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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Lost and Found

Katharina Hartwell lässt den verlorenen Sohn zurückkehren – in Gestalt eines Energievampirs
Hamburg

Filme wie „The Addiction“ „Die Weisheit der Krokodile“, „Nadja“ oder „So finster die Nacht“ haben es vorgemacht: Der postmoderne Vampir kommt wunderbar ohne schwarzen Umhang und spitze Eckzähne aus.  In der Literatur jedoch blieb sein Auftreten auch in den letzten Jahren weitgehend auf das Horror-Genre sowie den neuerdings boomenden Zweig der Teenie-Romanzen beschränkt. Eigentlich erstaunlich bei einer Figur, die vor allem für ihr Shapeshifting – das rasche, unbemerkte Wechseln ihrer Gestalt – bekannt ist. Erst allmählich scheinen einige Autor_innen dahinter zu kommen, dass sich die symbolischen und psychoanalytischen Dimensionen des Vampirs auch literarisch wunderbar ausloten lassen, ohne billige Klischees zu bedienen. Wie das gehen kann, hat Luise Boege in ihrem Debütroman „Kaspers Freundin“ auf originelle Weise bewiesen. Katharina Hartwell verfolgt in ihrem zweiten Roman „Der Dieb in der Nacht“ eine ähnliche Richtung, gibt der Vampir-Metapher jedoch noch einmal einen anderen Twist. Auffällig dabei ist, dass weder Boege noch Hartwell den Vampir beim Namen nennen. Und das sicherlich nicht nur, um der Genre-Falle zu entgehen. In beiden Büchern ist nicht der Blutsauger von zentralem Interesse, sondern die Ängste und Sehnsüchte, an die er sich andockt. Wie eine Flüssigkeit oder ein unsichtbares Gas kriecht er in die Risse und Lecks der jeweiligen Charaktere und bleibt somit sehr lange – vielleicht für immer – unerkannt.

Paul und Louise, die Hauptfiguren in Hartwells „Der Dieb in der Nacht“, sind so porös, dass sie das Unheil an sich saugen wie ausgetrocknete Schwämme. Die große Leerstelle, um die sie kreisen, ist das Verschwinden ihrer wichtigsten Bezugsperson: an einem heißen Augusttag vor zehn Jahren ging Felix, Louises Bruder und Pauls bester Freund, zur Dorftankstelle und ward seitdem nie mehr gesehen. Nun, in einer Prager Kellerbar, glaubt Paul den Verschwundenen in dem enigmatischen Künstler Ira Blixen wiederzuerkennen. Zwar sieht Blixen nicht aus wie Felix, sondern eher wie sein Gegenteil –blass und dunkelhaarig statt rotblond und gebräunt – und doch ist sich Paul plötzlich ganz sicher. Denn Blixen bewegt sich wie Felix, geht wie Felix, schaut wie Felix. Und dann ist da auch noch das Muttermal am Handgelenk. Paul will so sehr, dass Blixen Felix ist, dass dieses Wollen im Handumdrehen die Realität überlagert. Hinzu kommt, dass auch Blixen eine ungeheure Leere mit sich herumträgt: Vor Jahren wurde er bewusstlos aus der Moldau gefischt, ohne Erinnerung an sein vorheriges Leben. „Ich habe Narben an meinem Körper, über die ich nichts weiß. Stellen Sie sich vor, dass Ihre eigene Haut Ihnen fremd ist. Wie ein Kleidungsstück, das Ihnen jemand heimlich übergezogen hat, während Sie schliefen.“

Kein Wunder, dass Paul und Blixen aneinander kleben bleiben, dass sich zwischen ihnen eine latent homoerotisch aufgeladene Symbiose entwickelt: Sie dienen einander als Projektionsfläche, um die unerträgliche innere Ungewissheit zu füllen. Paul überredet Blixen, mit nach Berlin zu kommen. Dort verführt Blixen schließlich auch Louise zu dem unerschütterlichen Glauben, ihr verlorener Bruder zu sein. Denn auch sie ist ein leichtes Opfer: Unfähig, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen, driftet sie durchs Leben, ohne nennenswerte eigene Interessen, Leidenschaften oder Ziele. Ihr größter Erfolg bisher ist es, Cupcakes für ein kleines Café zu backen.

