Skurriles Surrogat eines mondänen Alltags
Ja, ich habe auch eine Lücke: Ich habe Meyerhoffs erste beiden Bände der Trilogie „Alle Toten fliegen hoch“ nicht gelesen. So komme ich gar nicht in Versuchung, den dritten Band mit den beiden ersten zu vergleichen, und bewahre mich vor der erwartbaren Enttäuschung, dass dieses Buch vielleicht nicht an die anderen heranreicht. In allen dreien erzählt er aus seinem Leben. Nach seinem Auslandsjahr in Amerika und seiner Kindheit am Gelände der Psychiatrie, die sein Vater leitete, ist er nun in München angekommen. Zu seiner eigenen Verwunderung besteht er die Aufnahmeprüfung einer renommierten Schauspielschule und zieht aus Kostengründen in die Villa seiner Großeltern. So lebt er in zwei Welten - der überraschenden, dann den Ich-Erzähler in seiner Persönlichkeit hemmenden Welt der Schauspielschule und der streng strukturierten, eigenwilligen Welt des Großelternpaars. In beiden ist er kaum mehr als ein Beobachter, jedoch wird seine präsente Körperlichkeit zum Störfaktor, als stünde er immer im Weg, vor allem in der Schauspielschule.
Nun ist klar, Meyerhoff erzählt vom anderen Ende her, er ist inzwischen ein gefeierter Schauspieler („Schauspieler des Jahres 2007“) und mit dem sechsteiligen Theaterstück „Alle Toten fliegen hoch“, in dem er sein Leben erzählt, sehr erfolgreich (die ersten drei Teile wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen). Ein Schauspieler, der in seinem widerspenstigen Körper stecken geblieben wäre, hätte wohl nicht die Gelegenheit bekommen, davon zu erzählen.
Was noch mehr fasziniert ist, wie es Meyerhoff gelingt, das eigentlich gleichförmige Leben der Großeltern zu einem skurrilen Surrogat zu formen:
jeder einzelne Tag stand für alle Tage, jeder dieser Tage war ein kleines Wunderwerk.
Die Großmutter, einst selbst Schauspielerin, ist in diesem Heimtheater Hauptdarstellerin und ihr Gatte, von Beruf Philosoph, Stichwortgeber und Claqueur. An dem ersten Kapitel „Fünf Etappen“ kann sich der Leser regelrecht betrinken, wenn er sich von diesem durch Alkohol strukturierten Tagesablauf aufsaugen lässt. Zum Frühstück knallt der Champagnerkorken, zum Mittag steht ein gekühlter Weißwein bereit, abends kurz vor sechs gibt es guten Whisky, zum Abendbrot Rotwein, zum Ende des Tages Cointreau. In die Schlafzimmer in der ersten Etage geht es schließlich mit dem Treppenlift, den auch der angehende Schauspielschüler nicht verachtet, da auch ihm nach absolviertem Alkoholprogramm das Gehen nicht mehr leicht fällt.
Doch es ist viel mehr. Es sind die Details dieses mondänen bürgerlichen Haushalts, die Rituale und das Arrangement des Paars, das seit über einem halben Jahrhundert sich selbst genügt. Die Tochter kommt nicht gern, sie hat wenig Platz im Leben der Großeltern, auch die Enkel bekommen ihre Plätze zugewiesen. Die Plastikhülle über die Polstersessel bis zu Pubertät, weil sie so ruhig kleckern können. Das „rosa Zimmer“, in dem der nun erwachsene Enkel residiert oder eigentlich doch nur schläft (als er das Zimmer nach seinem Geschmack umräumt, wird das nicht geduldet, es war immer so, es bleibt so). Nichtsdestotrotz lässt sich der Ich-Erzähler gern in die Großelternwelt fallen, um bei einem Rotwein Luft zu holen von der Schauspielschule. Er glaubt sich dort fehl am Platz, die Hoheit über seinen Körper geht ihm verloren, eine Mimik scheint er nicht zu haben. Dennoch hält er durch, er weiß keine bessere Lösung, als sich jeden Tag der Qual auszusetzen.
Meyerhoffs Beschreibungen der verschiedenen Ausbildungszweige sind ein komisches Brevier für sich. Auch die wenigen erlösenden Momente, da ihm der Körper gehorcht, da er Teil eines Ganzen sein kann. Unglaublich komisch ist das Kapitel über das Einarbeiten der Schauspielschüler als Statisten in eine erfolgreiche Faustinszenierung der Münchner Kammerspiele. Es ist wohl das Purgatorium eines jeden Schauspielschülers, sich von einem arroganten Regieassistenten herumkommandieren zu lassen, sich nackt mit einem überdimensionierten Geschlechtsteil in der Walpurgisnacht zu tummeln und dabei zu registrieren: All diese „Praxisnahe Ausbildung“ hat wenig mit dem Schauspielen zu tun, und auch nichts mit der Ausbildung, bei der das Innerste nach außen gekehrt wird. Auch die Abschlussinszenierung gerät zur Quittung seiner störenden körperlichen Größe und seiner sonstigen Unbeholfenheit:
Ich wurde als General in einen Rollstuhl gesetzt und zum Lachen und Weinen in die Ecke geschoben. Das war bitter.
Meyerhoff schont sich nicht, seine Offenheit, mit der er sein Versagen und seinen Kampf dagegen schildert, ist stets eine Mischung aus Komik und Trotz, hinter der eine lähmende Einsamkeit liegt. Für die es einen Grund gibt: Sein Bruder verstarb während seines Amerikaaufenthaltes. Auch bei den Großeltern ist der tote Enkel kein Gesprächsthema. Sie genügen sich selbst. Im Haus der Großeltern tritt auch der dort lebende Enkel in den Hintergrund. So gelingt Meyerhoff das Porträt eines bürgerlichen Paars, das über ein halbes Jahrhundert in Möbeln aus den 1930er und 50er Jahren, ohne ein Stück zu verrücken, miteinander lebt, das seine Eigenheiten und Rituale pflegt, sein Leben akribisch in 79 Tagebüchern dokumentierte. Solche Paare wird es bald nicht mehr geben. Bei aller Komik in der Beschreibung der Großelternwelt leistet Meyerhoff damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte der bürgerlichen Ehe.
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