Aus dem Verborgenen
In Thomas Bernhardts Roman Der Untergeher werden dem Leser zwei Versager vorgeführt. Beide hatten mit Glenn Gould in Salzburg studiert. Weil aber Gould zum Übervirtuosen wurde, hatten sie das Klavierspiel aufgegeben. Der eine der beiden Untergeher berichtet über den anderen:
Er war ein Aphorismenschreiber, unzählige Aphorismen gibt es von ihm, dachte ich, es ist anzunehmen, daß er sie vernichtet hat, ich schreibe Aphorismen, hat er immer wieder gesagt, dachte ich, das ist eine minderwertige Kunst der geistigen Kurzatmigkeit, von welcher gewisse Leute vor allem in Frankreich gelebt haben und leben von mir, sogenannte Halbphilosophen für den Krankenschwesternnachttisch, …
Daran musste ich denken, als ich die biografischen Angaben zu Renard las:
Jules Renard, geboren 1864, schrieb Romane, Erzählungen, bekannt wurde er jedoch durch seine von aphoristischen Gedanken durchzogenen Tagebücher. Zunächst einmal war er eine tragische Existenz. Seine Arbeiten, die er herausgab, erfahren wir im Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Henning Ritter, verharrten gewissermaßen in der zweiten Reihe der französischen Literatur, seine Journale aber, die er nur für sich verfasst hatte, wurden, nachdem seine Frau sie gereinigt hatte, zum großen Erfolg.
Ritter schreibt zu dieser Reinigung im Nachwort: Als nach seinem Tod Mme Renard, das Tagebuch durchsah, entdeckte sie detailliert geschilderte Liebesaffären, von denen sie nichts geahnt hatte. Und Renards Urteile über Schriftsteller und das Literatenmilieu, waren oft so verletzend, dass der Herausgeber sich nicht traute, sie zu veröffentlichen.
Was hier also von Ritter übersetzt und herausgegeben vorliegt, ist ein Exzerpt des Exzerptes. Aber das macht nix, auch wenn die durch das Nachwort geweckte Lust auf das ganze Journal bestehen bleibt. Also sagen wir, es zeigt eine Lücke auf, die ohne diese Herausgabe gar nicht merkbar geworden wäre. Denn die Aphorismen im Buch bestehen als Kleinstformen. Sie schaffen sich, Text für Text ihren eigenen Kontext, und das ist faszinierend zu lesen.
Gelungen ist das Renard wahrscheinlich deshalb, weil er beim Schreiben gar nicht an Veröffentlichung dachte und damit auch nicht an die Belehrung eines ihm unbekannten Lesers, und damit entgeht er natürlich der besserwisserischen Haltung, die so manchen Aphorismus bestimmte, den mir meine Lehrer als Lebensweisheit verkaufen wollten. Gerade daran trennt sich aber auch die Spreu vom Weizen. Der Aphorismus, als Merksatz mit erhobenem Zeigefinger formuliert, ist im Grunde unerträglich. Wahrscheinlich genau das, was die beiden eingangs erwähnten Bernhardtschen Untergeher aufs Papier brachten.
Renards Sätze jedoch sind eher nach innen gerichtet, sind Vergewisserung, zuweilen Vergewisserung über Unsicherheiten. Zum Beispiel schreibt er im Jahre 1899
Vielleicht mit fünfzig, der Wirklichkeit müde, werde ich sie mir mit Vergnügen vorstellen.
Renard stirbt 1910 im Alter von 46 Jahren.
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