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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Von Steinen (und Sternen)

Hamburg

Bäume und Sträucher meinten es
gut mit mir
wurden weiß gelb grün
wie zärtliche Schleier
ich träumte sie
oder träumten sie mich

In ihrem aktuellen Buch buchstabiert Ilma Rakusa sich selbst und ihr Universum durch, von A wie Anders bis Z wie Zaun. Die einzelnen Beiträge sind alphabetisch geordnet und handeln von Worten, Orten, Menschen, Lektüren, Autorenkollegen und -kolleginnen, Malern, Farben und Dingen, zu denen Ilma Rakusa als leidenschaftliche Sammlerin eine sehr innigliche Beziehung hegt: „Dinge sind Gedächtnisspeicher, Erinnerungskapseln (-katalysatoren), von der Zeit gezeichnet wie wir selbst. Sie verdienen eine gute Behandlung, ja mehr noch: Zuwendung.“

Ein literarisches Werk, welches seine einzelnen Abschnitte alphabetisch geordnet präsentiert, lässt natürlich sofort an Andreas Okopenkos Lexikon Roman einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden denken. Im Vergleich fallen dann aber mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten auf. Der Lexikon Roman von Andreas Okopenko ist ein fiktives Werk und erzählt eben die Reise des sentimentalen Exporteurs J., während Mein Alphabet von Ilma Rakusa ein als autobiographisch zu bezeichnendes Werk ist. Auch die Art wie beide Werke gelesen werden wollen ist sehr verschieden. Mein Alphabet kann man durchaus von A bis Z durchlesen, beim Lexikon Roman wäre das kaum möglich. Denn der Lexikon Roman ist wie ein tatsächliches Lexikon zu handhaben, um der Handlung zu folgen muss man permanent hin- und herblättern und nach einzelnen Schlagworten suchen. Nach jedem Lexikoneintrag hat man selbst Entscheidungen zu treffen, ob man als nächstes beim angebotenen Schlagwort A oder B weiterliest und zum jeweiligen Wort blättert. Und es ist möglich immer wieder vom eigentlichen Handlungsstrang abzubiegen. Man kann sich somit lesend ein Stück weit seinen eigenen Roman „bauen“, bzw. „basteln“, wie es in der dem Buch vorangestellten Gebrauchsanweisung heißt: „Dieses Buch hat eine Gebrauchsanweisung, denn es wäre hübsch, wenn Sie sich aus ihm einen Roman basteln wollten.“ Die erstaunlichste Erfahrung beim Lesen des Lexikon Romans für mich war, dass man im Lesen desselben überhaupt nicht abschätzen kann, wie weit man im Buch ist, da man es eben nicht von vorne bis hinten liest, sondern wild hin- und herblätternd. Ilma Rakusa hingegen gibt uns keinerlei Anweisungen, in welcher Reihenfolge wir die alphabetisch geordneten Abschnitte lesen sollen. Wir können das Buch naheliegender Weise von A bis Z, also von vorne bis hinten durchlesen. Aber wir können es genauso gut auch nach Lust und Laune lesen und einfach mit den Worten beginnen, die uns gerade am meisten interessieren. Und es würde auch funktionieren, es dem Zufall zu überlassen und das Buch einfach irgendwo aufzuschlagen und zu lesen zu beginnen.

Und noch etwas ist anders als beim Lexikon Roman: die einzelnen Abschnitte von Mein Alphabet sind zwar den Buchstaben des Alphabets zugeordnet, die alphabetische Reihung hört aber, anders als im Lexikon Roman oder in jedem beliebigen Wörterbuch, beim Anfangsbuchstaben auf. Sonst müsste nämlich beispielsweise der Abschnitt zu „Palatschinken, Pasta“ an erster Stelle stehen und nicht an letzter, wie das beim Buchstaben P der Fall ist: Provence / Pantoffeln / Publikum / Prinzessin, Prinz / Plausch / Pappeln / Poetik / Palatschinken, Pasta.

Mein Alphabet ist ausdrücklich autobiographisch, was uns Wendungen wie „Ich erinnere mich an“ verraten. Ausgehend vom eigenen Schreiben berichtet Ilma Rakusa uns darin von vielen persönlichen Erlebnissen und Begegnungen, Freundschaften, Reisen, oder Kindheitserinnerungen. Und  kehrt dabei immer wieder auf das eigene Schreiben und die eigenen Werke zurück: „Angst verschließt, mein Schreiben aber tendiert zur Offenheit.“

Offenheit, das ist auch das Prinzip dieses Buches, das als alphabetische Liste mit unterschiedlich vielen Beiträgen pro Buchstaben per se dazu einlädt, ergänzt und weiter geführt zu werden. Und so stellt man sich im Lesen unwillkürlich Fragen wie: Welchen Worten würde ich ein eigenes Kapitel widmen? Was fehlt um Mein Alphabet von Ilma Rakusa zu meinem persönlichen Alphabet zu machen? Und wo würde ich eigene Assoziationen ergänzen? Denn die assoziative Offenheit des ganzen Unterfangens und die vielen Querverweise auf andere Autoren und Autorinnen regen dazu an, im Lesen eigene Querverbindungen und Assoziationen mitzudenken. So schließt der Beitrag über den Granatapfel mit den folgenden Worten:

Schau ihn an, den Granatapfel. Dann nimm ihn in die Hand. Er liegt gut, er füllt sie aus. Du betrachtest seine Farbschattierungen, denkst an sein vielfältiges Innenleben. Und empfindest ein Glücksgefühl. Nennen wir es rund und rot. Ja, rund und rot. Und zärtlich.

