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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das weiße Rauschen zwischen den Schlägen ist blau

Nominiert für den Debütpreis | Österreichischer Buchpreis 2016
Hamburg

Poetisierung des Schlagens

„Nach einer wahren Geschichte“ – diese Kennzeichnung, inzwischen auch seichter Degeto-Filme, soll dem Wunsch des Publikums nach Authentizität entgegenkommen. Erst was wahr ist, tut richtig weh. Aber ob das Publikum die wirklich wahren Geschichten sehen will? Oder lieber lesen will? Ein Buch, in dem über knapp 200 Seiten eine Frau täglich blau geschlagen wird? Wie in „Blauschmuck“ von Katharina Winkler. Dort wird auf einer extra Seite vor dem Roman angekündigt: Nach einer wahren Lebensgeschichte. – Filiz wird in einem kurdischen Dorf in der Türkei als siebentes von zehn Kindern geboren:

Wie eine Kuh wirft meine Mutter ihre Kinder, eins nach dem anderen.

Mit 13 oder 15 Jahren – ihr Geburtsjahr ist nicht genau bekannt, weil der Vater nur die Söhne meldet und dann die Mädchen mit – heiratet sie einen Mann, in den sie verliebt ist und der ihr verspricht, nach Österreich zu gehen, wo sie Jeans tragen wollen. Statt dessen kommt sie zur Schwiegermutter, die ihr ein Kopftuch und später eine Burka verpasst. Sie bekommt drei Kinder und mit etwa 18 Jahren fliegt sie tatsächlich mit den Kindern nach Österreich. Bis dahin wurde sie von Yunus täglich geschlagen und anschließend vergewaltigt. Die Blutergüsse sind der „Blauschmuck“, den fast alle Frauen des Ortes ziert. Filiz arrangiert sich mit dem „Schmuck“, beginnt im Voraus zu berechnen, wie viele Schläge sie wohin bekommen wird, welche die Kinder und welche sie den Kindern abnehmen kann. In Österreich wird sie keine Jeans tragen, sondern auf wenigen Quadratmetern mit den Kindern weiterhin Schläge empfangen. Bis eines Tages Nachbarn der Familie die Polizei verständigen. Filiz liegt mit Knochenbrüchen drei Monate im Krankenhaus, ihrem Mann wird der Kontakt zu ihr und den Kindern untersagt. Er geht zurück in die Türkei, heiratet erneut und gibt den drei Kindern aus dieser Ehe die gleichen Namen wie seinen Kindern mit Filiz.

Es ist Katharina Winklers Debüt. Sie hat als 13-Jährige miterlebt, wie Filiz in die Praxis ihres Vaters kam.

Ich bin verpflichtet, Ihren Mann anzuzeigen, sagt der Arzt.

heißt es im Roman. Dieser Arzt war offensichtlich der Vater der Autorin. Später hat sie Filiz ihre Lebensgeschichte erzählen lassen und aufgezeichnet. Aus diesem Material entstand das Buch. Die Autorin wählte eine hochpoetische Sprache, wie schon der (irreführende) Titel zeigt. Das Ergebnis der Hochzeitsnacht – den Blutfleck im Laken – präsentiert der junge Ehemann den ungeduldig wartenden Gästen, natürlich nur den Männern. Das liest sich so:

Yunus geht mit dem Korb über das Fest und stellt meine Jungfrau zur Schau.
Ich liege still und angetastet.
Braut ich.

Die Zeilensprünge zeigen schon, hier wird mit viel weißem Papier gearbeitet. Manchmal stehen nur ein paar Zeilen auf einer Seite. Damit erhält das Schwarze, das Erzählte, ein großes Gewicht. Meist in kurzen Sätzen fast ohne Adjektive, ohne Emotion. Die entsteht zwischen den Zeilen, auf dem weißen Papier. Gegenläufig zur „Entwicklung“ der jungen Frau zu einem psychischen Wrack wachsen die sprachlichen Bilder. Aus der Schwiegermutter wir

Yunus Mutter, die jetzt meine Mutter ist,

später die „Spinne“, die die Schwiegertochter einspinnt, bis sie zum „blinden Fleck“ wird. Vielleicht symbolisiert das viele weiße Papier den „blinden Fleck“ Filiz – das weiße Rauschen. Das Buch liest sich im Grunde unerträglich, auch weil den Erlösung versprechenden Ausbruchsversuchen – ein Selbstmordversuch, ein Fluchtversuch – wenig Raum gegeben wird. Der Raum gehört den Schlägen

Schlag. Um Schlag. Schlag. Um Schlag.

Im Grunde ist der schlagende Mann Yunus natürlich krank, psychisch gestört. Er kann sein Zerstörungswerk an Frau und Kindern ungestört verrichten, weil es in diesem kurdischen Dorf zum guten Ton gehört, die Frau zu schlagen. In Österreich weiß er das oder seine blaue Frau besser zu verstecken. Sehr aufmerksam schienen die Nachbarn der Familie nicht gewesen zu sein, oder viel zu lange gezögert zu haben, wenn Filiz so zerschlagen war, dass sie Monate im Krankenhaus bleiben musste. Es bleiben viele Fragen: Es wird also aus einer wahren Lebensgeschichte Literatur „gemacht“. Die tatsächlichen Geschehnisse in einem einseitigen Epilog nachgeliefert. Die Literarisierung betrifft hauptsächlich das Schlagen, schon die kurzen Sätze kann man als Schläge empfinden. In diesem Zusammenhang könnte die Herkunft des Ehepaars der antiislamischen Stimmung in Deutschland in die Hände spielen. Natürlich wurde dem von Autorin und Verlagsseite vorgebeugt, indem im Roman die Religion gänzlich umgangen wird. Und schließlich bleibt die Frage, ob der Roman auch gelesen würde (er hat immerhin zwei Auflagen im Erscheinungsjahr), wenn er nicht eine wahre Lebensgeschichte erzählen würde, beziehungsweise wenn dies nicht ausdrücklich betont würde. Bleibt die Erzählung einer wahren Geschichte trotz aller Poetisierung nicht linear, birgt das Fiktive nicht die Möglichkeit breiterer Assoziationen?

Katharina Winkler
Blauschmuck
Suhrkamp
2016 · 196 Seiten · 18,95 Euro
ISBN:
978-3518425107

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