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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Position und Geschwindigkeit

Jérôme Ferrari setzt sein Werk einer literarischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts konsequent fort
Hamburg

In seinem soeben parallel in Deutschland und Frankreich erschienen Roman „Das Prinzip“ wagt sich Jérôme Ferrari auf vermeintlich neues Terrain – zumindest scheint das auf den ersten Blick so. Seine drei vorangegangenen Romane (von bislang insgesamt sieben), die beim Secession Verlag kompakt in einem handlichen Schuber („Die Korsika-Trilogie“) erhältlich und kongenial von Christian Ruzicska übersetzt sind, befassten sich mit der in Frankreich lange Zeit unterschlagenen Kriegs- und Gewaltgeschichte nach 1945. Diese ist eng mit dem französischen Kolonialismus verknüpft, sowie mit der sehr französischen Unfähigkeit zu erkennen, dass das koloniale Zeitalter mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unwiederbringlich an sein Ende gekommen war. 

„Und meine Seele ließ ich zurück“ (2010, dt.: 2011) ist ein Porträt des französischen Kriegers, der nach 1945 nicht mehr in die französische Gesellschaft zurückfindet und fortan in den diversen Kriegen, allen voran in Algerien, für die angeblichen Interessen seines Landes kämpft. In „Predigt auf den Untergang Romans“ (2012, dt.: 2013), das Buch, das ihm den Prix Goncourt einbrachte, beschreibt Ferrari vordergründig die tragischen Verstrickungen, die zum Niedergang einer korsischen Bar führen; tatsächlich ist die Handlung zugleich Chiffre für die europäischen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts und ein Abgesang auf die einstige Kolonialmacht Frankreich. In „Balco Atlantico“ (2008, dt.: 2013) waren etliche dieser Motive bereits angeklungen. Ebenfalls auf Korsika und ebenfalls im Mikrokosmos einer Bar angesiedelt, entwirft Ferrari das Panorama einer vom Nationalismus zerfressenen Gesellschaft, die aus den zurückliegenden Gewaltexzessen nichts gelernt hat. Das Resultat sind mehrere ebenso grausame wie sinnlose Todesfälle, und die Gewissheit, dass dies immer so sein wird.

„Das Prinzip“ ist als Roman deklariert, entspricht aber in der Form eher einem langen Brief oder einem Tagebucheintrag, der sich direkt an einen Adressaten richtet. Der Adressat ist der deutsche Physiker Werner Heisenberg. Dieser hatte 1932 für seine Entdeckungen im Bereich der Quantenmechanik den Nobelpreis für Physik erhalten. Der entscheidende Durchbruch gelang ihm 1925 auf Helgoland, wohin er sich zum Auskurieren eines chronischen Heuschnupfens zurückgezogen hatte. An dem Punkt setzt auch der Bericht des über weite Strecken anonymen Erzählers ein, der sich erst ganz am Ende des Buches als ein Mitglied der amerikanischen Alosos-Mission zu erkennen gibt. Das Geheimdienstprojekt untersuchte zwischen 1943 und 1945 die deutschen Fortschritte beim Versuch eine Atombombe zu bauen und war auch an der Festnahme Heisenbergs bei Kriegsende beteiligt (anders als in der Kunst war bei der Anwendung naturwissenschaftlicher Formeln der NS-Ansatz – insbesondere während des Krieges – eher unideologisch, man durfte durchaus auf die Erkenntnisse ansonsten unerwünschter Gelehrter wie Einstein zurückgreifen).  

Heisenbergs Beitrag zu einer widerspruchsfreien Quantenmechanik steht im Kontrast zu den chaotischen Zeitumständen, in denen die nach ihm benannte Unschärferelation („man kann in der Quantenphysik nicht zugleich die Position und die Geschwindigkeit eines Elementarteilchens bestimmen“) entwickelt wurde. Als nach den Wirren der Weimar-Jahre den Nationalsozialisten die Macht in die Hände gelegt wurde, war Heisenberg Professor an der Universität Leipzig. Anders als etliche seiner Kollegen blieb er in Deutschland und arrangierte sich mit der neuen Situation, obwohl dem frischgebackenen Nobelpreisträger die Türen der internationalen Universitäten offen gestanden hätten. Von 1942 bis 1945 leitete Heisenberg das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin, von wo er, samt seiner von Rüstungsminister Speer akribisch verfolgten Ergebnisse auf dem Gebiet der Uranforschungen, im Frühjahr 1945 nach Süddeutschland fliehen muss. Zu diesem Zeitpunkt sind ihm die Agenten der Alosos-Task-Force bereits dicht auf den Fersen.  

