Die Fingur und das Rabenaas
Bei Werder an der Havel da steht ein kleiner Berg, das ist der Galgenberg. Den erstiegen einst das Vereckerle, der Gurgeljochem, Veitstanz und weitere Gesellen - sie gehörten zum Bund der Galgenbrüder. Rabenaas aber war der Präsident dieses Grauselbundes, der schrieb die Galgenlieder zu dieser schauerlichen Runde: Christian Morgenstern.
Ihm verdanken wir unvergessliche Neuschöpfungen wie den Werwolf, der sich und seine Familie von einem toten Dorfschullehrer beugen lassen möchte, das Nasobem, direkt aus des Dichters Leyer, Palmström, der ungeschneuzt entschreitet, weil die Ehrfurcht vor dem Schönen ihn hindert, seinen Rotz in das Taschentuch zu prusten. Das Mondschaf, das sich des Weltalls dunkler Raum dünkt, Palma Kunkel, viele andere und v. Korf, der sich amtlich bestätigen lässt, dass er nicht existiert. Diese Erfindungen sind nur die eine Seite Morgensterns, die andere ist sein souveränes unübertroffenes Spiel mit der Sprache:
Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.
So heißt es im Grusulett. Die Auflösung im Duden verankerter Wörter führt erstaunlicher Weise nicht ins Sinnlose, sondern beschert dem dafür offenen Geist ein sinnenübergreifendes Vergnügen: möglicherweise ist die Zirbeldrüse das Morgensternsche Rezeptionsorgan.
So scheint es auch unmöglich den Reiz der Verse in eigenen Worten wiederzugeben, es soll auch gar nicht groß versucht werden. Es ist das Kind in uns, das hier ein schönes Spielzeug geschenkt bekommt - die Sprache selbst. So ist diesem Buch auch der Nietzsche-Spruch vorangestellt: „Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das spielen will.“ Aber auch jede „ächte“ Frau freut sich, wenn sie Das große Lalula hört:
Kroklokwafzi? Semememi!
Seikronto - prafriplo:
Bifzi, bafzi; hulalemi:
quasti bast bo…
© Hans Ticha/Edition Büchergilde
Sowenig, wie man die Faszination Morgensternsche Galgenlieder in Worten ausdrücken kann, scheint es möglich zu sein, diese sprachlichen „Finguren" in Bildern und Zeichnungen wiederzugeben. Hans Ticha, der die Prachtausgabe zum 100. Todestag Morgensterns am 31. März 2014 illustriert hat, sagte dies in einem Gespräch im Bayrischen Rundfunk: Morgensterns Einfälle sind verbaler Art. Doch aber hatte den Zeichner der Ehrgeiz gepackt, als er sich, entgegen sonstiger Gewohnheit, die bisher zahlreich erschienenen illustrierten Galgenlieder angesehen hatte. Keines entsprach „meiner Auffassung von Illustration“, sagte er im Rundfunk. Da hatte die Büchergilde also einen guten Riecher mit Ticha.
Hans Ticha ist ein Markenzeichen. Seine Buchillustrationen zu DDR-Zeiten legendär. 23 Mal bekam er den Preis: Schönstes Buch des Jahres, elf weitere Male den Preis für den schönsten Buchtitel. Mit der Büchergilde arbeitet er bereits seit Jahren zusammen. Tichas Art zu zeichnen lässt sich nicht einfach beschreiben. Orientiert am Bauhaus und Oskar Schlemmer bedient er sich geometrischer Grundfiguren, die er plastisch macht. Ticha spricht selbst gern von Piktogrammen. Den Witz aber macht aus, wie er sie positioniert, wie er sie kombiniert. Die Fingur, die mit weitem Schritt über das Cover des Buches platscht, ist eine Art Ente, aus deren Kopf das Schallrohr einer Trompete wächst:
Und Wiedergänger gehen
und Raben rufen kolk,
und aus den Teichen sehen
die Fingur und ihr Volk.
Im Grusolett plaustert Tichas Fingur sich rosa mit dem Betrachter entgegengestreckten Pobacken, aus dem ein stolz geringelter Schwanz entsteigt und prallem Kugelbusen. Die Miene unter den wohlfrisierten Locken ist unschuldig, fast beschämt über den „plausternden“ Körper. Tichas Mittel ist die Reduzierung. Seine menschlichen Geschöpfe haben oft gar keine Augen, wie der arme Paul Schrimm:
Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf daß er sich ein Opfer fasse- und stürzte sich mit großen Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.Paul Schrimm erwidert prompt: Pitschü!
und hat ihn drauf bis Montag früh.
