Postmoderne in der türkischen Literatur

Essay

Autor:
Beatrix Caner
 

Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke

Während Mümtaz (die Hauptfigur) diesen Laden betrachtete, kam ihm, ohne dessen bewusst zu sein, eine Zeile Mallermés in den Sinn: "Nach welchem unbekannten Desaster landeten sie hier ..." Hier, in diesem schmuddeligen Laden, an diesem Ort, wo an der Wand handgestrickte Strumpfhosen hingen ... und gleich nebenan, in Läden mit hölzernen Rollläden, Sitzbänken und Gebetsteppichen, die Rätsel der gleichfalls reichen und aus der Ferne betrachtet bezaubernd wirkenden Traditionen aufwarteten, in einer bis in die Ewigkeit jeder Klassifizierungsformel trotzenden Anordnung, in den Regalen, auf Koranlesepulten, auf Stühlen und den Möbeln des Geschäftes übereinander gestapelt, als würden sie ihrer Beerdigung entgegen- oder aber von ihrem Begrabungsort aus herumblicken. Aber der Orient konnte nirgends, nicht einmal in seinem Grab rein sein ... (...)
An beinahe allen Stellen der kleinen Läden waren massenweise Anzüge aufgehängt, wie fertige Lebenskonzepte, individuelles, von allen Seiten abgesichertes Glück. Kaufe dir einen von uns, ziehe ihn an und gehe als anderer Mensch zur Tür hinaus!"

Wie auf einen Müllhaufen geworfen, die alten, Kultur und Identität stiftenden Gegenstände, und gleich daneben billigste Konfektionskleidung aus Kunststoff – ehemals unermesslich Wertvolles neben Schund. In diesem Bild ist eine Vorahnung auf Konfektionsidentitäten der aufkommenden Massenkultur des 20. Jahrhunderts visionär vorweggenommen. Die innere Verelendung der Menschen tritt uns in vielen weiteren Szenen noch krasser, noch verstärkter entgegen. Und Tanpınar benennt seinen Rezeptvorschlag - der übrigens ihm in der Türkei seinerzeit heftige Ablehnung und Ausgrenzung bescherte, so dass er auch in anderen Ländern nicht entdeckt werden konnte. Dabei sind seine kulturellen Vorschläge als zivilisatorische Paradigmen interpretierbar, die für die Türkei das nötige Selbstbewusstsein, aber auch die Denkbasis für eine neue, stabile Identität hätten liefern können. Im Zwiegespräch zwischen einem Realisten, einem Militärarzt, und der Hauptfigur Mümtaz, klingt dieser winzige Vorschlag als eine unumgängliche Rückbesinnung an die eigenen Wurzeln. Und wenn man so will, ist diese Aussage der Punkt, um den sich die türkische Zivilisation selbstbewusst hätte ordnen können – wenn nur der "Orient" nicht ein so vorurteilbeladener Begriff wäre:

"- Der Orient, sagte der Arzt, der Orient mein Lieber, ist träge, dumm, hilflos und arm ... Aber im Inneren entschlossen, sich nicht täuschen zu lassen ... Was kann es für eine Zivilisation denn auch Wertvolleres geben? Wann werden wir lernen, den Menschen innerlich zufrieden zu stellen? Wann werden sie den Sinn von diesem "Sei gut zu dir selbst" begreifen?
- Als ob der Orient es verstanden hätte ..., erwiderte Mümtaz.
- Darauf kommt es nicht an ... Er hat es gesagt, und das genügt."

Wie man aus dem folgenden Textausschnitt erkennen kann, ist die zivilisationsbestimmende Tragweite der Ästhetik, des ästhetischen Verständnisses der Intellektuellen des Landes, bei Tanpınar der zentrale Punkt und wird im ganzen Roman als einer der Haupterzählstränge immer im Vordergrund geführt. In Wirklichkeit allerdings bereits 1939, als der Roman spielt, war das ein verlorener Windmühlenkampf, wie es den Teilnehmern einer Diskussion bereits damals, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, einzuleuchten beginnt:

"- Wir müssen zwei Dinge auseinander halten. Einerseits bedarf es einer gesellschaftlichen Entwicklung. Dies ist machbar, wenn man über die Gegebenheiten der Gesellschaft nachdenkt und sie Schritt für Schritt verändert. Natürlich wird Istanbul nicht ewig eine Region bleiben, die nur Kopfsalat züchtet. Istanbul und jede Ecke des Landes benötigen einen Wirtschaftsplan. Aber zu diesen Realitäten gehört auch unsere Verbundenheit mit unserer Vergangenheit. Denn sie ist, wie heute, so auch in Zukunft, eine der Strukturen unseres Lebens.
Das Zweite ist unsere ästhetische Welt. Streng genommen, unsere Welt. Ich bin kein Ästhet des Unterganges. Möglicherweise suche ich nur etwas Lebendiges in diesem Untergang. Und bewerte sie. (...)
Was die Toten (gemeint sind verstorbene Künstler und Literaten) in meinem Kopf betrifft, sie sind in dir genauso konkret wie in mir. Weiss du, was das eigentlich Traurige ist? Wir sind ihre einzigen Besitzer. Wenn wir ihnen in unserem Leben keinen Platz mehr einräumen, werden sie ihre einzige Seinsberechtigung verlieren ... Unsere armen Großväter, noch mehr unsere Komponisten, Dichter, und alle, deren Namen bis heute überdauert haben, warten nur darauf, unser Leben zu bereichern ... Sie treten uns gegenüber an den unverhofftesten Stellen."

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