Halbmonddämmerung
Was? Gezi-Park, Taksim-Platz - das ist schon wieder vier Jahre her? Viele der in der aktuellen "allmende" erschienenen Texte beschäftigen sich noch mit dem Nachhall der Ereignisse von 2013, als es noch eine Hoffnung gab, die rigide Vorherrschaft der AKP und ihres großen "Führers" (türk. "Reis", wie Erdoğan von seinen Anhängern genannt wird) zu stoppen. Einigen sind aktualisierende Passagen hinzugefügt, die die anfänglich noch deutlich spürbare Aufbruchstimmung dramatisch relativieren.
Die halbjährlich im Auftrag der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe beim Mitteldeutschen Verlag in Halle erscheinende "allmende" ist soeben für den "gesellschaftskritischen Funktionsraum", den sie laut Jury-Begründung der Literatur bewahre, mit dem Kulturförderpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden. Nun ist bei einem solch heiklen Thema - der absehbaren Verwandlung eines Landes mit einigermaßen demokratischen Strukturen in einen Führerstaat pseudoreligiösen Zuschnitts - natürlich zu fragen, worin denn dieser Funktionsraum noch bestehen kann. In der Türkei selbst gibt es derzeit immer weniger Möglichkeiten zu wirken, wie auch der im Heft interviewte Sascha Feuchert, Vizepräsident des deutschen PEN und zuständig für das "Writers-in-Prison"-Programm, einräumen muss. Ein weiteres Interview mit der Autorin und taz-Redakteurin Fatma Aydemir und auch einige der abgedruckten Essays wie der von Attila Anday können bei aller verbalen Solidarität mit betroffenen KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und JournalistInnen wenig mehr leisten als den Stand der Dinge noch einmal zusammenzufassen und zu beklagen. An Informationen zu deren Lage in der Türkei mangelt es ja nicht. Für einen privateren, intimeren Blick auf die Dinge sorgen die essayistischen Beiträge von Gerrit Wustmann, Şafak Saríçiçek, Barbara Köhler und Selim Özdoğan, die aus unterschiedlichsten Perspektiven ihre Eindrücke und Überlegungen zu den gesellschaftspolitischen Strömungen in der Türkei beisteuern. Überhaupt gibt es anteilig sehr viele Essays zu lesen, erscheint doch diese Form der literarischen Auseinandersetzung dem Thema besonders angemessen. Der Essay steht in Situationen der latenten und offenen Unterdrückung für Aufklärung, Aufbruch, dem Sich-nicht-abfinden mit herrschaftskonformer Berichterstattung und geistiger Eingleisigkeit. Indem die "allmende" diese Form besonders in den Vordergrund rückt, besetzt sie tatsächlich ihren gesellschaftskritischen Funktionsraum.
Die zweite literarische Form, die einem dazu spontan einfallen mag, ist die politische Lyrik, von der wir ebenfalls im Heft viel zu lesen bekommen. Von der direkt ins Auge springenden konkret-poetischen Arbeit "#Resistanbul" von Safiye Can (deren das Werk erläuternde Passagen es im Grunde nicht unbedingt bedurft hätte) reichen die Gedichte über die ironisch-bitteren Wortjonglagen in José F.A. Olivers "erstes notat istanbul" hin zu Achim Wagners Versen von Liebe in schweren Zeiten, wo es heißt:
"ich zupfe deine Haare / von meinem Pullover / und bastle / einen kleinen / schwarzen Galgenstrick / aus ihnen".
Und auch im einzigen fiktionalen Prosatext des Heftes, Deniz Utlus "Die Verbannten", werden Gedichte zitiert und ein poetisierendes Fazit der gesellschaftlichen Entwicklung vom Widerstand zum Wohlstand gezogen:
"Der Auszug in die Luxushäuser war nichts als eine Kapitulation in einem Land, in dem alles, woran wir geglaubt hatten, manchmal ohne zu wissen, was das eigentlich war, in Zeitlupe in sich zusammenfiel."
Die "allmende 99" ist zudem reich bebildert mit Schwarz-Weiß-Fotos, vor allem mit Mehmet Eren Bozbaş' exemplarischen Momentaufnahmen großstädtischen Lebens - auch sie eminent politisch, wenn man sie denn so verstehen möchte. Abgerundet wird das Heft durch eine Vorstellung des binooki Verlages, der sich seit sechs Jahren der Vermittlung türkischer Literatur in deutscher Sprache widmet und dafür im vergangenen Mai mit dem hochdotierten KAIROS-Preis ausgezeichnet wurde sowie Rezensionen zu einigen Neuerscheinungen türkeistämmiger AutorInnen.
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