Wütend Widerstand wittern
Die einen suchen nach ihrem Vater, die anderen können sich von einem überstarken Vater nicht lösen, die nächsten schämen sich für ihren schwachen Vater - die Vaterabrechnung ist ein starkes Motiv in der Literatur. Kurt Drawert setzt sich in „Spiegelland“ quälend mit einem Vater auseinander, der das System verkörpert. Der es verinnerlicht hat - und weil das System hohl ist, auch nur mit hohlen Phrasen und mit Gewalt an seinen Sohn weitergegeben kann. Der Vater ist bereits das zweite Glied, sein Vater, der Großvater des Ich-Erzählers gehörte als zum Kommunisten gewandelter entnazifizierter Nazi zum verlogenen Gründungsmythos der DDR. Vater und Großvater oft in einer Reihe genannt bilden das Konstrukt einer Idee, vom Großvater in einer „Familienchronik“ durch grobe Auslassungen verschönt. Eine zufällig gefundene Fotografie enttarnt dem Enkel den Großvater, den Nazi-Widerständler, 1941 unterm Weihnachtsbaum: Für Führer und Vaterland - als stolzen Wehrmachtsangehörigen. Großvater-Vater-Macht am Kind ausgeübt, es mit Schlägen, Halbwahrheiten und Phrasen zum sozialistischen Menschenbild zurechtzubiegen, es kann nicht anders sein: das Experiment scheitert, das Kind, das „negative Element“ spricht nicht. Instinktiv fühlt es das Gewollte, das Halbwahre der Sprache und verweigert sich ihr. Ohnmächtige Reaktion der Autoritäten: Gewalt und Dunkelhaft für das Kind. Und die Mutter schaut billigend schweigend zu.
Das ist die Drawertsche Versuchsanordnung in Spiegelland, das er 1992 schrieb: „Einmal aufschreiben und dann für immer vergessen“. Er nannte den Text „Ein deutscher Monolog“ und widmete ihn seinen Söhnen „im Sinne einer Erklärung“. Ja, um die es hauptsächlich geht, sind ja Großvater und Urgroßvater der Widmungsträger. Drawert, 1956 geboren, ist der Sohn eines Kriminalbeamten, der es vor allem mit Selbstmorden zu tun hat. Mit Gescheiterten, an sich Gescheiterten oder auch am System Zerbrochenen, die mit ihrer Selbsttötung ein demonstratives Zeichen setzen wollten. Die Abschiedsbriefe gab der Kriminalbeamte seinem Sohn zu lesen, als Warnung, als Drohung, zur Belehrung. Doch der Sohn zieht etwas ganz anderes für sich daraus: stillen Widerstand. So ist in seinem Kalender regelmäßig die Eintragung S zu finden, an Tagen, an denen er gern aus dem Leben gehen würde. Der Vater steht ohnmächtig vor dem Rätsel S im Kalender seines Sohnes, wütend Widerstand witternd.
Einmal aufschreiben und dann vergessen: das geht nicht, vermutlich wusste das Drawert schon, als er es schrieb. Nun erscheint „Spiegelland“ im Luxbooks Verlag neu mit Vor- und Nachwort versehen, in neuer Rechtschreibung und mit „Material“ ergänzt. Auch die Rede zum Uwe Johnsen-Preis, den Drawert 1994 für Spiegelland erhielt, sowie zahlreiche Essays, die sich mit der DDR befassen, mit ihrem Nachwirken bis heute. Und Reise-Essays und man möchte fast sagen: dies und das. „Ach Kurt, mach doch mal Deine Schubladen auf“. Denkt man sich angesichts des Sammelsuriums. Wobei das Bild nicht stimmt. Fast alle Texte und Gedichte sind bereits veröffentlicht. Und sie geben als Gesamtheit vielleicht dies Bild: Drawert hat eine schreckliche Kindheit gehabt, er identifiziert alles, was den Osten betrifft damit, seine Rechnung lautet: Vater + Großvater gleich DDR. Unversöhnlich gegen alle, die die DDR nicht so erlebt haben wie er. Die werden der Kollaboration bezichtigt. Konsequenterweise lebt er seit Anfang der 1990er Jahre in Niedersachsen, später in Darmstadt. Im „Spiegelland“ gibt es ein Spiegeln, indem die Reise vom Westen in den Osten geht mit den Augen des Westlers, wie sie sich der Ostler vorstellt, dieses Spiegeln hat etwa Schizophrenes und ich kenne viele, die dieser Drawertschen Sicht widersprechen würden. Was aber der Kern ist oder die Synthese aus der Kindheit unter Systemvater und dem Freisein seit 1990 - das ist Heimatlosigkeit, die er in diesem Zusammenhang findet - dieses Gefühl nimmt man Drawert ab.
Drawert liebt das essayistische Schreiben, das leider immer etwas Belehrendes hat und sich nicht einfach liest. Muss es ja auch nicht. Im „Spiegelland“ variiert er die Thomas Bernhardsche Redundanz, indem er die Wortfolge marginal verschiebt oder dekliniert: „aber wie mein Vater (oder Großvater beispielsweise) wollte ich nicht sprechen. (…) denn über den Wörtern lag (…) der Herrschaftsanspruch des Vaters (oder Großvaters beispielsweise) - und so weiter und so fort. Auf die Dauer nehmen diese nervenden Formspiele dem Inhalt die Brisanz. Denn Drawert schaut genau hin, und zwar dahin, wo es am meisten schmerzt. So ist es eine der eindrücklichsten Passagen, als der Ich-Erzähler den Vater im Krankenhaus besucht, wo er „auf Leben oder Tod lag“. Wo er erschüttert ist, weil er nichts fühlt „oder doch zuviel“ und er heult, weil er nicht betroffen ist. Auf diese Weise die Sehnsucht nach einem Vater, der zugewandt ist, den man vermissen wird, zu beschreiben, als Negativ sozusagen - das ist ein bewundernswerter Griff. Das betrifft auch die Bitte des Vaters, nicht über den Großvater zu schreiben, der sein Leben säuberte, indem er eine „Familienchronik“ anlegte, so wie er wünschte, wie das Leben der Familie lückenlos abgelaufen wäre. Der Vater ahnte, dass der Sohn, der seine Sprache ablehnte und sich stattdessen eine eigene suchte, genau das aussprechen wird, was er verschweigt. Das sind große Themen. Wie gesagt, leider schwer zugänglich. Redundanzen, lange Sätze, kein einziger klitzekleiner Absatz lässt dem Leser Gelegenheit Luft zu holen, der Blocksatz stößt ihn regelrecht vor den Kopf. Bedeutet: hier redet der Autor, der dem Leser keine Chance bietet, sich selbst einzudenken. Der Autor bedeutet: Du bleibst draußen! Ach, vielleicht ist das alles zu viel gedeutet. Der Autor ist ein hochsensibler Mensch, das kann man herauslesen. Aber im Satz spiegelt sich das nicht wieder, der sendet die Botschaft: Lies den Klotz oder lass es sein!
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