Postmoderne in der türkischen Literatur

Essay

Autor:
Beatrix Caner
 

Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke

Das ist der verhallende Appell, sich des "ontologischen Zentralnervensystems" einer Kultur, des Wahrheitsbegriffs gewahr zu werden. Die neuen Kinder, stolz, laut und für sich die alleinige Gültigkeit reklamierend, werden sich allerdings so manches mal als Titanen aufführen, nicht ahnend, das sie sich in ihrer Ignoranz freiwillig in den Mund Chronos begeben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich der Duktus in der türkischen Literatur völlig. Das hat in erster Linie politische Gründe, denn das Land erhält nach 1945 eine völlig neue Rolle in der Welt: Es wird zur äußersten östlichen Grenze der westlichen Zivilisation, ein Bollwerk gegen sozialistische, aber auch gegen einige ungeliebte islamische Länder. Die USA beginnen ab 1946 mit einer inneren Umstrukturierung, die teils öffentlich ist, also im politischen Leben manifest, größtenteils allerdings heimlich erfolgt (so z.B. die Einrichtung einer türkischen „CIA“).
Fortan ist die türkische Literaturszene gespalten. Es gibt sehr wenige Schriftsteller, die sich über die Wirksamkeit von Kulturbewusstsein und einem klassischen Wahrheitsbegriff im Klaren sind – das halten die meisten für veraltet. Die wenigen, die daran festhalten, werden nicht selten ausgegrenzt und heftig angegriffen – wie der oben vorgestellte Ahmet Hamdi Tanpınar. Die Verbindung zur kulturellen Vergangenheit des Landes ist abgeschnitten und erklärterweise unerwünscht, neue Werte müssen her. Zu dieser Auffassung passend positionieren sich viele Schriftsteller aus anatolischen Dörfern, die eine neue Realität installieren wollen und sich die – staatlich forcierte - Literatur der jungen sozialistischen Länder zum Vorbild nehmen. Wie deren Vertreter agieren auch diese türkischen Autoren autoritär und lassen keine andere Meinung als ihre eigene gelten. Geistiges Leiden, intellektuelle Krisen – was man auch abwertend als „Weltschmerz“ nennt - werden als kleinbürgerlich abgetan. Nur der Staat ist beiden Lagern – wohlbegründet – suspekt. Kein Wunder, dass sich Intellektuelle selbst und ihr Land immer mehr in der Krise erleben. Doch die Krise wird beinahe ausschließlich auf die äußere Welt, auf das System geschoben, nur diese Kausalität gilt als legitim. Was darüber hinaus bleibt, ist durchgehend ein ungenanntes – ostmodernes – Unbehagen, gleichgültig dessen, aus welcher Richtung sich die Schreibenden der türkischen Gesellschaft kritisch nähern. Das Zauberwort heißt in der Literatur Realismus, ohne dass sich die Repräsentanten Gedanken darüber machen, wie viele Auslegungsmöglichkeiten von „Wirklichkeit“ gibt.

Aber die Zahl der experimentell schreibenden Literaten nimmt schon ab 1950 merklich zu. Sie stehen in den fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich unter dem Einfluss des französischen Existentialismus, des Surrealismus, aber auch der Psychoanalyse und der Frankfurter Schule. Der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen die militärischen Machtübernahmen, bestimmen Thematik und Haltung vieler Werke. Diese Tendenzen sind sowohl in der Dichtung, als auch in der Prosaliteratur wirksam und es entstehen hervorragende Werke. Ich möchte hier nur wenige Beispiele erwähnen, um später auf zwei Autoren bzw. zwei Romane eingehen zu können. Als ein Genie gilt (im Nachhinein) der Literat Oğuz Atay, der in seinen Werken die Entwurzelung der Intellektuellen in der modernen Welt thematisiert. Wie seine Antihelden, ist auch er, der mittellose, intellektuelle Bürgerliche, an den Rand der Literaturszene gedrängt und mit Totschweigen gestraft. Erst Jahrzehnte später wird er zur Kultfigur der Literatur und ein viel zitiertes Vorbild junger Autoren. Ferit Edgü wendet in seinem weltweit bekannten Roman Eine Saison in Hakkari - wie bereits auch der Titel zeigt - die Intertextualität an, also die Bezugnahme auf andere literarische Texte. Nur erwähnen möchte ich einige wenige, weitere Namen, die dem Kreis der experimentierenden Literaten angehören und Hervorragendes geschaffen haben: Leyla Erbil, Tomris Uyar, Sevim Burak, Pinar Kür, Erendiz Atasü, Elif Shafak, Sadık Yalsizucanlar, Murat Gülsoy, u.a. – alle auch in deutscher Sprache vertreten.

Mit anderen Worten: einige türkische Literaten gliedern sich nahtlos in die Weltliteratur ein und thematisieren Globales bzw. Universales.
Nach 1980, durch eine neuerliche Machtübernahme des Militärs, ändert sich das literarische Leben der Türkei noch einmal einschneidend. Viele Autoren kommen vor Gericht, ein großer Teil wird inhaftiert. Diejenigen, die einer Gefängnisstrafe entgehen, legen sich eine Autozensur auf. Die neuen Autoren, die zunächst so unpolitisch wirken, werden von den Kollegen als "Eylülisten" (d.h. „Septemberisten“, weil der Putsch in September stattgefunden hat) also Kollaborateure der Militärmacht, beschimpft und ignoriert. Allen voran ist Orhan Pamuk einer der neuen, erfolgreichen Namen, den derartige Vorwürfe treffen. Aber eine junge Generation erobert sich in den folgenden Jahren einen Platz in der Literaturszene und drängt die meisten der früheren Autoren vom Platz. Und sie verwenden nicht nur neue Schreibtechniken - wie auch immer man sie beurteilen mag -, sondern auch ihre Selbstinszenierung als Stars ist dem westlichen Vorbild weitgehend angenähert.
Heute ist eine jüngere Generation von Autoren - auch in den Medien - sehr erfolgreich. Schließlich muss die ältere Generation der neuen den Platz endgültig überlassen. Aber Vertreter der alten Generation bekennen nach zwanzig Jahren, dass dieser Wechsel doch gut und notwendig war.

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