit, das sein Wesen verändert hatte (...)
Der Basar war ruhig, als wäre er ein vom Ägyptischen Markt hierher herübergefallener Tropfen.  
Am Eingang stellte ein winziger Laden eine kleine und elende Resümee jenes alten, wohlhabenden Orients zur Schau, dessen Wurzeln wer weiß bis wohin reichten und bis welche versunkene Zivilisationen führten: Kräuter und Wurzel, an deren Wirksamkeit jahrhundertelang als den alleinigen Mitteln bei einer Störung des Gleichgewichts in Leben und der Gesundheit geglaubt wurde, in verstaubten Glasgefäßen, langen Holzkisten und offenen Pappkartons, sowie Gewürze, denen man mit so viel Ehrgeiz nachgejagt hatte und derentwegen Ozeane überquert wurden.

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