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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Zweifel als Trost

Christian Lehnert setzt sich in seinen Gedichten in Beziehung zu dem, was sprachlich nicht fassbar ist.
Hamburg

Im aktuellen „Schreibheft“ kann man unter einer Debatte, die in Polen über den Zustand der Lyrik geführt wird, folgendes Gedicht von Mariusz Grzebalski lesen, dass mit seiner Kaputzenjackenmatapher aufschlussreiche Einblicke in mögliche Sichtweisen auf das, was Lyrik leisten kann und soll, gewährt. 

    Es ist kurz nach sechs, leichter Frost,
    ich kratze Eis von den Autoscheiben.

    Ein Gedicht stelle ich mir vor wie früher,
    etwas Nützliches und Einfaches zugleich.

    Es ist wie die Kaputzenjacke,
    die ich anzog, als ich nach draußen ging.
    Sie schützt vor Kälte, hat aber keine Taschen,
    die ich mit Unnützem vollstopfen könnte.

Ich gehe davon aus, dass Christian Lehnert eine derartige Definition ebenso wenig zusagen würde, wie den polnischen Lyrikern, die sich gegen eine Kritik wehren, die einen einfachen und pragmatischen „Nützlichkeitswert“ von Gedichten verlangt. Dass Sprache und damit Poesie, sehr viel komplexer ist, dass auch Trost und Nutzen, die von Sprache ausgehen, vielschichtiger und weniger eindeutig sind, als eine Kaputzenjacke, ist diesem Dichter, der ein Gedicht als Raum sieht, der sich abschließen lässt, so klar, wie die Tatsache, dass der Glaube, der auf etwas hinweist, seinen Horizont übersteigt. „Nur wenn man ihn auf eine Aussage festlegt, wenn man meint, er sei eine Weltanschauung, eine Theorie von Welt, als würde glauben bedeuten, dass ich gewisse Aussagen für wahr halte und zu einer Weltdeutung zusammenbauen kann, dann entstehen die Missverständnisse.“ Im Gespräch mit Ilka Scheidgen führt Lehnert weiter aus: „Glauben heißt dann, immer wieder das Offene zu suchen und in der Enge meiner selbst anzukommen. Es gibt keine Gewissheit.“ Und er folgert: „Und dass es keine Gewißheit gibt, das ist die christliche Verheißung.“

Auch die Gedichte in Christian Lehnerts jüngsten Gedichtband „Windzüge“, behaupten keine Gewissheit und fragen doch immer wieder nach nichts Geringerem als der Wahrheit. Gedichte scheinen für Lehnert in erster Linie ein Mittel zur Erkundung der Wirklichkeit zu sein, eine Suchbewegung. Er selbst sagte dazu in einem Interview mit Michael Hollenbach in Deutschlandradio Kultur, das Entscheidende sei, dass die Lyrik ihn immer wieder in eine Offenheit führe, immer wieder auf den Punkt führe, dass er keine Sprache habe; Gedichte entstünden ja dann, wenn er um Worte ringe, wenn er stammle, wenn er Worte suche, dann fange der Motor an zu laufen.

Lehnerts Gedichtband „Windzüge“ beginnt mit den Worten, die zu viel sind, die im Schlaf gegen die Schläfen hämmern und in der Dämmerung offenbaren, dass sie nicht zu Gewissheiten taugen, nur zu immer wieder neuen Fragen und Zweifeln.

    Nichts ist übersetzbar, die Steine
    im Rucksack: Was bedeuten sie hier?    
    Jeder Tag sucht sich das Seine.
    Das Ticket sucht mich, sein Tier.

Überhaupt spielen Tiere eine prominente Rolle in Lehnerts Gedichten. Man liest von Vögeln, Motten, Quallen und Fischen. In einer Reihe von Sonetten zeichnet Lehnert Landschaften, Natur, Pappelblätter und Felder. In einem weiteren Kapitel ziehen zunehmend Begegnungen mit Menschen in die Gedichte ein, biblische Vorbilder werden zum Ausgangspunkt eines Gedichtes. Der letzte Teil des Bandes versammelt Gedichte, die sich an überlieferten Sätzen Martin Luthers entzünden. Sätze, die Lehnert in seinen Gedichten zu Szenen und Bildern werden lässt, hier führt er die Kunst vor, sich diese Sätze anzueignen, sie zu öffnen und in Beziehung zu ihnen zu treten. 
Naturbetrachtungen und innerer Monolog wechseln, man sieht das verstörte Kind über Wiesen und durch Wälder laufen, begleitet es durch seinen Ichverlust, durch die Angst vor dem Teufel, durch Reue und sieht es schließlich ankommen in seiner Beziehung zu Gott. 

