spät ist es, spät
Ein Halbsatz aus einem Carpi-Gedicht ist Titel dieser Auswahl aus vier Lyrikbänden, die in Italien seit 1990 erschienen. Carpi? Nicht viele werden von ihr gehört, noch weniger ein Gedicht von ihr gelesen haben, vielleicht ein paar, die Italienisch so gut beherrschen, dass sie sich in die Feinheiten, Verästelungen, Geheimnisse der Poesie in Originalsprache wagen können. Denn bislang war kein einziger Band mit Gedichten der italienischen Germanistin und Slawistin in deutscher Übersetzung erhältlich. Carpi selbst hat sich als Vermittlerin deutscher Dichter angenommen, hat u.a. Gedichte von Rilke, Celan, Enzensberger oder Heiner Müller übersetzt, aber auch Werke von Nietzsche und Trotzki. Neben ihren eigenen Gedichten verfasste sie Romane, darunter einen über das Leben Kleists.
„spät ist es, spät“ lautet eine Zeile eines anderen Carpi-Gedichts. Letztes Jahr wurde die Dichterin 75 und es ist dem halbrunden Geburtstag zu verdanken, dass nun spät, nicht zu spät dieses zweisprachige Buch mit Gedichten vorliegt, an deren Auswahl Carpi selbst mitgewirkt hat - links die italienische, rechts die von Piero Salabè übersetzte deutsche Fassung. Manches daran irritiert. So notiert Carpi nach einem heftigen Unwetter „odore acuto della terra madre“ und ich kann den Duft feuchter Erde sofort riechen. Salabè macht „der stechende Geruch von Mutter Erde“ daraus, was mir verfehlt scheint. Doch für eine eingehendere Analyse reichen meine Italienischkenntnisse nicht.
Kennzeichnend für Carpis Lyrik ist das Fehlen der Titel. Mit dem ersten Wort, dem ersten Vers fällt man unvermittelt hinein ins Ungewisse ihres Gedichts. Selten steht anstelle des Titels eine Widmung, „Für M. Yourcenar“ etwa oder „für Bert Brecht“, die der Orientierung hilft. Bei den wenigen Texten allerdings, die sich über mehr als eine Seite erstrecken, erschwert das Fehlen der Titel manchmal, Anfang und Ende eines Gedichts zu erkennen.
Carpi scheut sich nicht, „ich“ zu sagen und es ist wohl nicht falsch, dieses meist als autobiographisches „ich“ zu lesen. Durs Grünbein schreibt darüber in seinem informativen Nachwort: „Die hier vorliegende Dichtung ist mit jeder Faser Bekenntnispoesie“, ein schreckliches Wort, das abwertet, weil meist „schlicht“ und „unreflektiert“ gemeint ist, und das in seiner lehrerhaften Strenge weder Stil noch Inhalt dieser Gedichte gerecht wird. Doch Grünbein setzt erklärend fort: „Plötzliches Geständnis, blitzhafte Selbsterkenntnis, strenge Lebenseinsicht – eine Schule der Desillusion, Schule des Abschieds.“ Und an anderer Stelle, treffender: „Ein Streichholz flammt auf und erlischt – so funktioniert das Gedicht. Und die Carpi beherrscht die Kunst, diesen kostbaren Moment festzuhalten“.
Zwei Stücke, immer dieselben, bin ich:
eine Sonate für Violine und Orchester,
der Welt gewidmet –
doch diese Geliebte hat scheinbar anderes vor.
Das zweite ist ein Solo
für Stille und Flöte,
Block- und Querflöte, reine Selbstillusion.
Bis jemand im Nebenzimmer
sagen wird: Genug jetzt.
Hier ist keine Poetin, die mit Wortneuschöpfungen prunkt, auch keine Zertrümmerin am Werk, die aus den Scherben ihre Sprache neu zusammensetzt, keine, die aufstampft und lauthals um sich schreit, sondern eine lebensweise Melancholikerin, die um die Verletzlichkeit des Individuums weiß, die still beobachtet und ihre Wahrnehmungen dann klar verständlich in Poesie verwandelt.
Meine lieben Gedichte,
so klein und arrogant,
wie Geckos in einer Sommernacht,
die Finger ausgebreitet, lauernd auf den Wänden,
Vorgeschichte,
wartend auf achtlose Beute.
Carpis Themen sind der kleine, oft banale Alltag mit seinen Abgründen, Umwelt, Beziehungen, auch jene zu Gott, Liebe, Krankheit, Tod. Menschlichkeit also und immer wieder Zeitkritik. Trotzdem geraten die Zeilen selten schwer, sondern sind häufig ironisch unterwandert oder gebrochen. „...Hier bewohnte ich // eine Zukunft, die nicht gekommen ist, // wie ein Incipit, doch dann fehlt der Roman.“, schreibt Carpi. Oder sie blickt mit „Bruder Whisky“ aus dem Küchenfenster: „es ist dieses schwache, // schimmernde Ich-Sein, ich allein, // und es nicht wollen, das Ende.“ Und dann geht es in Carpis Gedichten auf einmal wieder so fordernd wie ungebrochen um alles oder nichts, wie in diesem Titel gebenden Liebesgedicht:
Wenn du aber redest, empfiehlst du mir Vernunft,
sag ich Zukunft, rätst du ab
von jeder Hoffnung.
Du verstehst nicht:
sollst mit mir nicht reden wie mit jemand Gewöhnlichem,
Liebe ist dem anderen sagen, du bist unendlich.
Entweder bin ich unsterblich oder nichts.
Fixpoetry 2015
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