Tichas Tiere tragen an Stelle der Augen oft brillenartige Kreise, wie´s Würmelein im Stürmelein, das mit seinem Schirmelein den Betrachter erstaunt anglotzt - seinen in gleichmäßigen Wellen auf einem Podest drapierten Leib posierend. Am allerschönsten aber sind die zahlreichen Neuschöpfungen, da zeigt sich Ticha dem „Rabenaas“ durchaus ebenbürtig.
Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobem
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.
Blau ist das wunderliche Wesen, seine zwei Nasen sind die „Beine“, drei große Augen hat es und ein paar kleine Anhängsel, nämlich Beine und Hände, sowie einen stolz erhobenen blau gekringelten Schwanz. Die plustrig dicken sinnlichen Lippen bescheiden geschlossen. Wieder dieser feine Widerspruch zwischen selbstbewusst aufgefahrener bis aufgeblasener Erscheinung und bescheidenem Zurückgenommensein im Ausdruck.
Manche Gedichte „vollendet“ Ticha mit seiner Illustration, wie etwa den nach Berlin reisenden Korf: ein Wesen aus Pfeife rauchendem Menschen, dessen Beine zum Kessel einer Lokomotive werden. Der Aesthet verschmilzt gar mit seinem Stuhl, selbstverständlich nicht ohne Grund:
Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen wie mein Sitzfleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.
Natürlich hat Ticha nicht jedes der Galgenlieder illustriert, viele bleiben so für sich und sprechen auch für sich, wie etwa Die Nähe
Die Nähe ging verträumt umher…
sie kam nie zu den Dingen selber.
Doch dann tritt der kategorische Komparativ an ihr Bett und steigert sie zum Näher und sogar zur Näherin, was die Nähe schicksalsergeben geschehen ließ.
Als Näherin jedoch vergaß*
sie leider völlig, was sie wollte,
und nähte Putz und hieß Frau Nolte
und hielt all obiges für Spaß.
Die Näherin Frau Nolte macht Schluss mit ihrer Vergangenheit, als sie verträumt umherging und nie zu den Dingen selber kam, ihr philosophischer Ansatz ist futsch, mit der Nähnadel abgestochen.
In einem Gedicht erkannte Ticha mit Erstaunen einen Malerkollegen: Georg Baselitz, der in den 1950er Jahren die DDR verließ. Nun hat dieser sich nicht eben freundlich über die Künstler in der DDR geäußert: Arschlöcher. Ticha hält ihm hier ein Gedicht entgegen, das älter ist als die Methode Baselitz´ die Bilder umzudrehen, mit der er weltberühmt wurde:
Bilder, die man aufhängt umgekehrt,
mit dem Kopf nach unten, Fuß nach oben,
ändern oft verwunderlich den Wert,
weil ins Reich der Phantasie erhoben.
Ein für Ticha typisches Kegelmännchen „hängt“ so im Bilderrahmen, Schweißtropfen (?!) treten aus seinem Körper, aber eben andersrum, der Erdanziehung folgend. Ausdruckslos das rote Gesicht mit blauen Wulstlippen. Neben seinem Kopf steht BASE, im rechten oberen Rand (auf dem Kopf) LITZ.
Da es ja immer schwierig ist, als Nichtsoooberühmter dem berühmten Kollegen „ans Bein zu Pinkeln“, macht Ticha einen eleganten Schlenker. Er bringt Morgensterns Ende 19. Jahrhundert entstandenes Gedicht mit Baselitz Namen zusammen und der Leser und Betrachter denkt sich seins, z.B.
Im Stehparkett der kleine Cohn
zerbirst vor lauter Illusion.
„Mein Vergnügen an Morgensterns Gedichten ist in den Jahrzehnten seit dem ersten Kennenlernen nicht geringer geworden“, schreibt Hans Ticha in einem kurzen Nachwort. Das wird vielen so gehen. Morgenstern kann man immer wieder lesen, immer wieder entdeckt man Neues, die jetzige Zeit, das Lebensgefühl Wiedergebendes. Kaum zu glauben, dass das „Rabenaas“ schon hundert Jahre tot sein soll.
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