Irrlichternde Zettelwirtschaft
»Um die Literaturkritik für die nächsten 300 Jahre zu beschäftigen«, soll James Joyce einmal auf die Frage geantwortet haben, warum er Ulysses geschrieben habe. In der humorigen Volte steckt ein harter Klumpen Wahrheit: Ein ganzer Zweig der angelsächsischen und komparativen Literaturwissenschaft widmet sich allein Joyce‘ Werk und auch für die Philosophie des 20. Jahrhunderts, allem voran Jacques Derrida, waren die sprachlichen und gedanklichen Sprünge des irischen Exzentrikers von enormer Bedeutung. Joyce‘ Schaffen ist ebenso umfang- wie abwechslungsreich, ein Steinbruch für Sprach- und Kulturtheorie gleichermaßen.
Neben seinen lyrischen und dramatischen Texten sind vor allem Dubliners, A Portrait of the Artist as a Young Man und Ulysses die Bücher, die Joyce‘ Ruhm begründen. Das von der Literaturwissenschaft mit Eifer beackerte Finnegan’s Wake hat sich nie zum Publikumsrenner entwickelt – der schlitzohrige Trickster Joyce hätte es sich vielleicht verkneifen sollen, ein Wort wie »Bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonn
thunntrovarrhounawnskawntoohoohoordenenthurnuk« gleich auf der ersten Seite unterzubringen. Finnegan’s Wake allerdings ist mehr als der schnapsideenreiche, linguistische Treppenwitz eines verspielten Kauzes, der die ihm bereits ergebene Literaturkritik ein paar zusätzliche Jahre im Elfenbeinturm aufbrummen wollte. Es ist vielmehr die letzte logische Konsequenz eines literarischen Gesamtwerks, das über die bemerkenswerteste literarische Entwicklung des letzten Jahrhunderts Zeugnis ablegt.
Von den zwar abgründigen, aber recht stringenten Erzählungen aus Dubliners bis hin zu dem historisch-linguistisch inspirierten, auf Mythenwelten und Ideengeschichte rekurrierenden Universum aus Ulysses zeichnet sich eine fortwährende Radikalisierung ab, die selbst in der literarisch sehr bewegten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorsticht. Bevor er aber mit der 17 Jahre währenden Arbeit am Work in Progress, das später den Titel Finnegan’s Wake erhalten sollte, begann, schrieb Joyce – so wollte es zumindest für Jahrzehnte die Legende – monatelang kein Wort.
Mit zwei handgeschriebenen Seiten ging es los, später sammelten sich dermaßen viele Schmierzettel an, dass sich innerhalb der Enklave der Joycewissenschaft ein ganzer Flügel nur auf die Sortierung derer spezialisieren konnte. Es sind sehr viele, sehr unleserliche handschriftliche Notizen, die sich gefunden haben. Sie zu ordnen ist eine Herkulesaufgabe, sie in einen Zusammenhang zu setzen vermutlich ein aussichtsloses Unterfangen.
»Es brach regelrecht die Hölle los«, erinnert sich Danis Rose reumütig an die Zeit nach 1992. Als damals die Veröffentlichung von Finn’s Hotel angekündigt wurde, überschlug sich die Presse mit reißerischen Meldungen, reagierte die Joyce-Forschung mit Widerwillen. Die Reaktionen gerieten dermaßen außer Hand, dass das geplante Buchprojekt sogleich wieder eingestellt wurde. Letztes Jahr allerdings erschien Finn’s Hotel erstmals in einer Liebhaberauflage im irischen Ihtys Verlag, standesgemäß am Bloomsday, dem 16. Juni. Der große Trubel blieb diesmal jedoch aus. Warum eigentlich?
