1300 abgeschlagene Hände an einem Tag
Lemaire befiehlt, "alles niederzubrennen, er brüllt, und die Neger laufen und jaulen in ihren komischen Sprachen, aber Lemaire versteht nichts und pfeift drauf, er brüllt in seiner eigenen Sprache, der komischsten von allen, er brüllt, man solle die Fackeln in die Hütten werfen, alles zerstören, alles, alles, alles!"
Der Kolonialismus war immer schon ein blutiges Geschäft. Die brutale Ausbeutung der Länder in Afrika hat bis heute blutige Konsequenzen. Auch die Aufteilung der Länder durch Federstriche durch ein Land, das man gar nicht kannte, besser gesagt Striche durch eine Landkarte, die noch viel Weißes aufzuweisen hatte. Da wurden nach irgendwelchen unsicheren Berechnungen Völker getrennt, die zusammengehörten, und Völker vereinigt, die nichts miteinander zu tun haben wollten.
Wie auf der Berliner Konferenz von 1884, zu der Reichskanzler von Bismarck eingeladen hatte. Warum? "Die Franzosen langweilten sich, die Engländer langweilten sich, die Belgier, die Deutschen, die Portugiesen und viele andere Regierungen Europas langweilten sich zu Tode", und deswegen "organisierte man zur Zerstreuung ganz Europas die größte Schatzsuche aller Zeiten." Diesmal war nicht Amerika das Ziel, sondern Afrika: "Das hatte man noch nie gesehen. Man hatte noch nie gesehen, wie sich so viele Staaten auf eine böse Tat zu einigen versuchten."
Den Kongo besorgte sich damals der belgische König Leopold II. Nicht der belgische Staat oder die belgische Regierung, sondern der König selbst als Privatbesitz, als Privatkolonie sozusagen. Und es begann eine der übelsten Ausbeutungen der Menschheitsgeschichte: Zehn Millionen Afrikaner wurden ermordet, unzählige verschleppt, verstümmelt, gefoltert. Sie mussten Zwangsarbeit leisten oder starben durch Krankheiten oder Erschöpfung: Die Bevölkerung des Kongo wurde um die Hälfte dezimiert. Joseph Conrad, auf den Vuillard auch hinweist, hat diese Geschichte in einem seiner berühmtesten und düstersten Romane festgehalten, mit dem passenden Titel "Das Herz der Finsternis", eine der beklemmenden Vorlagen für den Film "Apocalypse Now".
Der mehrfach ausgezeichnete französische Autor Éric Vuillard erzählt von dieser Konferenz und dem Kongo. Vom englischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, der in Leopolds Diensten den Kongo erforschen und erschließen sollte, nach Vuillard ein "Schmierenkomödiant", von der Gier nach Kautschuk in Europa und der menschenverachtenden Skrupellosigkeit des ganzen Unternehmens. Er erzählt vom Statthalter Léon Fiévez, der nicht wollte, dass seine Soldaten die Munition sinnlos verbrauchten oder damit Wild jagten und deswegen als Beweis für ihre Effektivität verlangte, dass sie ihm die abgeschlagenen Hände der erschossenen Afrikaner brachte. Körbeweise schleppten seine Männer diese Beweise an, einmal waren es 1300 Hände an einem einzigen Tag: Es gibt noch Fotos von dieser Barbarei. Sein Leutnant Charles Lemaire dagegen ist ein Sonderfall in Vuillards Erzählung: Er war an den Massakern beteiligt, weil er Nahrung für seine Soldaten beschaffen musste, aber später las er seine eigenen Tagebücher und war entsetzt über sich und seine Taten.
Aber Vuillard betreibt keine präzisen Geschichtsstudien: Er komponiert die unterschiedlichsten literarischen Versatzstücke und Genres in seine Erzählung, springt von der Groteske zum Realismus, von der Faktenaufzählung zur Satire, von der bitteren Kleinstbeobachtung zur großen Geste. Hat auch keine Angst vor Kitsch, brutalen Szenen oder einem mystifizierenden Ende, an dem er Fiévez krank und elend in einem schmuddeligen Haus sterben lässt und mit einer Anrufung von Gott schließt: "Gott, Schädelflocke! Obstschale, Elfenbein, Pinselborste."
Vuillard jedenfalls macht es seinen Lesern nicht leicht mit seinen Sprüngen, seinen ständigen Stil- und Perspektivwechseln. Stringenz kennt er nicht, will er auch nicht. So wird es viele irritieren oder verärgern, wenn er bei den Delegierten der Konferenz plötzlich über die "Art und Weise, in der ihre Wirbelsäule in der Nase ausläuft", schreibt: "Merkwürdige Anatomie. Alles Licht der Welt, sprich das Licht der einhundertfünfzehn Kerzen des Salons, glänzt an der Oberfläche eines millimetergroßen Knorpels." Oder lange über die Vorfahren der Chodrons schreibt, französische Neureiche, die an der Konferenz beteiligt waren. Einen Exkurs über die Kulturgeschichte des Tischs liefert. Oder einfach mal zwischendurch in Jargon verfällt: "Seht sie, diese Männer im Anzug, wie sie auf ihrem Affenarsch sitzen".
Das wird viele enttäuschen, die einen sozialkritischen Gesellschaftsroman erwartet haben, eine Art Neuauflage von Conrad. Aber Vuillard macht damit auch die Monstrosität überdeutlich, die Leopolds Vorhaben, eine Privatkolonie zu besitzen, ist. Und dass alle Großmächte das einfach abnicken. Und dass die Weltöffentlichkeit sich nicht darum schert, für Jahrzehnte nicht.
An Vuillards Version der Geschichte werden sich die Geister spalten: Darf man so leicht, gleichzeitig eindringlich und gewollt oberflächlich, über so ein düsteres Kapitel der Geschichte schreiben? Es entscheide jeder selbst.
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