Barackenleben

Prosa

Autor:
Angelika Janz
 

Prosa

Barackenleben

Dabei wäre der Beruf des Dorfchronisten ein Traumberuf, ja, auch für mich, und es gibt Ansätze dort, wo die ABM-Chronisten direkt am Ort, in einem kleinen Büro der jeweiligen Gemeindebaracke, wie es sie überall in den Dörfern noch gibt, ihrer Arbeit nachgehen, meist Tür an Tür mit Bürgermeister, Sozialstation, Kindergarten, Dorfschule und Jugendclub, die von dort aus ins Dorf ausströmen, um ihrem Forschungsauftrag vielfältig nachzugehen, mit Schreibbock, Stift, einem Fotoapparat und manchmal einem Päckchen Kaffee oder Pralinen, um die gewünschten Erinnerungen den schon betagten Bewohnern freudiger zu entlocken, um später wieder unter die heimelige Schreibtischlampe, zum bullerigen Ofen, dem selten nur klingelnden Telefon, das auf einem Brokatdeckchen neben der Büchse mit Bons für die Kleinen, die sich manchmal mit kleinen Zeichnungen und Steinfunden einfinden, erwartungsvoll plaziert ist, zu den Aufzeichnungen in dem großen Buch der Dorfgeschichte zurückzukehren. Die Arbeit des Dorfchronisten ließe sich ausbauen als lebendige Brückeninstitution zwischen gestern und heute, als Anregerin für kulturelle Angebote, ja, als Initiatorin und Ausführende dieser Angebote mit Bildervorträgen, Ausstellungen, Gesprächskreisen, Filmvorführungen, als Schnittstelle zwischen Kultur und Bürgerbelangen. Doch wer heute eine solche Stelle innehat, wartet zumeist Feierabend und ABM-Jahr zwischen Kaffeepausen, Reinigungsarbeiten und Zuarbeiten für den Bürgermeister und für Dorffeste ab, Mitverschworene ist die Hilflosigkeit angesichts der zeitlichen und inhaltlichen Begrenztheit dieser Aufgabe, und meist wird bei Antritt einer solchen Stelle im Dorf bereits der Nachfolger oder die Nachfolgerin, die dann, nach einem Jahr und mehr Wartezeit in Arbeitslosigkeit "dran ist", diskutiert. Der sogenannte Zweite Arbeitsmarkt ist eine einzige große Warteschleife für alle in ihm Beschäftigten, die sich endlos, das heißt bis zur angestrebt frühzeitigen Berentung um die Menschen dreht und sich immer enger um diese Existenzen schließt mit den Namen Überflüssigkeit, Sinnlosigkeit, unaufhaltsamer Kompetenzverlust.
Der aus den 70er, 80er Jahren im Westen entwickelte und intendierte Sinn der "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme" (über dieses Wort lachten wir damals , wie über einen sich selber und das System entlarvenden Begriff ohne zu ahnen, welch tiefer historischer und sozialer Ernst dieses Wort in 1 bis 2 Jahrzehnten bekleiden würde), dieser Sinn ist nirgendwo bekannt noch besteht ein gesteigertes Interesse seiner Vermittler und Träger, des Arbeitsamtes, des Staates, der Kreis-und Landespolitiker, der Beschäftigungsfirmen oder Gemeinden, ihn zu vermitteln:
Die reelle Chance, sich durch Phantasie, Arbeitseinsatz, Fleiß und Identifizierung mit der neuen Aufgabe einen kompetenten festen, unverzichtbaren Arbeitsplatz zu schaffen...
Stattdessen benennt dieses Kürzel einen Defekt, einen Mangel, und es erzeugt neue Defekte und Mängel, eines der Codeworte für die Abrufbarkeit eines verächtlichen (neuen?) Systems, ein Synonym für unentrinnbare Arbeitslosigkeit, für seine zeitweiligen Inhaber im Hinblick auf den späteren Rückfall in die Beschäftigungslosigkeit ein kurzzeitiger vor allem finanzieller Aufstieg, im Hinblick auf seine einstige Beruflichkeit ein Makel, eine Dequalifizierung und Verkleinerung des sozialen Status. Mutlosigkeit, Depression, hohe Krankenstände, zunehmender Verlust an Selbstbewußtsein, familiäre Irritationen und Zerrüttungen, nachbarschaftlicher- und Kollegenneid sind die Folge, immer gibt es solche, die "eher dran sind", was "seine Gründe " hat , die dort eingesetzt werden, "wo man sich den Fetten macht", andere sind da, die jahrelang warten trotz immer neuer Vorsprachen beim zuständigen Betreuer des Arbeitsamtes, trotz eigeninitiierter Bewerbungen, die mittlerweile "alles" machen würden, um wieder in einen wenn auch nur vorläufig sozial anerkannten Status zu gelangen. Und wer einmal aus der Arbeitslosenhilfe raus ist, braucht oft Monate, um den Mut zu finden, Sozialhilfe zu beantragen, wenn ihm nicht die Kenntnis der Sachbearbeiterin, in unserem Dorf damals eine herzliche und mitfühlende Beamtin, zuvorkommt und ihr künftiges Klientel behutsam tröstend, doch dringlich hin zu diesem Schritt überzeugt, der den sozialen Defekt auf unabsehbare Zeit fixieren wird. Heute, 10 Jahre später in Zeiten von Hartz 4 und Ein-Euro-Jobs, die den letzten mutigen kleinen Existenzgründern alle Grundlage rauben, ist diese Frau längst im Ruheestand und das Amt abgewickelt, die ABM ebenso und die Baracken – ersatzlos abgerissen.

