Vom Aufspüren des Ästhetischen
Tobias Roth ist ein poeta doctus, einer jener selten gewordenen gelehrten Dichter, die es vermögen, ihrer Leserschaft neben der Freude am Wort durch das Mittel der Poesie auch Zugang zu Wissen und Verstehen zu verschaffen. Die einem ganz breiten Publikum vermittelbare Geschmeidigkeit etwa eines Jan Wagner mag ihm abgehen - seine Gedichte sind etwas spröder und aufs erste Ansehen hin weniger leicht zugänglich. Doch Roth, Jahrgang 1985, neben seiner Arbeit als Lyriker auch Übersetzer und Essayist, hat sich bereits vielfach als intimer Kenner literatur- und kunstgeschichtlicher Aspekte vor allem der Antike und der Renaissance profiliert, und mit seinem aktuellen Gedichtband "Grabungsplan" schließt er direkt an dieses Arbeitsfeld an.
Der Klappentext verspricht der Leserschaft "eine Route durch Schichten und Geschichten Europas", wobei der geographische Schwerpunkt eindeutig auf Italien liegt, was angesichts der epochalen Stichworte "Antike" und "Renaissance" natürlich kein Zufall ist. Auf insgesamt 180 Seiten und in dreizehn unterschiedlich langen Kapiteln legt Roth seine "Aneignung und Wiederaneignung europäischer Traditionen" als Spur durch die Jahrtausende europäischer Kulturgeschichte an. Er versieht seine Verse mit zahlreichen erklärenden Hinweisen und einem für einen Gedichtband stattlichen Anhang mit Personen- und Figurenregister. Auf den ersten Blick mögen sich vielleicht Teile seiner Leserschaft von der Fülle an Information erschlagen fühlen oder die zahlreichen fremdsprachlichen Einsprengsel als pures "name-place-experience-dropping" auffassen; das aber wird Tobias Roth in keiner Weise gerecht.
Roth konstruiert aus seinen eigenen Worten, aus Zitaten von Geistesgrößen vergangener Jahrtausende, aus den kongenial-postmodernen Illustrationen Ibou Gueyes und der einfühlsamen graphischen Gestaltung durch Andrea Schmidt etwas wie eine Papier gewordene Parallelwelt aus präziser Beobachtung und Beschreibung, welche gleichzeitig reiche Assoziationsketten und Gedankenbilder zu erzeugen imstande ist; er strukturiert die von ihm geschaffene Ordnung minutiös bis ins Detail: so ist der Gesamttext zu Beginn und am Ende von je einem Langgedicht über mehrere Seiten begrenzt; so werden die Kapitel jeweils graphisch durch eine Untertitelseite abgeteilt, die die Textur von verblichenem Marmor assoziieren lässt; so wird jedem der Kapitel ein fremdsprachliches Zitat vorangestellt; so tauchen etwa immer wieder Variationen des Gedichtes "Girlande" auf, die mit der gleichen Motivik um Zitrone, Lorbeer, Akanthus, Süßwasser und Sellerie operieren und jeweils mit dem Satz enden:
"Nie mehr Dürre, in den Fresken."
Diesen sich durch ihre mehrfache Reprise erst auch formal zur Girlande stilisierenden Gedichten sind jeweils die Illustrationen Ibou Gueyes gegenübergestellt, welche mit grafischen Zitaten und surreal anmutenden Kombinationen alt und neu in eins weben.
"Und in einer Hymne an den Tag wird / der Tisch der Sehnsucht abgeräumt. / Zusammensetzen von Gliedern / neuer Ruinen (kurz: Erinnern), / Fragmente wälzen, aber nicht / wie den Stein den Berg hinauf. / Feile zu Pfeilen, Flügel zu wunderlichen Händen."
