Der Himmel im Detail
„Der Kritiker ist Botaniker, ich aber bin Gärtner“ schreibt der 27-jährige Jules Renard 1891 in sein Tagebuch. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass der französische Schriftsteller mit Mitgliedern dieser Zunft auf Kriegsfuß steht. Renard ist aber auch schlechten Dichtern und den Reichen nicht besonders zugetan, und gegen die Religion wettert er mit Leidenschaft. In seinen Notizen entpuppt er sich aber auch als poetischer, oft philosophischer Alltagsbeobachter: „Ich bin verrückt nach Kleinigkeiten.“
Fast erscheint es wie Ironie des Schicksals, dass von allen Texten Renards ausgerechnet jener zu Berühmtheit gelangte, der nie zur Veröffentlichung gedacht war. Sein mehr als 1000 Seiten umfassendes Tagebuch der Jahre 1887-1910 wurde zuerst im Jahr 1925 veröffentlicht und weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. Matthes & Seitz hat nun einen Auszug aus seinen Tagebüchern neu herausgebracht; übersetzt und kommentiert wurde es von Übersetzer und Schriftsteller Henning Ritter. Man fragt sich, worin nun genau die Faszination liegt an dem Werk, das André Gide, Sartre und Maugham inspirierte, und über das Tucholsky 1934 an eine Freundin schrieb: „Ich müsste Dir den halben Renard ausschreiben. Ist das ein süßer Mann! Diese Tagebücher sind himmlisch.“
Um herauszufinden, was Tucholsky derart in Verzückung geraten ließ, bleibt nur eins zu tun: sich das Phänomen Renard selbst zu er-lesen. Seine Tagebucheintragungen, selten länger als drei Zeilen, sind prägnante Beobachtungen zum Zeitgeschehen, süffisante, selbstironische Bemerkungen zum eigenen Schaffen. Von Twitter wäre der gesellschaftskritische Liebhaber der Kurzform sicher hellauf begeistert gewesen. Indessen ist er kein zwanghafter Selbstdarsteller, sondern ein politisch denkender und tief fühlender Mensch, der wahrhaftig und ohne Kalkül schreibt. Der Scharfsinn seiner Aphorismen erschließt sich manchmal erst auf den zweiten Blick: „Der Krieg ist vielleicht nur die Rache der Tiere, die wir getötet haben“, schreibt er. Sätze wie diesen muss man mindestens zweimal lesen. Dann tun sich hinter der scheinbaren Absurdität seines Gedankens plötzlich ungeahnte Abgründe auf.
Blanker Zynismus und Schalk liegen bei Jules Renard ganz nah beieinander. „Es genügt nicht, glücklich zu sein. Dafür ist auch nötig, dass die anderen es nicht sind.“ Kurz darauf schreibt er: „Mein Gehirn wie eine reife Nuss. Ich warte auf den Schlag des Hammers, der sie öffnen wird.“ Sätze wie diese sind typisch für den Schriftsteller, der in Bezug auf andere metaphorisch und allgemeingültig bleibt, bei Aussagen zur eigenen Person jedoch gnadenlos bildhaft und konkret wird.
Den zeitlosen Aphorismen merkt man kaum an, dass ihr Autor seine Kindheit und Jugend im 19. Jahrhundert verbracht hat. Schon die frühen Eintragungen spiegeln Naturalismus und Dekadenz des Fin-de-Siècle wider. Selbst Autor von Romanen und Theaterstücken, kennt Jules Renard die Crème de la Crème der Literatenszene Frankreichs persönlich. 1907 wird er Mitglied der wenige Jahre zuvor gegründeten Académie Goncourt. Trotz beachtlicher literarischer Erfolge – „Poil de carotte“ (Rotfuchs) und die „Histoires naturelles“ (Naturgeschichten) zählen zu seinen bekanntesten Werken -, bleibt Renard aber der Aufstieg in den Literatenolymp versagt. Über sein Verhältnis zum Ruhm sagt er lapidar: „Ich möchte von der Minderheit gelesen und von der Mehrheit gekannt werden.“
Damit lügt er sich nicht in die eigene Tasche, wie es vielleicht den Anschein hat. Der umtriebige Franzose denkt über die engen Grenzen seines literarischen Elitezirkels hinaus. Renard ist politisch engagiert; er bewegt sich in Sozialistenkreisen und stellt sich in der Dreyfus-Affäre auf die Seite Émile Zolas. 1904 tritt er in die Fußstapfen seines Vaters und wird Bürgermeister des Dorfs Chitry. Der bodenständige Tierfreund Renard zieht sich auch vorher schon immer mal wieder mit seiner Familie aufs Land zurück. Eine einzige Idylle ist sein Leben aber beileibe nicht. Es ist verlockend, in die oft melancholischen Textfragmente rückblickend Todesahnung hineinzulesen - denn Renard wird nicht älter als 46. 1910 stirbt er an Arteriosklerose, nach einer Herzattacke im vorigen Jahr. Innerhalb von kaum mehr als einem Jahrzehnt starben zuvor sein Bruder Maurice und seine Eltern: Der Vater tötete sich selbst, die Mutter starb unter ungeklärten Umständen.
Solche biographischen Fakten muss sich der Leser des 70 Seiten starken Bändchens aus anderen Quellen zusammenzusuchen. Außerdem liefert „Das Leben wird überschätzt“, anders als die deutlich umfangreichere Münchner Ausgabe (Winkler, 1986) keine Datumsangaben und kein Namen- oder Werkregister. Trotzdem täte man Renard und seinem Übersetzer Unrecht, würde man die stark komprimierte Taschenbuchfassung in die hinterste Regalecke verbannen. Denn wie es im Verlagsprogramm heißt: Hinter der „Auswahl der Einträge und Gedankenblitze [wird] die Persönlichkeit des 2013 verstorbenen Herausgebers sichtbar“. Tatsächlich zeugt nicht nur die Auswahl Henning Ritters, sondern vor allem auch sein kurzes Nachwort von großer Menschenkenntnis. Zwischen den lakonischen Zeilen Renards entdeckt Ritter - trotz oder gerade wegen seiner Bewunderung für den Autor - neben dessen Talent auch das „Durchtriebene“ an ihm; und nicht zuletzt seine innere Zerrissenheit.
Als Aperitif oder Einstiegsdroge eignet sich der schmale Band von Matthes & Seitz allemal. Denn Jules Renards mal liebenswerten, oft messerscharfen Kommentare zur menschlichen Natur und zu den kreativen Anfangsjahren eines unberechenbaren Jahrhunderts sollte man nicht missen. Auch wenn dies nur die unmaßgebliche Meinung eines Botanikers ist.
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