Hier ließe sich beispielsweise ergänzend auf das Granatapfelgedicht von John Mateer in der deutschen Übersetzung von Daniel Terkl verweisen (John Mateer: Ungläubige. Sonderzahl, 2017.):

Der Granatapfel

Er hörte nicht auf, sich mit seinem Freund zu unterhalten,
während er ein paar kleine Granatäpfel halbierte
und für mich in seiner Presse ein
verwässertes Blut machte, […]
Während der Mann sich mit seinem Freund unterhielt,
einem alten Straßenverkäufer von Sonnenbrillen und Selfie-Sticks,
summte ich leise, um
irgendwo weit in der Zukunft
eine Ode zu komponieren an den Granatapfel, diese Freiheit.

Es gibt drei verschiedene Arten, wie Ilma Rakusa sich den jeweiligen Worten widmet: in Gedichtform, einer Art Selbstinterview, bei dem sie sich selbst sehr nüchtern distanziert Fragen stellt und diese dann auch beantwortet, und ihn Prosatexten ohne Fragen. Gedichte, Selbstinterviews und Prosatexte ziehen sich durch das ganze Alphabet. Und es gibt Mischformen, es kann auch passieren, dass Prosatexte stellenweise Gedichtform annehmen um dann wieder zur Prosaform zurück zu kehren. Daran lässt sich erkennen, wie poetisch die Prosa von Ilma Rakusa tatsächlich ist: nur einen Atemhauch entfernt vom Gedicht. Immer wieder werden auch innerhalb von den Prosatexten eigene oder fremde Gedichte zitiert, Zitat und Selbstzitat aus vielen verschiedenen Werken Ilma Rakusas sind ganz zentral im Band:

Der russische Dichter Ossip Mandelstam nannte Zitate liebevoll Zikaden. Ja, Zitate sollen klingen, anders klingen als der restliche Text, in diesem aber zugleich aufgehoben sein, damit ein Ganzes entsteht.

Mein Alphabet ist ein sehr persönliches Buch, wir erfahren darin beispielsweise, dass die Autorin Ilma Rakusa täglich Joghurt zum Frühstück isst, oder auch die genaue Schattierung ihrer Lieblingsfarbe:

Dieses japanische „navy blue“ ist meine Lieblingsfarbe, nur eine Spur von Schwarz entfernt, aber verführerisch abgründig. Immer sind es die Nuancen, auf die es ankommt.

Auch Schwarz, Weiß, Braun und Rot sind im Alphabet von Ilma Rakusa eigens angeführt:

Rot ist die Farbe des Feuers.
Rot ist die Farbe des Lebens.
Rot ist die Farbe der Freude.
Rot ist rot ist rot ist Rose.

Rot sind dann auch die beiden Lesebändchen. Ja, richtig gelesen, die beiden, was ein ungeheurer Luxus in der Buchausstattung ist. Das eine ist hochrot, das andere tiefrot und dadurch, dass es gleich zwei gibt, werden wir dazu eingeladen, das Buch nicht nur in eine Richtung von A bis Z zu lesen, sondern auch mal querfeldein zu lesen, oder den einen oder anderen Umweg einzuschlagen. Dank der beiden Lesebändchen geht man dabei nicht so schnell verloren.

Lieblingsfarben hatten wir bereits, Lieblingsworte dürfen da natürlich auch nicht fehlen, eines davon wäre beispielsweise „Oh!“:

Ein Lieblingswort, weil Ausdruck des Staunens. Rund, rund wie der Kindermund, der es bei jeder Gelegenheit wiederholte. Wenn die Wogen ans Felsufer schlugen und hochspritzten, […] oder wenn die Schneeflocken so dicht fielen, dass man sie – den Kopf im Nacken – auf der Zunge zergehen lassen konnte. Ich war ein Oh!-Kind, ein Oh, schau!-Kind, nimmermüde beim Entdecken und Bestaunen der Welt. Und bin es im tiefsten Inneren noch immer.

Der staunende Blick auf die Welt ist das, was dieses Buch ausmacht und seine große Stärke ist. Wir gehen anders durch die Welt, haben wir es gelesen. Aufmerksamer und achtsamer:

du gehst wie auf Pfötchen
pantofolinisch

„pantofolinisch“, was für ein Wort! Wir finden es, natürlich, im Abschnitt über Pantoffeln. Das macht dieses Buch so großartig, dass es darin ein eigenes Kapitel mit einem Gedicht über Pantoffeln gibt. Ilma Rakusa möchte uns als ihre Leser und Leserinnen vor allem sensibilisieren in unserer Wahrnehmung der Welt und der Sprache. 2017 meinte sie in ihrem Selbstgespräch für Fixpoetry:

Ich sehe meine Rolle, und die ist wirklich bescheiden, aber ich sehe sie wenigstens darin, auf meine Art auf die Welt zu schauen und nicht Aggressivität, Unzufriedenheit und Hass zu schüren, sondern zu sensibilisieren für das, was ist, genau zu sein und auch mal dem Guten, Schönen und Wahren eine Hommage zu bereiten. Es gibt ja auch sehr viel Schönes, man muss es nur entdecken und zur Sprache bringen.

