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Essay
Die Verfertigung der Welt im Kinderauge. Eine Vorlesung in drei Kapitellen
Organisiert werden die, wenn man so will, Schulschreiberstellen durch den Friedrich-Bödecker-Kreis des Landes Sachsen-Anhalt, der sich um die Leseförderung, um die Schreibende-Schüler-Förderung und Nachwuchsbetreuung kümmert und dabei ein lückenloses Fördernetz vom Grundschüler bis zum Jungschriftsteller aufgebaut hat. In Sachsen-Anhalt, und das ist im Bundesvergleich der Bödeckerkreise recht einzigartig, hat der Verein nach der Abwicklung des letzten Literaturbüros im Land 2004 eine Reihe von Landesaufgaben übernommen, in Außenbetreuung bekommen. So realisiert er etwa eine Begegnungsreihe mit gestandenen und jungen Autoren, hat wichtige organisierende und beratende Funktion bei der Ausrichtung der Landesliteraturtage und gibt vor allem auch die einzige Literaturzeitschrift des Landes, „Ort der Augen“, heraus, die Drähte in zehn Länder geknüpft hat, im Kontakt mit der Welt ist.
Dass ich einmal Schulschreiber sein würde, konnte ich mir erst vorstellen, als ich gefragt wurde, ob ich es mir vorstellen könnte. Gleichwohl ich am Beginn der Amtszeit auf Schriftstellerweise etwas „gehandicapt“ war, ich hatte ein dreimonatiges Stipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf anzutreten zunächst, bin ich heute froh, die Sache in Angriff genommen zu haben … und erleichtert, dass alles gutgegangen ist. Bei Lehrern und Kindern weiß man ja nie. Und bei Schriftstellern erst.
Die schönsten Geschichten, das möchte ich Ihnen in diesem intimen Kreis verraten und Sie dringend bitten, dass das auch ja unter uns bleibt, da ich nicht weiß, ob es für mich spricht oder nicht doch eher dagegen … die schönsten Geschichten sind diejenigen, die die Kinder nach einer aufregenden Sitzung zum Tiger ohne Streifen oder zur Giraffe, die Husten hat, beim nächsten Mal von zu Hause mitbrachten und deren Thema weder in meiner Planung noch auf der Schwelle zum Klassenraum verzeichnet sind. Die wohl anrührendste stammt von Johann, der ein mehr und mehr schönes Timbre zwischen jungmännlicher Coolheit und kreativer Aufgewecktness zeigte und sich Stück für Stück zu einigen der interessantesten Texte des Kurses aufrappelte. Alles Weitere, wenn Sie mögen, finden Sie in dem Buch, das im April im Mitteldeutschen Verlag erscheint, die kleinen und der große Schulschreiber würden sich freuen.
Der Zauberring
Eines Tages ging Lina von der Schule nach Hause. Lina war fast immer sehr traurig, denn sie hatte keine Freunde. Doch heute sollte das sich ändern. Sie ging gerade an einer Hecke vorbei, da sah sie an einem Zweig einen Ring und an einem anderen einen Zettel. Sie dachte: „Das geht mich nichts an.“ Doch war sie zu neugierig und las den Zettel. Auf ihm stand: „Wer diesen Ring findet, kann sich wünschen, was sein Herz begehrt.“ Lina dachte: „Nein, nein, ich lass das mal lieber.“ Aber dann las sie den Zettel noch einmal. Sie nahm den Ring mit. Zu Hause angekommen, aß Lina schnell und lief danach in ihr Zimmer. Als sie dort ankam, dachte sie nach; dann legte sie sich den Ring um. Auf dem Ring war ein Edelstein, der Stein begann zu leuchten. Dann sprach sie ihren einzigen Wunsch aus. Ihr Wunsch war, einen guten Freund zu haben. Und wirklich, am nächsten Morgen war ein Neuer da. Alle hänselten ihn, genau wie sie Lina hänselten. Dann auf der Hofpause lernten sie sich kennen. Lina fragte ihn, wie er heißt. Er sagte: „Ich heiße Timo. Und du?“ – „Ich heiße Lina.“ Nach der Schule ging Lina fröhlich nach Hause und erzählte ihrer Mama, was sie für einen schönen Schultag hatte.
