Die gesegnete Dings Fruchtbarkeit
Nach der vorzüglichen Nachdichten Ausgabe folgt mit Schöner Sex eine eher merkwürdige, die von Jo Lendle diesmal mit Navid Kermani ko-herausgegeben wird. Trotz einiger gelungener Beiträge ist das Thema an sich heikel, das ist auch einhellig Meinung der Herausgeber und darum ein gutes Thema, weil wohl alle rot werden oder stammeln oder wissenschaftlich nur antworten können, aber definitiv ist es besonders bei diesem heiklen Thema heikel, von 18 BeiträgerInnen genau 3 Frauen zu Wort kommen zu lassen, egal wie kritisch die männlichen Autoren das Thema in Angriff nehmen. Dazu kommt, dass Lendle und Kermani (nicht klar ist, wer für was zuständig) eigentlich ausschließlich alte um nicht zu sagen klassische Literatur bemühen, um – was genau eigentlich herauszufinden oder zu beleuchten? – Schöner Sex von literarischen Perspektiven aus zu präsentieren. Ein treffenderer Titel wäre eher Alter Sex. Wir begegnen Hafis und Rumi und dem Hohelied Salomos und der Bibel, um Stellen zu finden, die vom Verspeisen, Gärten und Reiten und ähnlichem Erwartbaren handeln, auch Kleist und Heine und mittelalterlicher indischer Dichtung, aber keiner einzigen jungen, zeitgemäßen Stimme außer Margarete Stokowski, als ob es derer keine anderen gäbe, und ansatzweise dem Chinesen Liao Yiwu, dessen eigenartige Lyrik-Beiträge definitiv zu den besseren des Hefts gehören, auch der schottische Dichter John Burnside kommt vor, allerdings mit einem Prosatext, ebenfalls einer der besseren Beiträge. Der Rest versucht, irgendwie zu antworten wie bei einem creative writing Kurs: Hefte raus, schreiben! Thema: Schöner Sex! Was immer einem einfällt. Wie angedeutet, geht es den meisten darum, wie schwierig es sei darüber zu schreiben, beziehungsweise latent: welchen zu haben, wie sehr Sex und Gotteserfahrung möglicherweise identisch sind (sic!) oder zumindest irgendwie einander gleich gestellt sind – das als wissenschaftlich-philosophische oder essayistische Antworten.
Doch zu den Beiträgen selbst. Den Anfang wie auch das Ende macht der Ko-Herausgeber Kermani selbst mit jeweils einem Ausschnitt seines neuen Romans Vielleicht Paris, die beide relativ blass bleiben und im Prinzip eher den Stellenwert einer Werbeanzeige für das Buch einnehmen. Mit Bezug auf Proust soll hier die Aussage vorgetragen werden, dass sogenannter Schöner Sex schon bei ihm keinen Platz eingenommen habe, darum sinnlich nur anhand Weglassen sei und dass es in Vielleicht Paris maximal um das gemeinsame Atmen gehe. (Zu diesem Thema sei nebenbei Anne Carsons kürzlich erschienener Band Albertine empfohlen.)
Anschließend folgt eine kurze Erzählung von John Burnside namens Schnell, jetzt, hier, jetzt, immer, die ironisch zwar im Titel, jedoch ernst und liebevoll die Erlebnisse (eine Art Initiation) eines 70er Jahre Kiffers schildert, der sich mit Sci-Fi, Raumfahrten, Neil Young und anderer Musik zwischen Rausch und Psychonauten durchs Leben träumt und seinen Erinnerungen erliegt.
"Man sagt, nur die Liebe breche einem das Herz (jedenfalls hat Neil Young das gesungen), aber ich bin anderer Ansicht. Man muss lange leben, um dies deutlich zu begreifen, doch ist die Liebe das Einzige, das dir nicht das Herz bricht, auch wenn sie, wie eine große Sängerin mal meinte, höllisch wehtun kann. Nur bricht sie dir nicht das Herz [...] Aretha hatte sich ihre Worte gut überlegt: Love hurts like hell. Ja. O ja. Das auf jeden Fall."
A.L. Kennedy schickt auf einem kurzen spröden Essay einige (harte) Regeln allen auf den Weg, die über (schönen) Sex schreiben wollen. Nach ihr, solle das stets im Rahmen der Figurenpräsentation stehen. Sozusagen als eine Tätigkeit mit demselben Wert wie andere körperliche Aktivitäten, z.B. Rasenmähen. Kennedy positioniert sich klar und lesbar und nicht ohne den ihr eigenen Witz:
"Sex ist ein Problem. Die Schuldgefühle, der Genuss, das wilde Verlangen, die übergriffigen Notwendigkeiten und die würdelosen Verrenkungen [...] Vielleicht ist er die Wurzel von allem."
Liao Yiwu antwortet mit märchenhaften, verklausulierten Miniaturen, deren geheimnisvolle Schilderungen einen unheimlichen Boden aufmachen, auf dem seltsame Dinge zusammenkommen (wenn auch nicht frei von den " Metaphern").
"Flucht
Ich bin ein streunender Hund, weggelaufen ist mein Beruf in diesem Leben.
Alles, was wächst rund um dich ist mein Feind, jedes Gras, jeder Strauch. Liebe, ich weiß, du bist schön, ich kann mich sehr gern an dich gewöhnen. Aber ich kann dich nur im Rennen lieben. In meinem Rücken stecken so viel eingebildete Messer, ich stöhne vor Schmerz, wie viele Berge muss ich überqueren!