Dem allen wohnt eine große Leichtigkeit und entspannte Lockerheit inne. Mit Ilma Rakusa lässt es sich lernen, wieder absichtslos durch die Straßen zu flanieren, ohne konkrete Vorstellungen oder Ziele, und dabei im besten Fall viel Unspektakuläres und Stille zu finden:

Beim Flanieren lese ich den Alltag, buchstabiere im Unspektakulären, das sich manchmal als viel interessanter entpuppt als gedacht. Und erlebe im Glücksfall kleine Epiphanien, Momente vollkommener Zeitenthobenheit. Mein Voyeurismus ist diskret, ich bewege mich katzenpfotig, und eher auf Schleichwegen als auf ausgetretenen Pfaden. Immer wenn ich der Stille begegne, halte ich inne. Sie klingt überall anders, hat unterschiedliche Vibrationen.

La Vie. Mode D’Emploi lautet ein Buchtitel von Georges Perec – Das Leben. Gebrauchsanweisung. – Natürlich ist jener Roman kaum mit dem vorliegenden Band zu vergleichen, würde ich sagen, die ich beide gelesen habe. Und doch passt der Titel irgendwie zum Band von Ilma Rakusa. Eine Gebrauchsanweisung, eine Anleitung zum anderen, langsameren, achtsameren Umgang mit seiner Umwelt und doch fernab von jeglicher Ratgeberschiene, stets dem Literarischen und literarischen Ansprüchen verpflichtet, das ist Mein Alphabet von Ilma Rakusa. Im Abschnitt zu Interpunktion gibt Ilma Rakusa uns gleichsam eine Leseanleitung ihrer Texte:

Texte, damit meine ich vor allem Prosatexte, behandle ich im Grunde wie Partituren. Was leise und quasi beiseitegesprochen wird, setze ich in Klammern. Soll etwas hervorgehoben werden, stelle ich ihm einen Doppelpunkt voran. Einschübe setzte ich zwischen Gedankenstriche oder in Klammern, damit der Satz als Ganzes nicht zu wackeln beginnt. Der Partiturcharakter meiner Texte appelliert an den Sprechvortrag: die Texte sollen im Idealfall laut gelesen, bzw. vorgetragen werden.

Dass Ilma Rakusa ihre Texte als Partituren beschreibt, kommt nicht von irgendwoher, sondern ist auf ihre große Liebe zur Musik zurück zu führen, als Zuhörerin wie auch als leidenschaftliche Klavierspielerin in ihrer Jugend:

Bach hat mich geformt, musikalisch und menschlich, wenn man das so sagen kann. In der Kombination von Ordnung und Schönheit, Strenge und Freiheit liegt schöpferische Größe, die auch menschlich viel voraussetzt. Doch das Wichtigste: Wenn ich Bach spielte, war ich vollkommen glücklich.

Der Blick ist Richtung Osten gerichtet, die Richtung ihrer Herkunft, wohin es sie als Reisende immer wieder zog. Und auch als Übersetzerin und Literaturkritikerin hat Ilma Rakusa sich sehr für russische und mittelosteuropäische Autoren eingesetzt, ist also Spezialistin auf diesem Gebiet. Osten ist eine Richtung, die Vergangenheit eine andere. Sehr oft geht es in Mein Alphabet um Erinnerungen:

Erinnerung faltet sich aus
als wär sie ein Blatt Papier
beschrieben unbeschrieben
dazwischen fließende Säume
Strandlinien etc.

Der Blick zurück richtet sich auch auf das eigene Schreiben, denn Mein Alphabet ist auch ein Rückblick auf das eigene Gesamtwerk, eine Zusammenschau einzelner eigener Werke, die damit in Beziehung zueinander gesetzt werden. Und wo bleibt die Zukunft? Zukunft ist im Blick auf das schlafende Enkelkind zu finden. Und in dem erst noch zu Schreibenden, dem Ilma Rakusa sehr zuversichtlich und bestens ausgestattet entgegen blickt:

In meiner Tasche trage ich mindestens fünf Kugelschreiber und fünf Bleistifte herum, dazu ein Notizheft. So bin ich für alle Fälle gerüstet.

Mein Alphabet ist ein Buch sowohl für langjährige Ilma-Rakusa-Fans, als auch für Neueinsteiger, die sie damit in ihre Welt einlädt und mit ihrer Art und Weise die Welt zu betrachten und zu bestaunen vertraut macht.

Ilma Rakusa
Mein Alphabet
Droschl
2019 · 312 Seiten · 23,00 Euro
ISBN:
9783990590324

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