Aber gleichgültig, ob Tiere, Landschaft oder Personen dominieren, die Gedichte Lehnerts zeichnen stets Suchbewegungen nach und gipfeln in dem sehr eigenen Glaubensbekenntnis, von dem Christian Lehnert vielfach erzählt hat, und dem das Gedicht „Ich sah brennen den Strauch“ Ausdruck verleiht. 

    Ich sah brennen den Strauch,
    der gegliedert war wie ein Insekt,
    die Flügel eben noch versteckt,
    schon zog auf der Rauch,

    und was mir vertraut war, verschwand.
    Die kahle Rinde, das Chitin,
    die Schuppenflecken von Karmin
    umrissen nur noch einen schwachen Kreis.

    Jetzt greife, Brand!
    Verzehrendes Erwachen,
    dass sichtbar wird das unverzehrte Schwirren:

    Mich kann nur noch ein Licht entwirren,
    das Menschen nicht entfachen
    und das von einem Schutz nichts weiß.

Pointierter und kürzer noch ist dieses  Bekenntnis in folgendem Satz formuliert:

    Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß,
    ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.

Von Gnade ist die Rede und von Gott. Es geht um das Suchen nach kleinen Zeichen, aufmerksam für jede Kleinigkeit, die einen Hinweis geben könnte, eine Richtung weisen. Nicht zur Antwort, aber zu einer vorläufigen Fraglosigkeit, dem, was Lehnert „Gnade“ nennt:

    Daß jemand eine Geschichte sagen könnte, sich Zeuge
    nennte, dass Hagel liegenbliebe auf der blanken
    Plane der Erinnerungen,

    dass auch dies alles für vorläufig erklärt sei ... Am Ende
    meines Weges, am Anfang eines weiteren. Einen Gott
    zu haschen sei ohne

    Gewinn; doch Gnade. Einziges,
    was niemandem gehört noch zu Diensten steht.

Lehnerts Gedichte erzählen von der Verwandlung durch den Augenblick:

    Jeher verwandelt der Augenblick alles, was vor ihm gewesen

heißt es im Gedicht „Der Holzweg“, und im folgenden Gedicht „Am Elstergraben“: 

Anblick, woher er auch rühre, verwandelt, wendet die Augen.

Immer wieder thematisiert Lehnert in seinen Gedichten das Unbegreifliche, Unfassbare, aber gleichzeitig auch den Trost, den er in diesem Satz von Pascal findet: „Tröste dich! Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.“ Diese Gewissheit , die die Kraft verleiht immer weiter zu machen, immer wieder eine Form zu suchen für die Beziehung zu dem, was gesucht wird.

„Sinn, doch ohne die Sprache“, heißt es dazu im Gedicht „Bei der Seherin“. Die Form, sagt Lehnert sei ihm um 2010 herum sehr wichtig geworden. Damals habe ein Bruch in seinem Schreiben stattgefunden, auf einmal sei die Form zentral geworden, der Reim, das Liedhafte. Er habe plötzlich ein großes Vertrauen gewonnen in den Satz, die Form. Auch in diesem Band sind die Gedichte sehr formbewusst, mitunter liedhaft, und jedes Kapitel scheint seiner eigenen Form zu folgen. Vielleicht weil ein Festhalten, eine Orientierung an der Form, die einzig mögliche Art ist, mit diesem Paradox von Wahrheitssuche und Offenheit konstruktiv umzugehen.

In einem anderen Interview, mit Helena Neumann und Michael Richter im Freitag, sagt Lehnert, dass die Erlösung nicht im Sprachlichen liege, und ich erwähne das hier, weil ich diese Überzeugung für einen zentralen Punkt seiner Lyrik halte, für etwas, das die Art, wie er schreibt und den Hallraum seiner Gedichte ganz wesentlich prägt. 

Lehnert geht es um die Beziehung (nicht die Bezeichnung) zu etwas, wofür die Worte fehlen. Das sprachlich nicht fassbar ist. Der Zweifel als Ausdruck des Glaubens. Sowohl an Gott, als auch an die Sprache, das Gedicht.

Christian Lehnert
Windzüge
Suhrkamp
2015 · 108 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42469-8

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