Postmoderne in der türkischen Literatur

Essay

Autor:
Beatrix Caner
 

Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke

Um zum ursprünglichen Gedanken zurückzukehren: Zwischen dem Roman Huzur/ Harmonie aus dem Jahre 1949 und das Jahr 1985, als der zweite Roman erscheint, auf den ich hier näher eingehen möchte, ist die Zahl der türkischen Werke, die das Wahrheitsparadigma im Sinne Sloterdijks im Ästhetischen direkt und/oder indirekt und auf hohem Niveau behandeln, relativ gering. 1985 erst erscheint der Roman Gece/Die Nacht von Bilge Karasu, der alle bis dahin gekannten Regeln und Charakteristiken der türkischen Romanliteratur nicht nur auf den Kopf – und in den Schatten – stellt, sondern dem verstehenden Leser regelrecht den Boden unter den Füssen wegreißt. Dabei ist der Roman - bei entsprechender Lesart – eine global zu verstehende Antwort auf das völlige Verschwinden des Wahrheitsbegriffs.

Um Bilge Karasus literarische Intentionen verstehen zu können, bedarf es im Vorfeld der Klärung einiger Begriffe sowie der Herstellung einiger denkerischer Bezüge, da sein Roman Die Nacht sonst nicht richtig einzuordnen wäre. So stellt er z.B. einen Grundbegriff der Literatur in Frage, nämlich die Darstellung der Wirklichkeit, genannt „Mimesis“. Sehen wir zuerst, wie der Umgang der Postmoderne mit der Darstellung der Wirklichkeit ist.

Allgemein gilt, dass in postmodernen Romanen, eine Wiedergabe der "Wirklichkeit", mit anderen Worten angewandte Mimesis, problematisch, mitunter deplaziert ist. So formuliert der deutsche Literaturwissenschaftler Henk Harbers:
"Postmoderne Werke sind durch ein ausgeprägtes Bewusstsein der Sprach- oder Diskursbestimmtheit aller Erkenntnis gezeichnet. Das hat wichtige Folgen für Inhalt und Form. Postmoderne Literatur zeigt eine starke Skepsis gegenüber jeglicher Möglichkeit von wahrer Erkenntnis und einer ordnenden, zentrierenden Rolle des Subjekts. Fragmentarisierung, Pluralisierung, Dezentrierung werden zu Schlüsselbegriffen. (...) Jede so genannte "Wirklichkeitsbeschreibung" wird metafiktional ironisiert und zurückgenommen; die unentrinnbare Abhängigkeit von anderen Texten wird durch intertextuelle Spiele ins Bewusstsein gehoben. Es wird nicht mehr wie noch in der Moderne der Versuch gemacht, einen wenigstens individuellen, subjektiven - wenn vielleicht auch nur im Kunstwerk zu erreichenden - Weltentwurf zu machen, sondern es wird mit verschiedenen Weltentwürfen und mit der Unmöglichkeit zu entscheiden, was "wahr" oder "richtig" ist, ein ironisches, heiter-subversives Spiel gespielt. Von Mimesis in der Bedeutung "Darstellung von Wirklichkeit" bleibt da wenig übrig." ( Harbers, Henk: Postmoderne, Mimesis und Liebesdarstellungen, In: Scholz, Bernhard F. (Hrsg.): Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation, Tübingen/ Basel 1998)


Neben Mimesis war die Sprache als wichtiges Instrument der Realitätsschaffung für Bilge Karasu das große Thema. Sprache und einzelne Worte waren für ihn nicht einfach nur literarische Mittel, sondern „menschliche Programmiersprachen“, mittels denen man Einzelne und ganze Gesellschaften formen und „funktionieren lassen“ – also manipulieren – konnte.
Bilge Karasu war von Beruf Sprachphilosoph, seinerzeit der einzige in der Türkei. Er unterhielt zu den zeitgenössischen französischen Philosophen engen Kontakt (er hatte u.a. einige Semester in Paris studiert), vor allem zu den Strukturalisten und zu den Sprachphilosophen, so z. b. Lyotard und Derrida. Karasu verwendete, nach eigenem Bekunden, viele Erkenntnisse seiner französischen Kollegen in seinen literarischen Werken, weil er die meisten ihrer Ansichten teilte.
Lyotard setzte mit seinen Theorien Anfang bis Mitte der siebziger Jahre an dem Punkt an, dass eine neue Gesellschaft begründet werden muss, die sich anders legitimiert, als die bisherige, kapitalistische. Eine neue Gesellschaft muss neue Paradigmen haben (bzw. sich erarbeiten), die in der Ästhetik begründet sind. Lyotard formuliert Thesen, die in der Praxis der amerikanischen Protest-Bewegung, in der Pop-Art beispielsweise, erprobt wurden aber gescheitert sind: z.B. dass Kunst in die Lebenswelt überführt werden muss, um den Alltag zu revolutionieren. Das Ergebnis in Amerika war, dass die Rebellion gnadenlos vermarktet wurde und zur Ware verkommen ist. An diesem Punkt setzen spätere Kritiker an, wenn sie aus dieser Haltung zur Ästhetik eine "Disneylandisierung" unserer Kultur ableiten.
Viele Denkansätze Lyotards sind richtig, aber nicht neu, so auch die Feststellung, dass Kapitalismus alles zerstört: Traditionen, Bindungen, moralische Verpflichtungen, Identitäten, usw., und reduziert sie auf ihren Tauschwert (Verkaufswert). Lyotard erkennt sehr wohl, dass diese Grenze zu durchbrechen bzw. zu überwinden ist. Die Lösung sieht Lyotard in einer ethischen Ästhetik, die die gesellschaftlichen Paradigmen neu aufstellt und die Herrschaftshierarchien nicht weiter unterstützt, sondern sie zerstört.

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