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Essay
Postmoderne in der türkischen Literatur - Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke
Ein anderer Ansatzpunkt Lyotards ist die Sprache. Hier gibt es viele Gemeinsamkeiten mit Jacques Derrida, der ebenfalls als Theoretiker der Postmoderne gilt. Um nur wesentliche Punkte zu nennen: Sprache ist ein Handlungssystem, das ein rationales Wirklichkeitsmodell schafft und tradiert. Beide Denker plädieren für eine Beseitigung der überholten Sprach-Kommunikation zugunsten einer Bedeutungsvielfalt. Derrida rollt die Bedeutungsgeschichte der Sprache, bis in die griechische Antike zurück, auf. Auch er tritt für eine kritische Überprüfung und Änderung der Bedeutungen ein.
Bei Karasu sind derridäische Ansätze bezüglich der Sprache und ihrer Funktion deutlich zu erkennen, ebenso hat er Lyotards Gedanken über eine ethisch-ästhetische Gesellschaft bis zu einer konkreten Grenze gefolgt zu haben. Diese Grenze ist dort zu sehen, wo Lyotard als Lösung eine Zerstörung der Gesellschaft fordert und die Abschaffung der Zukunft. Diese letzte Intention ist bei Karasu nicht erkennbar, eher das Gegenteil, da er davon ausgeht, dass eine solche Vernichtung vom Machtapparat selbst ausgeführt wird.
Karasu ist sicher auch zerstörerisch, aber sein Paradigmenentwurf ist nicht die Vernichtung aller Werte. In seinem Roman Gece/Die Nacht, läuft statt dieser Zerstörung - auf der unsichtbaren Leinwand - die ideale Gesellschaft mit. Vielleicht aus diesem Unterschied heraus wehrte er sich gegen das Etikett "Postmoderne".
Bilge Karasu: Die Nacht
Historische Vorbilder von einer ganzen Reihe von despotischen / faschistischen Regime bilden im Roman eine Art “Destillat”. Neben dieser literarischen Neuerung, die man als erstmalig in der türkischen Literatur definieren kann, schafft Karasu in diesem Roman eine völlig neue Sprache (neue Worte und eine neuartige Syntax) und eine innovative Erzählweise. Das inhaltliche Hauptgewicht liegt auf einem gesellschaftlich-politischen Thema: Die faschistoid-diktatorische Marschrichtung unserer heutigen Welt. Das ist der Ausgangspunkt des Romans und Ansatzpunkt der “Handlung”. Ins Blickfeld der Leser rücken in erster Linie tiefenpsychologische Reaktionsketten, zu denen Menschen offensichtlich zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt neigen: Die egoistische Angst, Ansehen, Stellung und Macht - letztendlich sogar die Existenz - zu verlieren. Diese Angst kann und wird von den Machthabern beliebig manipuliert und immer wieder von Diktatoren ausgenutzt. Die Hinterfragung betrifft den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, der eigentlicher Erschaffer einer suspekten Schöpfung/Zivilisation ist. Der Autor führt das erste Glied der Kette der Entstehung solcher Unterdrückungssysteme auf die Sprache zurück, in der sich uns Wirklichkeit erschließt (bzw. vermittelt wird): Sprache schafft Realitäten, deshalb müssen wir sie mit besonderer Sorgfalt nutzen.
Allen klassischen Regeln entgegengesetzt verlaufen in dem Roman vier Erzähllinien - durch vier Erzähler/Figuren gestaltet -, mal linear, mal parallel, mal umgekehrt, mal ineinander mündend, fast verwechselbar, und sie ergeben eine eigenwillige Struktur des Romans. Dem Leser erschließt sich eine bruchstückhafte Welt durch eine tastende, erkundende Sprache, die am Ende sich selbst in Frage stellt. Ob die Finsternis der Nacht und ihre "Arbeiter" Wirklichkeit, Traum, Symbol, eine Allegorie oder Thema eines entstehenden Romans sind, bleibt rätselhaft und offen, ebenso die Beschattung des Schriftstellers O., auf den Befehl seines früheren Schulkameraden N. hin, der nun ein Netz von Geheimagenten befehligt. Während in einer fiktiven Stadt die Nacht wie eine alles ausfüllende Masse niedersinkt und sich kriechend ausbreitet, verbreiten ihre unheimlichen "Arbeiter" eine diffuse Angst, spielen an heimlichen Stellen auf Befehl Todesschützenspiele. So werden immer mehr misshandelte und getötete Menschen dem Morgen überlassen. Die Zeit der Helligkeit wird immer kürzer, die Menschen auf der Straße werden immer gleichgültiger und eine grausige Atmosphäre breitet sich aus. Die Finsternis hat sich schließlich als System etabliert.
An einigen Ausschnitten aus diesem Roman möchte ich veranschaulichen, wie in Die Nacht die Genesis "rückwärts", ähnlich wie bei Derrida, aufgerollt wird. Karasu demonstriert, wie ein Zeichen eingeführt und dann dessen Bedeutung als Teil der Machthierarchie gefestigt wird:
"In den Straßen gehen die Arbeiter der Nacht umher. Sie beobachten, in welche Häuser die Brote, die viereckigen oder die ovalen Brote, die langen Brote hineingehen. Jemandem, der wachsam genug ist, entgeht nicht, dass sie sich zwar gebärden, als würden sie nichts von Bedeutung tun, doch so manches Mal doch Folgendes tun: Einer von ihnen geht und macht an einer gewissen Stelle einer Tür ein Zeichen, eine kaum deutliche Markierung. Das ist etwas, was rührige Beobachter irreführen soll. In keinem der markierten Häuser wird viereckiges Brot gegessen; aber das ist kein Zeichen, welches ein Hinweis darauf wäre, dass in jenem Haus Brot von dieser oder jener Form gegessen wird. Noch dazu werden die Türen so gekennzeichnet, als wäre dies ein so gut wie zufälliges Geschehen. Zumindest sieht es so aus."