ZWEITES KAPITELL: KEIN MAMMUT MEHR DA
a. Wo der Bartel den Most holt
Die Faszination, meine Damen und Herren, für die Schönheit des Vergänglichen hält uns am Leben. Setzt diese Verlockung aus, sind wir verloren und nur noch das graue Maché, die Pappkameraden, der Unschlitt unserer selbst. Ich habe meinen ungeraden Weg als Autor in völliger Blindnis begonnen: angeekelt noch vom Gedichte-auswendig-lernen-Zwang in der Schule und doch bereits nach einem Ventil für meine Wut, meine Trauer suchend, geschah mir die Lyrik, hölzern und holpernd zunächst, aber doch schon aus Liebeskummer, was für die traurige Karriere eines Gedichtproduzenten als ein gutes Zeichen gewertet werden darf. Der Grund dieses Liebeskummers hieß Annette, die ich aufgrund meiner frühmännlichen Dusseligkeit nicht einfach in den Arm nahm, denn sie wollte mich … aber sie sagte es nicht.
Ich für meinen Teil war schon damals so schüchtern, wie Sie mich hier vor sich sehen; und als ich wenig später, in der Lehrzeit, ein anderes Mädchen schwängerte, war, das sei Ihnen versichert und bleibt unter uns, auch Bedauern dabei über den Verlust von Annette, die dann jemand woanders schwängerte, vielleicht in dem Augenblick meines Bedauerns womöglich. – Ich habe, wofür ich Sie um Verständnis bitte, diese frühen Ergüsse … also, meine frühen Texte meine ich jetzt … wenn nicht vernichtet, so doch versteckt, und ich kann Ihnen sagen, das ist auch gut so, vielleicht würde ich sie heute vernichten. Es sollte noch etwa zwei Jahre dauern, bis ein Text entstand, der bis heute Bestand hat … womit ich nicht gesagt haben will, dass ich ihn noch heute verstehe. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem ersten Band:
Dass ich einmal Schulschreiber sein würde, konnte ich mir erst vorstellen, als ich gefragt wurde, ob ich es mir vorstellen könnte. Gleichwohl ich am Beginn der Amtszeit auf Schriftstellerweise etwas „gehandicapt“ war, ich hatte ein dreimonatiges Stipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf anzutreten zunächst, bin ich heute froh, die Sache in Angriff genommen zu haben … und erleichtert, dass alles gutgegangen ist. Bei Lehrern und Kindern weiß man ja nie. Und bei Schriftstellern erst.
Die schönsten Geschichten, das möchte ich Ihnen in diesem intimen Kreis verraten und Sie dringend bitten, dass das auch ja unter uns bleibt, da ich nicht weiß, ob es für mich spricht oder nicht doch eher dagegen … die schönsten Geschichten sind diejenigen, die die Kinder nach einer aufregenden Sitzung zum Tiger ohne Streifen oder zur Giraffe, die Husten hat, beim nächsten Mal von zu Hause mitbrachten und deren Thema weder in meiner Planung noch auf der Schwelle zum Klassenraum verzeichnet sind. Die wohl anrührendste stammt von Johann, der ein mehr und mehr schönes Timbre zwischen jungmännlicher Coolheit und kreativer Aufgewecktness zeigte und sich Stück für Stück zu einigen der interessantesten Texte des Kurses aufrappelte. Alles Weitere, wenn Sie mögen, finden Sie in dem Buch, das im April im Mitteldeutschen Verlag erscheint, die kleinen und der große Schulschreiber würden sich freuen.
