Barackenleben

Prosa

Autor:
Angelika Janz
 

Prosa

Barackenleben

Hallo, meine Schmetterlinge! Seine Schmetterlinge sind meist die übergewichtigen Landfrauen über 40, die an den Barackentischen in Quellekatalogen blättern, und das Blättern in der Ofenumluft, das leichte Flattern beim Umblättern, hat es ihn beflügelt, ihnen so zu schmeicheln?  
Seine größten Leidenschaften sind der Haß gegen den Westen und Kuchen zu jeder Tageszeit, für deren Genußgelegenheiten er unbeschränkte Phantasien entwickelt, wobei ihm die Kaffemaschiene stets treue Assistenz erweist, und wenn wir über Land fahren, erzählt er mir, hinter seinem Steuer geduckt und im gemütlichen Schritt-Tempo haarklein haaresträubende Geschichten von früher, und gruselig angeheimelt wünschte ich mir manchmal, dabeigewesen zu sein. Sein Westhaß ist grenzenlos, nie wird er die ehemalige DDR-Grenze überschreiten, er wäre, so er, der erste, der die Mauer wieder eigenhändig mitaufbaute, und, erwiderte ich, dann dürften Sie Ihren VW Polo und ihren Farbfernseher mit 24 Programmen längstens gestreichelt haben, und Toastbrot kaufen bei Kaisers, wann immer Sie Lust haben, können Sie vergessen. Dann geht das Gerenne um Mehl und Zucker fürs Kuchenbacken wieder los, nicht wahr? Und das intime Wissen über Marienhof und Verbotene Liebe, das dürfen Sie dann wieder für sich behalten. Gebongt, sagte der Mann, das alles geb ich sofort wieder ab. Nur meine Datsche muß bleiben. Das ist ein alter, zu Ferienzwecken umgebauter Bauwagen in einer Campingsiedlung an einem See im Wald nahe des größten unterirdischen C-Waffendepots aus dem 2. Weltkrieg, aus dem die Säfte marode gewordener Fässer und auch verrottete Waffenarsenale langsam ins Schwimm-und Angelwasser versickern. Ich darf mich als ausgesprochen ausgezeichnet fühlen, als Stellvertretrobjekt seiner Verachtung ignoriert, ja zuzeiten gelobt und vor den anderen als "eine von uns" herausgestellt zu werden, und doch sagte er mir einmal, als ich für einige Tage auf Urlaub gen Westen reiste: "Ja, da werden Sie sich ja mit Ihresgleichen gut amüsieren!" Er war klein, aus seinem sonst schmächtigen Leib wuchs ein Bauchballon, den er zuzeiten gartenzwergmäßig mit seinen Händen umfing, deren Fingernägel bis aufs Leben abgebissen waren, und die ganze Statue dieses Mannes, der erst spät eine unauffällige, stille Verkäuferin geheiratet hatte und jetzt mit Mitte fünfzig mit seiner jüngsten von 3 Töchtern im 5. Stock der Plattenbauwohnung abends einige Stunden "kuschelte", wirkte wie an allen Enden beschnitten, mit einer Kettensäge grob an allen beweglichen Enden beschnitten und seine Aura im seelischen Wundbrand entzündet. Er ist eines der vielen hundert Schicksale, die man leichthin als wendekrank  bezeichnet, die ich kennen-und schätzenlernte und vor denen und deren Zukunft mir heute graut. Seine Anhänglichkeit und Herzlichkeit brach übergangslos ab, als ich durch einen Unfall ein halbes Jahr für die Arbeit und somit für meine Aufgabe für immer aus diesen Zusammenhängen gerissen wurde, ebenso die meiner meisten auf fast 30 angewachsenen Kolleginnen und Kollegen "draußen in den Maßnahmen". Für die Arbeitsvertragsverlängerung eines Drittels von ihnen hatte ich bis in die spätere Krankenzeit noch mit Erfolg gekämpft. Das ist die Geschichte mit den Geschenken, von deren Herkunft man nicht wissen kann, ob ihre Annahme den Adressaten diffamiert oder dem Absender schadet. Aber man nimmt sie an, diese Symbole des Beteiligtseins an einem Prozess, von dem die meisten ausgeschlossen bleiben, läßt sie stehen und bedient sich unbeobachtet von Zeit zu Zeit, bis alles verbraucht ist.

Die Punkt 12 gelieferte Pizza wird ungefähr eine Stunde lang nebenan gemeinschaftlich, ja, einträchtig plaudernd verspeist und die wohltuende Plauderpause anschließend ausgedehnt bis zur Kaffeezeit, und wenn bis zum Feierabend überraschend noch Zeit verbleibt, was ungefähr alle 3 Tage angesagt ist, entreißen sie ihren Wohnstubenarbeitsraum nebst Mobiliar nahezu leidenschaftlich wütend und mit geheimnisumwitterten, ernsten Minen der Verschmutzung, die ebenso unausweichlich ist wie die Pausen, im Einsatz viele Plasteeimer voll scharfer Lauge und in Ausübung eines Sprachrepertoires  scharfzüngiger Beschimpfungen gegen die Geschäftsleitung, diese Drecksarbeit vertragwidrig verrichten zu müssen. Sie sind sich einig, im Hinterlassen der Säuberungsspuren, in denen sich der Schmutz täglich gründlicher sammelt, um noch gründlicher wieder entfernt zu werden und mit ihm die vertraute Oberfläche der Dinge, der schon historischen Barackenausstattung, die nur unzulänglich durch Deckchen, Lämpchen, Väschen mit künstlichen Blumen kaschiert bleibt.
Woanders, so erzählen sie sich, die sie alle eine chancenlose ABM-Karriere seit der Wende absolviert haben, woanders in den neuen Häusern und Büros, ist es schön und chic, vernünftig sauber und ordentlich, stolz ist man, auch dort einmal eine Zeitlang untergekommen gewesen zu sein. Doch hierher zurückgelangt ist wie die heimliche Erfüllung einer nie ausdrücklich ersehnten Ankunft in jüngster Vergangenheit, wieder hier, an unseren Tischen, vor unseren Fenstern, mit denselben ungängigen Türen, täglich hantierend mit defekten Türklinken, Fenstergriffen, Ofentüren, Wasserhähnen, Torschlössern, Toilettenspülungen, in einer Atmosphäre alltäglich unbestimmbarer Arbeitsaufträge, die mehr oder weniger in all ihrer Ausbaubarkeit auf Freiwilligkeit basiert, deren Wirksamkeit von Anfang an infragegestellt bleibt, denn die nach einem Jahr erstellten, irgendwie zusammengeschriebenen Chroniken verbleiben in den Archiven der Trägerfirma und könnten nur durch andauerndes und beharrliches Interesse des Bürgermeisters der chronisierten Gemeinde ihrer Sinnlosigkeit bei Bedarf  selten genug entrissen werden.

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