Vielleicht, weil sich in den zwei Jahrzehnten zwischen der ersten Aufregung und der nachnachträglichen Veröffentlichungen der 10 Prosa-Miniaturen – von Joyce selbst als »epiclets« bezeichnet – der Streit auf einen Kompromiss einigen konnte: Finn’s Hotel, so lautet das einhellige Credo der kritischen Rezeption, versammele lediglich ein paar Skizzen und Vorstufen zu dem, was später einmal Finnegan’s Wake werden sollte. Es sei keine eigenständige Veröffentlichung, sondern weit weniger: eine lose Zettelwirtschaft von unausgereiften Texten, die nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen waren.
Dem Mythos vom »wahren (und bislang unbekannten) Vorläufer« von Finnegan’s Wake, den Rose heraufbeschwört, wurde allenthalben widersprochen: Aller Querverweise auf Ulysses und Finnegan’s Wake und aller dezent sich abzeichnenden Stringenzen zwischen den einzelnen Texten zum Trotz fügt sich Finn’s Hotel eben nur als Sammlung von Skizzen, nicht aber als rundes Kompendium zusammen. Von einem »bahnbrechenden, eigenständigen Werk für sich« spricht zwar auch der irische Schriftsteller Seamus Deane in seiner Einführung, die folgenden Seiten jedoch widersprechen ihm mit einer polyglotten Chaotik, gegen die nur schwer anzukommen ist.
Sowohl Rose als auch Deane scheinen in Rechtfertigungsverzug – sie argumentieren vehement gegen die Widersprüche an. Rose lässt sich sogar zu der Behauptung hinreißen, die Texte von Finn’s Hotel seien »großteils in verständlichem Englisch abgefasst«. Immerhin das ein Witz, der Joyce gefallen hätte. Denn dessen Liebe zu Portmanteau und Neologismus, die sich schon deutlich in Ulysses abzeichnete und in Finnegan’s Wake dann Überhand nahm, irrlichtert auch in Finn’s Hotel in grellsten Tönen. »Der topseitige Joss-Pidgin-Kerl Berkely, Erdruide des irischen Chinchinjoss«, der auf der ersten Seite zum irischen Nationalheiligen Sankt Patrick spricht, kleidet sich beispielsweise in einen »heptachromatischen siebengefärbten rorangelgrüblindigon Mantel«. Das ist entweder auch im Englischen nur schwer nachzuvollziehen oder aber Friedhelm Rathjen hat bei seiner Übersetzung ins Deutsche gepfuscht.
Das aber hat er natürlich nicht. Im Gegenteil, Rathjen ist eine Glanzleistung gelungen. Joyce, dessen Werk in multiversaler Privatsprache ausuferte und der gerne als Beweis für die These von der Unübersetzbarkeit von Sprachen herbeizitiert wird, hat in ihm einen würdigeren Nachlassverwalter gefunden als Rose es sein könnte. Während jener sich offenbar darum bemühte, ein nicht zu bewältigendes oder zu rechtfertigendes Projekt mit Gewalt zum Abschluss zu bringen, hat dieser Joyce‘ Fabulierlust aufs Beste gemeistert. Ob ein »lieblingslyrisches Blumgebinde«, »alte Damänner« oder Tristan, der »Ejakuleer von Kannenfüllen« – der Joyce’sche Wahnwortwitz entfaltet Dank Rathjen selbst im sperrigen Deutschen noch seinen eigentümlichen Charakter.
So retten sich auch die kuriosen Charaktere selbst, ob nun Tristan und Isolde, den »höchst heiligen Kevin« oder aber einen armen Tropf wie den Earwicker, durch die Sprache ins Leben. Die Texte von Finn’s Hotel sind schnoddrig in Szene gesetzt, lesen sich grotesk und obszön wie ein echter Joyce. Nur, dass Finn’s Hotel eben kein echter Joyce ist – sondern viele kleine, unausgereifte Joyces. Dieser stilistische missing link für die laienhaft betriebene Joyce-Wissenschaft, das Nicht-Buch Finn’s Hotel hätte es im Grunde nicht gebraucht.
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