Schau dir die Straße nach Westen an, wie ein Wurm, der sich in einer riesige goldglitzernde Muschel bohrt. Auf und zu, das ist genau unser Orgasmus in diesem Bett... Und dann der Tiefpunkt... In zwei Hälften gespalten sein und todeinsam."
Es folgen jene Beiträge aus dem Hohelied Salomos und ein Gedicht von Moshe Ben Esra aus dem maurischen Andalusien, die beide eher auf Rehe und Genießen ihren Fokus legen, was auch für die späteren Beiträge Heines, Rumis, Hafis ("Ich lasse nicht ab/ von meinem Verlangen,/ bis sich mein Verlangen erfüllt") und Kleist gilt.
Elliot Wolfson liefert nicht uninteressante schmucklose Gedichte, die in Wort=Vers Komposition sich dem Thema abstrakt nähern und mit den "Älteren" zu kommunizieren scheinen.
"liebesbluten
in schnitten
allzu flach
blutet liebe
ihre beste
gewohnheit
gewöhnlich
indifferent
gegenüber knochen
vermengend
im sarg
finster blickend
vor freudigem
kummer
leibhaftig
wie geist
von granit
reinigend
verkrüppelt
jenseits
des zuviels
an leidenschaft
geschrumpft"
Margarete Stokowski schreibt ein "Lehrgedicht" namens "Wie man über Sex schreibt", das in typisch rotziger Art in folgender Strophe endet:
"[...]
Du musst die Luft darüber abgreifen
in einem kurzen Moment
nicht wie ein Spanner
nur wie jemand, der einen Schmetterling fängt im Netz
kurz betrachtet
wieder loslässt
und wehe der stirbt dabei
Du perverse Sau."
Dietmar Dath bringt ein Stück seiner spektakulären, hyperaktiven Kurzprosa, die scheinbar zu explodieren scheint vor Einfällen, Einsprengseln und Meta-Dingen, und es doch immer wieder schafft, Orte zum Verharren in seine Texte einzubauen. In "Sex kann nicht mehr. Nix Erzählung" schreibt er:
"Wie du lachst.
Als du erkältest warst, wolltest du mich nicht anstecken, da hast du mich halt nur in den Hals beißgeküsst. Dann bist du abgehauen nach Schnee, und dann bist du nicht zurückgekommen, und dann hast du eine SMS geschickt, was soll ich denn jetzt damit machen? Soll ich dich jetzt lieben? Tu ich eh.
Wie war die Welt gedacht?
Pornogeräusche und Nebelhorntuten, so war die Welt gedacht."
[...]"Der Schöpfer redet in Zitaten.
Die Schöpferin in Anekdoten.Schöpferin und Schöpfer gehen ins Theater. Das Stück heißt: Nicht utopisch. Es ist nicht von mir, sondern im Gegenteil: Ich bin von ihm.
Es ist kurz und geht so:
MISS HORST: Sex ist, wenn wir zwei Scheiben Brot im selben glühenden Toaster sind.
HERR SUZY: Sex ist [...]"
Bevor es mit einem Essay über Augustinus, den Theoretiker der Erbsünde und der Urschuld und danach dem frühindischen Dichter Annamayya und anschließend Kleist und Rumi wieder rückwärts in antikes oder (fast) akademisches Territorium geht, hat Mircea Cartarescu Raum, um frei und elegisch in einem Prosatext namens "Lapislazuli" über die Gleichsetzung von Liebeskummer (-entzug) und Drogenabhängigkeit zu sinnieren. Der Text ist sanft, lässt sich Zeit. Ein starker Beitrag.
"Ich war randvoll von ihr, wie eine Flasche von deren Inhalt. Wie konnte ich mich ihrer entleeren und wieder transparent und heiter sein?"
"Ich kann mich an unseren endgültigen Streit erinnern, [...] sehe sie eines Abends auf einem Motorrad am Rücken eines Unbekannten verschwinden [...] Ihr Badeanzug hinterlässt einen Fleck auf meiner Netzhaut, als hätte ich direkt in die Sonne geschaut."
László Földényi nähert sich essayistisch dem Thema Sex und Pornographie im kommunistischen Ungarn der frühen 60er, das es praktisch per Doktrin nicht gab – also seine erste Begegnung, ist das Tauschen von Bildern von Hausschweinen bei der Paarung in der Schule gewesen. Er kommt auf Keats zu sprechen, Calvin und Körperlichkeit, verliert sich gegen Ende in einem verflüchtigenden Sex-ist-schön Finale, das Lustempfinden und Unendlichkeit zueinander in Beziehung setzt. Wobei wieder die angesprochene Gleichsetzung von Sex und Gotteserfahrung (keusch, wohl) auftaucht, die hier schon in den antiken Texten und Essays aufgetaucht ist und mit einem abschließenden langen wissenschaftlichen Text mit ausgiebigem Handapparat von Almút Sh. Bruckstein über Maria Magdalena und Shulamit in Talmud und Midrasch zurückkehrt.
Das Problem der akzente 3 ist, dass das Thema nicht fassbar ist, bzw. die Basisfrage der Näherung fehlt. Worauf will man hinaus, wozu sollen sich die AutorInnen genau äußern? Am Ende ist eine persönliche Auswahl an Texten entstanden, die, nicht repräsentativ außer für die Herausgeber selbst, sich zu verschiedenen Aspekten äußern. Einige sehr schön, die meisten eher zwangsmäßig amalgamiert zu einem Ganzen, das sich nicht entscheidet, über Sex beschreiben zu schreiben, Sex zu definieren oder Sex und Liebe in irgendeiner Form literarisch oder philosophisch gleichzusetzen. Eher enttäuschend.
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