Barackenleben, das war die vertraute Verschworenheit mit dem Defekt, die ich übte und pflegte wie andere ihre Bildungskurse, und ich empfinde den Defekt heute längst nicht mehr als Terror einer Geschichte, auf die ja doch jede versuchte Einflußnahme wie eine Verhöhnung wirken muß. Melde den Mangel an, melde ihn zur Bekräftigung noch einmal an, und dann melde dich zu Wort, da man dich nicht erhört. Wenn du dann immer noch nicht gemeldet bist als einer, der was zu melden hat, wo´s nichts zu melden gibt, dann melde dich beim Chef an. Bevor dich aber der Chef meldet bei jenen, die für Meldungen zuständig sind, repariere den Defekt selber und nutze die Zurücknahme deiner Defektmeldung, um anzumelden, wer du bist. Du hast Glück, wenn du bis dahin die Reparatur durchgeführt hast, du hast Glück, wenn du bis dahin willige Helfer benennen kannst. Du stehst nicht so gut da, wenn sie das als defekt gemeldete Objekt mit den mittlerweile in Erfahrung gebrachten Informationen über deine Person und den gegenwärtigen "Leistungsstand" deiner "Brigade draußen in den Maßnahmen" zusammenbringen - dann stehst du als Verursacher des Defektes da und sollst dafür geradestehen. Denn die Meldung eines Defektes entbindet dich noch lange nicht von deiner möglichen Beteiligung am Zustandekommen des neu definierten Schadenswertes. Deshalb wächst dir die Baracke mit jedem neuen Tag ans Herz, als seist du dort zu Hause, und in Zukunft fühlst du dich für jedes Stück, jedes Element, für eine fremdgemeldete Eintrübung der michglasig geriffelten Scheiben in den jägergrün gestrichenen Zwischentüren verantwortlich. Gemäß der in Bildzeitungslettern dort angeschlagenen Aufforderung des letzten Büroleiters der Kompostierung ist diese Tür bei jedem Wetter sorgsam, was infolge ihrer Ungängigkeit ein schweres Amt ist, zu schließen, und wer es vor Zeugen infolge eines eiligen Dranges nicht schafft, entschuldigt sich stotternd noch im Davonlaufen. Daß wir die Fußmatten vor unseren jeweiligen Büros wechselweise ausschlagen, je nachdem, wer gerade die Dringlichkeit eigentlich nur für die Reinigung der Fußmatte vor der eigenen Tür verspürt, das gibt Anlaß zur Hoffnung auf Widerlegungung des bekannten Argumentes vom Dreck vor der eigenen Haustür. Oder ist es als Wink gemeint: Sieh, wir anderen können die mangelnde Entsorgung deiner Fußmatte schon nicht mehr mitansehen? Ich habe mich, entgegen vieler wohlmeinder Ratschläge, immer für eine menschenfreundlichere Version entschieden und mich in das Fußmattenritual mehr nach Gefühl eingebunden: als den sprachlosen Versuch zur  Aufrechterhaltung einer Restsolidarität.