Am 10. Juli 1945 wurde Heisenberg in illustrer Gesellschaft neun weiterer renommierter Naturwissenschaftler, die ebenfalls am deutschen Nuklearprogramm mitgewirkt hatten – darunter auch der späterer Friedensforscher und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker –, auf den britischen Landsitz Farm Hall überstellt. Es folgte eine sechsmonatige Internierung, die jedoch eher an einen ausgedehnten Fachkongress erinnerte. Man unterhielt sich gegenseitig mit wissenschaftlichen Vorträgen und tauschte sich mit britischen Kollegen aus, denen der Besuch gestattet war. Die Nachricht, dass dem ebenfalls anwesenden Otto Hahn, dem Entdecker der Uran-Spaltung, der Nobelpreis für Chemie zuerkannt wurde, beging man mit einem Festmahl, an dem auch die britischen Bewacher teilnahmen.

In Farm Hall erreichte Heisenberg und seine Kollegen auch die Nachricht, dass die erste Uranbombe in Hiroshima hochgegangen sei. Da sämtliche Räume mit Mikrophonen ausgestattet waren, sind die Reaktionen gut dokumentiert: Erleichterung einerseits, die Bombe nicht selbst gebaut zu haben; aber auch Neid und Enttäuschung, dass den Amerikanern offenbar gelungen war, was man selbst nicht zustande gebracht hatten. Hätten sie selbst eine solche Bombe zu Kriegszeiten entwickelt, so Heisenberg, wären sie wohl allesamt als Kriegsverbrecher hingerichtet worden. Doch überwiegt das Gefühl der Schuld, durch die eigenen Forschungen die Bombe mitvorbereitet zu haben. „Die Bombe war vielleicht das Schicksal der Physik, ihre Entwürdigung, ihr Triumph und ihr Ruin“, lässt Jérôme Ferrari seinen Erzähler die gespenstische Situation des Abends des 6. August 1945 in Farm Hall zusammenfassen.

Dass Heisenberg und die anderen mit ihm Internierten sehr schnell wieder zu ihrer alten Betätigung zurückkehren konnten – Heisenberg wurde 1946 Direktor des Max-Planck-Instituts in Göttingen –, spielt in Ferraris Buch keine Rolle mehr. Dasselbe gilt für den Umstand, dass es Heisenberg, Hahn und von Weizsäcker waren, die 1957 maßgeblich zum Zustandekommen des Manifests der Göttinger Achtzehn beitrugen, in dem mit Nachdruck der Verzicht der Bundesrepublik auf den Besitz von Kernwaffen eingefordert wurde.

Mit „Das Prinzip“ hat Jérôme Ferrari ein Buch geschrieben, das der Singularität der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Mitteln der Literatur auf den Grund zu gehen sucht. Es war die umfassende Technisierung des Krieges, die seine vollständige Entmenschlichung erst ermöglicht hat. Dies ist das zentrale Kennzeichen des 20. Jahrhunderts, darin unterscheidet es sich von allen früheren Zeiten. Die Atombombe ist das Paradebeispiel dieser Entwicklung. Sie ist das Resultat menschlicher Zivilisierung und Genialität, und zugleich Sinnbild größtmöglicher Zerstörung.

Jérôme Ferraris neuer Roman ist die konsequente Fortsetzung eines monumentalen Gesamtwerkes, mit dem der Autor die einzigartige Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts literarisch-philosophisch zu ergründen sucht. Ein intelligenteres, spannenderes und zugleich anspruchsvolleres Projekt ist in der zeitgenössischen Literatur derzeit schwer zu finden.

Jérôme Ferrari
Das Prinzip
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac
Secession
2015 · 130 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3905951653

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