Blixens größtes Talent hingegen besteht darin, Sehnsüchte zu wecken. Bei Hartwell fungiert der Vampir als eine Art Glasscheibe mit nichts als Dunkelheit dahinter – er wird unsichtbar, während das Gegenüber sich selbst plötzlich so klar umrissen erscheint wie noch nie. Seine bloße Präsenz bringt Paul und Louise dazu, ihre intimsten Geheimnisse auszuplaudern; allein seine durchdringenden Blicke saugen das Innerste an sich und kehren es nach außen. Unmerklich wandeln sich im Erzählfluss auch die Geschehnisse der sommerlichen Idylle, die durch Felix‘ Verschwinden ein abruptes Ende fand.

Nach und nach schält sich eine dunklere Version der Geschichte heraus, die damit beginnt, dass Paul sich seit jeher für sein Elternhaus geschämt hat. Bereits als Kind war er „getrieben von dem ätzenden Gefühl, zu wenig zu haben, von allem, zu kurz zu kommen, immer.“ Er kann nicht anders, als sich über andere Menschen zu definieren – insbesondere über Felix und dessen Familie, die in Pauls Augen all das haben und verkörpern, was ihm selbst fehlt. Mit feinem Gespür für die Widersprüchlichkeiten der menschlichen Seele steckt Hartwell die Grenzgebiete ab zwischen Liebe und Gier, echter Zuneigung und dem verzweifelten Bestreben, die eigene innere Leere zu füllen. Wie eine Schlinge, die sich immer enger zusammenzieht, raubt die emotionale Abhängigkeit von Blixen den beiden Hauptfiguren nach und nach jeglichen Handlungsspielraum. Denn die gefährliche Symbiose der Jugendzeit droht sich im Jetzt zu wiederholen: Je mehr sich Louise und Paul dem fremden Gedächtnislosen offenbaren und hingeben, desto mehr lassen sie sich von ihm umgarnen und einnehmen. Blixen nistet sich bei ihnen ein, sät Zwietracht und spielt die beiden gegeneinander aus. Zugleich verzerrt er ihre Wahrnehmung derart, dass sie letztendlich seiner Sicht der Dinge mehr Glauben schenken als ihrer eigenen.

Thrillerelemente und Psychogramm verweben sich in „Der Dieb in der Nacht“ zu einem exquisiten Spannungsbogen. Auf das „Vampirische“ verweist Hartwell derweil nur in Andeutungen: Blixen spürt weder Wärme noch Kälte, zudem scheint er sich von nichts anderem zu ernähren als dem bittersüßen Wein, den er auch seinen Gastgebern einflößt wie eine Droge. Das Wichtigste jedoch: Paul muss Blixen erst über die Schwelle bitten, bevor er sein Haus betreten darf. Und ist er einmal drin, wird er ihn nicht mehr los.

Beklemmend mitzuverfolgen ist nicht nur die perfide Methodik, mit der Blixen die beiden Protagonisten gefügig macht und ihre Wahrnehmung trübt. Sondern vor allem, wie Paul und Louise diese Art der Vereinnahmung geradezu herausfordern. Was Hartwell hier mittels subtil ausgestreuter Horror- und Fantasy-Elementen auf die Spitze treibt, kommt einem wahrscheinlich aus dem ein oder anderen Beziehungsgeflecht erschreckend bekannt vor. Schauer über den Rücken jagt einem letztendlich vor allem die Erkenntnis, wie nah Identifikation, Begehren und Konkurrenz bisweilen beieinander liegen. Und wie schmerzhaft das Zerbrechen der eigenen Illusion sein kann.

Katharina Hartwell
Der Dieb in der Nacht
Berlin Verlag
2015 · 320 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-8270-1279-1

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