Hier wird nicht einfach mit lautlichen und optischen Verschiebungen Vergangenes als Gegenwart inszeniert. Das ist wirklich ein Grabungsplan, eine Handreichung für die Wiederentdeckung erhaltenswerter kultureller Wurzeln, die viel tiefer rühren als es dahergestammelte Lippenbekenntnisse europäischer Politiker und flachstirnige Diskurse um vermeintliche Identitätskriterien vermuten lassen. Doch Roth wird kaum je über ironische Anmerkungen hinaus explizit politisch. Er beschränkt sich diesbezüglich auf Randnotizen, so etwa in einem Zitat Antonio Cammellis, in dem dieser im Jahre 1490 die Frage beantwortete, wo Italien schlafe: Zwischen Crassus und Midas, "zwischen zwei enorm ambitionierten, aber wenig fähigen Geldsäcken also", wie Roth im Anhang resümiert (ein Schelm, wer dabei sofort eine Parallele zu Michele Ferrero und Silvio Berlusconi ziehen mag). Roths "Botschaft", wenn man es so ausdrücken möchte, ist eher seine Leserschaft auf die erstaunlichen Details des Wahrnehmbaren hinzuweisen, die im Extremfall auch einmal die Umkehrung des Erwartbaren vollziehen: so in dem Gedicht "Antikes Glas", in welchem er die beschädigte Gegenwart in Gestalt des eigenen Auges angesichts eines zerbrechlichen, aber intakten Artefakts aus der Vergangenheit benennt:
"Es weiß nur seine Unversehrtheit. / Da lächelt es, / es wird sich nicht beugen, nur brechen, / aber auch das nicht mehr, / während ich hindurchblicke; / geplatzte Adern im Auge, wie ich sehe."
Seine Gesellschaftskritik ist also zwar nur zwischen den Zeilen zu lesen und doch stets präsent; in seinen Gedichten jedenfalls einen bloß restaurativen oder gar rückwärtsgewandten Grundcharakter hineinzuinterpretieren, die weinerlich Vergangenem hinterherspürt, hieße Tobias Roths Auseinandersetzung gründlich misszuverstehen.
Auch ein feines humorvolles Moment kommt bei dem das Publikum zum permanenten geistigen Mitschaffen fordernden Bildungsreigen nicht zu kurz. Als Beispiel sei hier das Gedicht "Urkunde" angeführt, einem einzigen augenzwinkernden hypotaktischen Monstersatz, der zugleich die wissenschaftliche Genauigkeit und die geballte sinnesbasierte Leidenschaft des Lyrikers Roth zum Ausdruck bringt:
"Der Bildhauer (vermutlich) Desiderio, / geboren (vermutlich) 1430 in Settignano / gestorben 1464 in Florenz / wird von mir für die kleine Falte, / die der Marmor auf dem Rücken, / der Büste der (vermutlich) Marietta Strozzi, / für einen Preußenkönig durch / den Kunsthistoriker Gustav Friedrich Waagen / angeschafft 1842 in Florenz / für 20 Francesconi, also (vermutlich) / 4.154 kg Silber, vermittelt (vermutlich) durch / den Maler Cesare Mussini, heute / Bode-Museum, Skulpturensammlung / der Staatlichen Museen zu Berlin, / Inventarnummer 77, wirft, heiliggesprochen."
Ja, lesen Sie das ruhig noch einmal.
Nur wenige Texte fallen aus der konstatierten Ordnung etwas heraus; dies entweder aufgrund ihres Duktus' wie das kurze, überraschend nüchterne Gedicht "Vorsicht" über eine von Schädlingen befallene Kastanie, oder aufgrund ihrer geografischen Verortung wie der "Hahnenkampf", welcher offensichtlich auf den Philippinen stattfindet (zu der aufgeputschten Rohheit in Form von zusätzlichen Metallspornen an den Klauen der Vögel finden sich hierzu allerdings heutzutage in Europa auch kaum noch Entsprechungen). Auffallend ist, dass es sich bei diesen als latenten Fremdkörpern empfundenen Versen allesamt um Widmungsgedichte handelt, die dem Gesamtbau des Buches jene Brüche beifügen, welche die zart durchscheinende Struktur erst wirklich sichtbar machen: eine grandiose Fügung aus Landschaft und Architektur, eine permanente wechselseitige Bezugnahme von Ornamentalem und Zweckgebundenem, eine konsequente Auseinandersetzung des Belebten mit dem Unbelebten. Der materiale Roth'sche Kosmos besteht aus
"Eisen Stein Ranke Fleisch"
und postuliert sein Programm mit den Worten
"alles ist zusammengesetzt, / alles Zusammengesetzte ist schön."
Selten wird man von einem Gedichtband derart an die (gleichwohl zu jeder Zeit hoch gefährdete) Unverbrüchlichkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart erinnert; jeder Halbsatz, jedes Wort von Tobias Roth nimmt die Schwingungen der Antike und der Renaissance auf und übersetzt sie in eine zeitlos gültige Sprache, die sich damit weit über die postmodernen Verfugungen sperriger Einzelaussagen und über die reine Stilisierung erhebt.
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