Bei Karasu sind derridäische Ansätze bezüglich der Sprache und ihrer Funktion deutlich zu erkennen, ebenso hat er Lyotards Gedanken über eine ethisch-ästhetische Gesellschaft bis zu einer konkreten Grenze gefolgt zu haben. Diese Grenze ist dort zu sehen, wo Lyotard als Lösung eine Zerstörung der Gesellschaft fordert und die Abschaffung der Zukunft. Diese letzte Intention ist bei Karasu nicht erkennbar, eher das Gegenteil, da er davon ausgeht, dass eine solche Vernichtung vom Machtapparat selbst ausgeführt wird.
Karasu ist sicher auch zerstörerisch, aber sein Paradigmenentwurf ist nicht die Vernichtung aller Werte. In seinem Roman Gece/Die Nacht, läuft statt dieser Zerstörung - auf der unsichtbaren Leinwand - die ideale Gesellschaft mit. Vielleicht aus diesem Unterschied heraus wehrte er sich gegen das Etikett "Postmoderne".
Bilge Karasu: Die Nacht
Historische Vorbilder von einer ganzen Reihe von despotischen / faschistischen Regime bilden im Roman eine Art “Destillat”. Neben dieser literarischen Neuerung, die man als erstmalig in der türkischen Literatur definieren kann, schafft Karasu in diesem Roman eine völlig neue Sprache (neue Worte und eine neuartige Syntax) und eine innovative Erzählweise. Das inhaltliche Hauptgewicht liegt auf einem gesellschaftlich-politischen Thema: Die faschistoid-diktatorische Marschrichtung unserer heutigen Welt. Das ist der Ausgangspunkt des Romans und Ansatzpunkt der “Handlung”. Ins Blickfeld der Leser rücken in erster Linie tiefenpsychologische Reaktionsketten, zu denen Menschen offensichtlich zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt neigen: Die egoistische Angst, Ansehen, Stellung und Macht - letztendlich sogar die Existenz - zu verlieren. Diese Angst kann und wird von den Machthabern beliebig manipuliert und immer wieder von Diktatoren ausgenutzt. Die Hinterfragung betrifft den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, der eigentlicher Erschaffer einer suspekten Schöpfung/Zivilisation ist. Der Autor führt das erste Glied der Kette der Entstehung solcher Unterdrückungssysteme auf die Sprache zurück, in der sich uns Wirklichkeit erschließt (bzw. vermittelt wird): Sprache schafft Realitäten, deshalb müssen wir sie mit besonderer Sorgfalt nutzen.
Allen klassischen Regeln entgegengesetzt verlaufen in dem Roman vier Erzähllinien - durch vier Erzähler/Figuren gestaltet -, mal linear, mal parallel, mal umgekehrt, mal ineinander mündend, fast verwechselbar, und sie ergeben eine eigenwillige Struktur des Romans. Dem Leser erschließt sich eine bruchstückhafte Welt durch eine tastende, erkundende Sprache, die am Ende sich selbst in Frage stellt. Ob die Finsternis der Nacht und ihre "Arbeiter" Wirklichkeit, Traum, Symbol, eine Allegorie oder Thema eines entstehenden Romans sind, bleibt rätselhaft und offen, ebenso die Beschattung des Schriftstellers O., auf den Befehl seines früheren Schulkameraden N. hin, der nun ein Netz von Geheimagenten befehligt. Während in einer fiktiven Stadt die Nacht wie eine alles ausfüllende Masse niedersinkt und sich kriechend ausbreitet, verbreiten ihre unheimlichen "Arbeiter" eine diffuse Angst, spielen an heimlichen Stellen auf Befehl Todesschützenspiele. So werden immer mehr misshandelte und getötete Menschen dem Morgen überlassen. Die Zeit der Helligkeit wird immer kürzer, die Menschen auf der Straße werden immer gleichgültiger und eine grausige Atmosphäre breitet sich aus. Die Finsternis hat sich schließlich als System etabliert.
An einigen Ausschnitten aus diesem Roman möchte ich veranschaulichen, wie in Die Nacht die Genesis "rückwärts", ähnlich wie bei Derrida, aufgerollt wird. Karasu demonstriert, wie ein Zeichen eingeführt und dann dessen Bedeutung als Teil der Machthierarchie gefestigt wird:
"In den Straßen gehen die Arbeiter der Nacht umher. Sie beobachten, in welche Häuser die Brote, die viereckigen oder die ovalen Brote, die langen Brote hineingehen. Jemandem, der wachsam genug ist, entgeht nicht, dass sie sich zwar gebärden, als würden sie nichts von Bedeutung tun, doch so manches Mal doch Folgendes tun: Einer von ihnen geht und macht an einer gewissen Stelle einer Tür ein Zeichen, eine kaum deutliche Markierung. Das ist etwas, was rührige Beobachter irreführen soll. In keinem der markierten Häuser wird viereckiges Brot gegessen; aber das ist kein Zeichen, welches ein Hinweis darauf wäre, dass in jenem Haus Brot von dieser oder jener Form gegessen wird. Noch dazu werden die Türen so gekennzeichnet, als wäre dies ein so gut wie zufälliges Geschehen. Zumindest sieht es so aus."