Die Verfertigung der Welt im Kinderauge

Essay

Autor:
André Schinkel
 

Essay

Die Verfertigung der Welt im Kinderauge. Eine Vorlesung in drei Kapitellen

Dieses Gedicht entstand 1989 oder 1990, es erschien 1994, und es redet vielleicht über meinen geplatzten Traum, Ornithologe zu werden, oder vielmehr über den geplatzteren Traum, den Menschen, indem man sich verwandelt, entfliehen zu können. Karl Mickel, ein wichtiger Autor der Sächsischen Schule, sagt: „Die Wirklichweisen / Wenn die was sagen, sagen die: Naja“ – dieses Naja ist es, das ich einem Teil meiner frühen Arbeit, die, wie wir sehen, mit meinen Kindertexten nichts zu tun hat, sondern ausschließlich mit mir … was ich meiner frühen Arbeit entgegenhalte. Andere sehen das anders, meine vierzehn wirklichen Leser vielleicht, und der eine oder andre halbwirkliche auch. Das will ich nicht kommentieren. Was ich sehe, ist nun ein Weg von etwa zwanzig Jahren, eine Zahl, die mich ein wenig erschreckt, ähnlich wie die Tatsache, dass meine winzigen Töchter, die ich geradeso aus den Windeln geholt habe, gleich elf Jahre alt sind und ihrem werten Herrn einmal auf den sich lichtenden Kopf gucken werden. Ja, mit der Lyrik und den Zumutungen der Welt, werden das Haar kleiner, die Augenringe größer und die Mappen dicker, das ist wohl so. Apropos Mappen: Bis zu meinem ersten Text für Kinder schrieb ich insgesamt 600 Gedichte und bot sie zum wachsenden Leidwesen meiner Verleger auch zum Druck an.

Ich will zudem nicht verhehlen, dass ich gewillt war, etwas Ordentliches zu werden und bin so nach- und miteinander Rinderzüchter, Germanist und Archäologe geworden – aber es war nix zu machen, es ging auf die Schriftstellerei hinaus. Ich versuche das mittlerweile gelassen zu sehen, was in der Gegenwart der allgemeinen Bedoofeimerung nicht leicht ist … und mich an die einzige Strategie zu halten, um selbst nicht doch noch als Doofeimer zu enden: Wacker bleiben.


b. Umwege zur Kinderliteratur


Ich möchte das vorsorglich beschwören, dass ich das so nicht gewollt hatte mit dem Umweg zur Kinderliteratur. Zugegeben, meine Gedichte änderten, öffneten sich aus den schwarzen Hallräumen heraus, entdeckten schließlich sogar das Licht als Metapher – aber an Kindergedichte war vorerst nicht zu denken.
Es fing an in dem Moment, da ich registrierte, wie meine knapp zweijährigen Töchter mit mir kommunizierten. Ich hatte zuvor zwar einige hirnlose Wiegenlieder versucht zu schreiben, es aber wieder und wieder aufgeben müssen, erschreckt von dem Stuss, den ich dabei produzierte. Ich glaube, die Liebe und das Glück zeitigen auch bestimmte Formen der Dummheit, von denen man sich erstmal erholen, mit denen man erstmal umzugehen lernen muss. Dann plötzlich, zwischen Mittagsbrei und Windelwechsel, war es da und schlich mir um den Kopf. Es hatte mit vollen Hosen und dem Wunsch nach höherem Gesang nichts zu tun und ging wie folgt:



Aus dem Nilpferd-Revier

Ein Nilpferd ist ein dickes Biest,
Und zwei sind: dicke Tiere;
Und wenn du sie von hinten siehst,
Denkst du, es sind wohl viere.

Sie gleichen sich wie’s Ei dem Ei,
Und zwei sind in der Mitte –
Sechs Nilpferdbäuche gehn vorbei:
Es hallen dumpf die Schritte.

Und wenn du sie von hinten siehst,
Sei froh und jubiliere,
Weil Nilpferdzorn gefährlich ist
Für kleine Menschentiere. –



Bumm, da war es passiert. Ich hatte die Sache im Kopf, noch die Windel in der Hand, und musste sie aufschreiben. Danach schämte ich mich und versteckte die Nilpferderei für ganze fünf Jahre, bis 2006. Ich gebe zu, mein erstes Kindergedicht war mir furchtbar peinlich. Ich hatte für etwa zehn Jahre schon dem Reim abgeschworen, aus leidlicher Erfahrung, meine frühen Liebeskummergedichte waren sämtlich gereimt und hoppelten schrecklich in ihren Verstecken umher.
Zugleich aber spürte ich, wie sich mein Blick auf das Gedicht änderte bzw. schon verändert hatte. Wie eine Idee in der Welt ist, die nach der ersten Scheiterung in der Versenkung verschwindet, schlich sich der Reim in die dunkle, erhabene Welt meiner Trauer ein und kiekste und nölte, und verunsicherte mich und reimte sich. Ich bin ihn seither nicht mehr losgeworden … und ich muss gestehen, dass es einen Punkt gab, ab dem der Reim mich wieder faszinierte, indem er wenigstens eine Verdopplung meiner ausdrückerischen Möglichkeiten bedeutet.

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