In Astas Kopf
Katja Lange-Müller stellt ihrem neuem Roman ein Zitat von Nietzsche voran, das das Anliegen des Buches ziemlich genau auf den Punkt bringt:
Es scheint mir, dass ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist
Asta, Mitte sechzig, ist soeben am Münchener Flughafen gelandet. Von weit her kommt sie. Als Krankenschwester war sie über zwanzig Jahre im Ausland tätig. Sie hat keine Euros, aber eine Stange Zigaretten aus dem Dutyfree-Shop in der Tasche. Aus Rauchlust und weil ihr Gepäck noch fehlt, steht sie nun vor der Drehtür, die Zigarette in der Hand neben dem Ascher und denkt nach. Und beobachtet. Astas Kollegen im Krankenhaus in Managua hatten ihr den Flug geschenkt. Ein Abschiedsgeschenk, denn eigentlich wollten sie die Kollegin loswerden, in Rente schicken. So einige Fehler waren ihr zuletzt unterlaufen: Es war nicht mehr zu verantworten. Vielleicht ist es ein Burnout, oder sind es gar erste Anzeichen einer Demenz? Eine Auszeit zumindest sollte es sein, ein Aus-Flug, wie die Kollegen ironisch meinten – nach München, wo sie doch in Berlin gelebt hatte – und ohne Rückflug.
Sollte ich mich jetzt tatsächlich mit Dingen beschäftigen, die ich früher nicht interessant genug fand, nur weil ich plötzlich Zeit habe? Wie viel Zeit bleibt mir überhaupt noch?
Asta, die Krankenschwester, die als Not-Helferin für internationale Hilfsorganisationen in verschiedensten Ländern der Erde ihren Dienst tat, zuletzt in Nicaragua, scheint ausgebrannt. Sie könnte froh sein, ihren Beruf endlich an den Nagel zu hängen, in den Ruhestand zu gehen, vielleicht im heimischen Berlin. Doch sie fühlt sich nirgends mehr zu Hause.
Katja Lange-Müller schickt den Leser in Astas Kopf und geleitet ihn durch ihre Gedankengänge. Das ist faszinierend und fühlt sich an wie im Kino zu sitzen: Lauter Shortcuts – ein Blitzgewitter – das Wort, das Asta auch gleich im ersten Satz des Buches denkt und zerlegt und deutet. Asta seziert die Worte, die ihr gerade durch den Kopf gehen, sie hinterfragt den Sinn der ursprünglichen Bedeutung, bemerkt plötzlich alle Zweideutigkeiten. So denkt sie sich durch Begriffe wie etwa „Gesundheitswesen“, „Notwendigkeit“ oder „aufhören“, was auch „aufhorchen“ bedeuten könnte. Unterdessen hört sie ihre innere Stimme zu sich sprechen. Sie selbst hat seit der Landung nichts mehr laut gesagt. Die äußere Stimme hat sich nach innen gestülpt und führt nun ein Eigenleben.
Und weiter hält Asta ihre Lider geschlossen und rollt ihre Augäpfel bis zur Schmerzgrenze in ihren Schädel hinein und sieht, wie auf einer Kinoleinwand, schneeähnlich, kristalline Buchstaben umherwirbeln und einander anziehen und sich verfestigen zu unterschiedlich langen und lesbaren Ketten, die dann beinahe gleichzeitig niederrieseln auf ihre heiße trockenen Zunge und sich dort auflösen.
Die eigentliche Handlung des Romans, vom Umfang her nur ein paar Stunden, findet allein in Astas Kopf statt. In verschiedenen Episoden erinnert sie sich an Begebenheiten und Menschen aus ihrem Leben, und nur so erfährt der Leser etwas über sie. Die Erinnerungen werden immer von etwas im Außen angestoßen und wieder freigesetzt. Lange Zurückliegendes, bereits scheinbar Vergessenes bricht wieder aus dem Gedächtnis hervor.
So sieht sie von ihrem Platz an der Drehtür den Angestellten eines Asia-Imbiss und erinnert sich an den Koch mit Zahnschmerzen aus der nordkoreanischen Botschaft, den sie vor langer Zeit als junge Krankenschwester mit Tabletten und Schnaps zur Schmerzlinderung versorgte. Dann bemerkt sie einen Mann, der einem ehemaligen Liebhaber ähnelt, und schon denkt sie zurück an jenen missglückten Urlaub, der zur abrupten Trennung führte. Oder sie beobachtet eine junge Frau mit bunt gefärbtem Haar und erinnert sich an die Kollegin, die einen Roman schrieb und erzählte, wie es dazu kam, dass es nur bei dem einen blieb und wie sie dann ungeplant zur „Helferin“ wurde: Eingeladen zu einer Lesung nach Indien, wird sie dort von einer resoluten Schriftstellerkollegin genötigt, für Frauen aus den Slums Nähmaschinen zu organisieren. Diese Episode, die teilweise in Kalkuttas Armenvierteln unter schwer misshandelten Frauen spielt, ist ein ganz eigener kleiner Kosmos innerhalb des Romans und erzeugt die allerstärksten Bilder.
In allen Episoden findet sich das Thema „Helfen“: Die Frage, wie zweischneidig sich Hilfe auswirken kann, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Lange-Müller beleuchtet die Arbeit der Helfer, hinterfragt ihre Tätigkeiten und Motive aufs Genaueste. Sie nimmt das sogenannte Helfersyndrom unter die Lupe, zeigt die Abhängigkeiten, die (Un-) Eigennützigkeiten beider Seiten und erschafft damit den Raum für eigene Überlegungen.
Doch riskant, erregend riskant, ist die Helferei trotzdem. Du stehst mit einem Bein im Misserfolg, denn oftmals sind deine Bemühungen am Ende vergebens, was dir aber nicht immer vergeben wird, nicht einmal von dir selbst.
Auch mit den Identitäten scheint Katja Lange-Müller im Verlauf ihrer Geschichte zu spielen. Zum Ende des Romans verwischen Astas Gedächtnisspuren, so dass nicht mehr klar ist, ob die jeweils erinnerten Personen das alles erlebt haben oder ob es doch Asta selbst war, ob alles nur angelesen und von irgendwo zugetragen ist. Astas Verwirrtheit, auch Verlorenheit an diesem trostlosen Transitort, in diesem Vaterland mit der Muttersprache, die ihr so zusehends wenig geläufig ist, spitzt sich schließlich zu. Aus der immer zur Verfügung stehenden Helferin wird eine Hilfsbedürftige, die zuletzt ganz alleine bleibt ...
Katja Lange-Müllers Roman besteht aus erinnerten Sequenzen ihrer Heldin Asta. Die scheinbar so lose Aneinanderreihung ist in Wirklichkeit eine gut konstruierte Reihenfolge mit aufeinander aufbauenden Episoden, die ihren Höhepunkt stimmig am Schluss finden. Der Titel des Romans ist ein Beispiel dieser Symbolhaftigkeit: Die Drehtür, die sozusagen von einem 'Land' ins andere führen kann, oder aber immer nur im Kreis, in der man aber mitunter auch stecken bleibt. Lange-Müllers Sprache ist wie immer gekonnt, von trockenem Humor durchzogen, manchmal schnoddrig, sehr direkt, mit leisen Zwischentönen. Sie trägt damit sehr passend zur Stimmigkeit dieses Romans bei: Inhalt, Konzept, Sprache und sogar der Titel sind hier mächtig im Einklang – ein überzeugend guter Roman!
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