Der Zauberring
Eines Tages ging Lina von der Schule nach Hause. Lina war fast immer sehr traurig, denn sie hatte keine Freunde. Doch heute sollte das sich ändern. Sie ging gerade an einer Hecke vorbei, da sah sie an einem Zweig einen Ring und an einem anderen einen Zettel. Sie dachte: „Das geht mich nichts an.“ Doch war sie zu neugierig und las den Zettel. Auf ihm stand: „Wer diesen Ring findet, kann sich wünschen, was sein Herz begehrt.“ Lina dachte: „Nein, nein, ich lass das mal lieber.“ Aber dann las sie den Zettel noch einmal. Sie nahm den Ring mit. Zu Hause angekommen, aß Lina schnell und lief danach in ihr Zimmer. Als sie dort ankam, dachte sie nach; dann legte sie sich den Ring um. Auf dem Ring war ein Edelstein, der Stein begann zu leuchten. Dann sprach sie ihren einzigen Wunsch aus. Ihr Wunsch war, einen guten Freund zu haben. Und wirklich, am nächsten Morgen war ein Neuer da. Alle hänselten ihn, genau wie sie Lina hänselten. Dann auf der Hofpause lernten sie sich kennen. Lina fragte ihn, wie er heißt. Er sagte: „Ich heiße Timo. Und du?“ – „Ich heiße Lina.“ Nach der Schule ging Lina fröhlich nach Hause und erzählte ihrer Mama, was sie für einen schönen Schultag hatte.
ZWEITES KAPITELL: KEIN MAMMUT MEHR DA
a. Wo der Bartel den Most holt
Die Faszination, meine Damen und Herren, für die Schönheit des Vergänglichen hält uns am Leben. Setzt diese Verlockung aus, sind wir verloren und nur noch das graue Maché, die Pappkameraden, der Unschlitt unserer selbst. Ich habe meinen ungeraden Weg als Autor in völliger Blindnis begonnen: angeekelt noch vom Gedichte-auswendig-lernen-Zwang in der Schule und doch bereits nach einem Ventil für meine Wut, meine Trauer suchend, geschah mir die Lyrik, hölzern und holpernd zunächst, aber doch schon aus Liebeskummer, was für die traurige Karriere eines Gedichtproduzenten als ein gutes Zeichen gewertet werden darf. Der Grund dieses Liebeskummers hieß Annette, die ich aufgrund meiner frühmännlichen Dusseligkeit nicht einfach in den Arm nahm, denn sie wollte mich … aber sie sagte es nicht.
Ich für meinen Teil war schon damals so schüchtern, wie Sie mich hier vor sich sehen; und als ich wenig später, in der Lehrzeit, ein anderes Mädchen schwängerte, war, das sei Ihnen versichert und bleibt unter uns, auch Bedauern dabei über den Verlust von Annette, die dann jemand woanders schwängerte, vielleicht in dem Augenblick meines Bedauerns womöglich. – Ich habe, wofür ich Sie um Verständnis bitte, diese frühen Ergüsse … also, meine frühen Texte meine ich jetzt … wenn nicht vernichtet, so doch versteckt, und ich kann Ihnen sagen, das ist auch gut so, vielleicht würde ich sie heute vernichten. Es sollte noch etwa zwei Jahre dauern, bis ein Text entstand, der bis heute Bestand hat … womit ich nicht gesagt haben will, dass ich ihn noch heute verstehe. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem ersten Band:
beschwerte leidschaft
ich war gewillt den vögeln
auf den grund zu gehen
nachzufliegen nachzufragen
der gemeinen dinge
räume in aufeinanderfolge traurig
ruhnder balkan jede rast das buch
zu zücken was euch hält am wegstück
nachzufragen hauch von ahnen
die zerfallenen brüste
trockenen schnäbel bis zum schluß
der reise
dort am innenraum bemalten
keinen lustfron findend
kalte striche wiederum notiert
zur fühlung eingegeben
von den allerältesten der ziehnden
so beschwert mich leidwort
brach ich auf doch brachen erst die finger
aus dem leib was überzählig
schwang ich mich auf jetzt bin ich
letztlich selber vogel