Qualvolle Zeugenschaft
Die Versuchsanordnung ist karg. Der leerstehende Rohbau eines Wohnhausneubaus, daneben ein doppelstöckiger Container. Darin: in der unteren Etage ein Mann, oben seine Frau mit zwei halbwüchsigen Söhnen. Sie ist patent, die Kinder sind unauffällig, sie geht arbeiten, die Kinder gehen zur Schule. Nur er, Cons, eigentlich Constantin, liegt auf dem Sofa, oder er fährt mit seinem kleinen Geländewagen ziellos durch die Gegend. Er hat was. Nur was? Er ist Soldat, aber "außer Gefecht". Ein Vorfall, der nicht näher beschrieben wird, hat ihn aus der Bahn geworfen. Alles macht ihn ungeduldig - die Engelsgeduld seiner Frau, sein eigenes Dasein, die Unordnung in seinem Container, alles, alles macht ihn wahnsinnig.
"Lange Fluchten" ist der zweite Roman der Lyrikerin Daniela Danz. In seiner Mehrdeutigkeit ein gelungener Titel, der auf den 144 Seiten des schmalen Werkes nicht an Stringenz verliert.
Daniela Danz fordert den Leser. Ihn und vor allem sich selbst schont sie nicht. Ein schmerzhaftes Unterfangen, dem Protagonisten bei seinem hilflosen Tun zuzuschauen. Wie er sich ablenken, treiben lässt. Wenn er seiner Frau mal eben verspricht, Milch mitzubringen, dauert es zwei Tage, bis ihm das wieder einfällt. Weil er zwischendurch der munteren früheren Geliebten Susa folgen muss, die ihn mit ähnlicher Nachsicht behandelt wie seine Frau. Daniela Danz macht den Leser zum Zeugen eines qualvollen Nichtvorankommens, eines Verstricktseins in ein Muster, das den Protagonisten genauso quält wie den Leser. Er kommt nicht heraus, weigert sich aber genauer hinzuschauen, nach der Ursache zu forschen.
Herzstück des Romans ist die Beziehung von Cons zu seinem Freund Henning, der Krebs hat. Er bringt ihm die versprochene Bohrmaschine, mit der er eine Hängematte in seinem Krankenzimmer anbringen will. Einen Tag später hat sich der kranke Freund erhängt. Sein Vermächtnis sind Cons' Briefe an ihn. Dazwischen finden sich nicht abgeschickte Briefe Hennings, die eine große Nähe zu seinem Freund zeigen, in denen er ihn erinnert, sich dem Leben zu stellen. Hier wird klar, dass nicht nur das Ereignis in der Soldatenzeit an Cons' Herumirren und Nichtweiterkommen schuld ist. Vielleicht wäre Cons' Leben anders verlaufen, hätten diese Briefe ihn erreicht. Dieser Erzählstrang ist der stärkste des Romans - in ihm steckt trotz des Zuspät ein Schimmer Hoffnung, eine Ahnung, wer dieser Cons einmal gewesen sein könnte, wie wichtig die Freundschaft für beide war.
Ja, "Lange Fluchten" ist ein Roman über das allgegenwärtige Nichtzurandekommen mit dem Leben, ist konsequent durchgeführt und eine heftige Kampfansage an den Mainstream, an tiefsinnige Unterhaltung, wie sie grade en Vogue ist.
Da ist es fast zu viel, dass die Kunstwissenschaftlerin Danz in der Geschichte des Soldaten die eines römischen Feldherrn assoziiert, eines Märtyrers, eines Heiligen, der, zum Spielball der Mächte geworden, seine Familie opfern muss. Ob diese Vergewisserung in der Geschichte und im Mythos nötig ist? Hat die Autorin ihrem Helden nicht vertraut?
So scheint der Schluss, der den Motiven der Legende von Eustachius folgt, aufgesetzt. Dass er alles verliert, seine Frau mit dem Schiff davonfährt und er schließlich ganz archaisch mit den Kindern im Wald lebt, bis auch diese verloren gehen und Freund Henning ihn auffordert, weiterzugehen ins Nichts, zu ihm in die andere Welt? Diese Schlusspassage ist in der Vergangenheit, in der Erzählform geschrieben, während das anstrengend zu lesende Präsens in den über 100 Seiten davor den Leser zusätzlich quält. Aber möglicherweise ist dies konsequent.
Der Roman ist um ein Geheimnis herum geschrieben: Warum ist dieser Cons so? Dass dieses Geheimnis nicht gelöst wird, scheint folgerichtig. Wissen wir, warum wir so ticken? Nein, wir wissen es nicht. Aber dass das Unerklärliche soweit getrieben werden muss, dass in kursiv gedruckten Passagen Cons uns inkarniert als fleißige Biene oder Hummel erscheint, also als das offensichtliche Gegenteil seines irdischen Daseins, ist mir dann doch zu viel.
Die Autorin hat einen männlichen Protagonisten gewählt, mit dem männlichsten aller Berufe: Soldat. Das ist glaubhaft erzählt, Daniela Danz verzichtet in ihrer Sprache auf jeden künstlichen oder lyrischen Schnörkel. Seltsam blass bleiben dabei die Figuren ihres eigenen Geschlechts, es sind sanfte, verständnisvolle Engel, ob Cons' Frau Anne, die ehemalige Geliebte Susa oder Hennings Frau Ellen. Schon in ihrem ersten Roman "Türmer" wählte die Autorin einen männlichen Protagonisten - weit weg von sich, in Richtung Legende.
Nichtsdestotrotz soll hier eine Lanze für diesen Roman gebrochen werden, für einen schwierigen Helden, für den Scheiterer, für eine Herausforderung an den Leser, dafür, dass nicht alles eine Lösung hat – und letztendlich für eine, wenn auch qualvolle, Zeugenschaft.
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